Preis der Republik

Die magische Schönheit der Zahlen

«1154 Jahre krank» waren die Angestellten des Bundes allein 2018. Dass wir diese staunenswerte Zahl kennen, ist das Verdienst der «SonntagsZeitung». Die Republik-Jury verneigt sich vor den Kollegen.

Von der Republik-Jury, 18.04.2019

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Die magische Schönheit der Zahlen
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Sehr geehrte Preisträgerin

Sehr geehrte Verlegerinnen und Verleger

Sehr geehrte Damen und Herren

Würde man die Beeren, die das Wimbledon-Publikum jedes Jahr zum Turnier verspeist, aneinander­reihen, «ergäbe das eine Länge von knapp 60 Kilometern».

Stünden alle Baslerinnen und Basler gemeinsam auf einer Waage, wären sie so schwer wie «30-mal das Personenschiff «Rhystärn».

Würde man für jede Pausen­milch, die Schweizer Schulkinder morgens schlürfen, die Becher stapeln, der Turm wäre «höher als 111 Eiffeltürme».

Würde man den Wert der Gebäude in Uzwil in 1000-Franken-Scheinen schichten, käme der Turm auf 400 Meter Höhe.

Und würde man die Ikea-Kataloge eines Jahres aufeinander­stapeln, wäre der Turm «24-mal so hoch wie der Mount Everest».

Wir, verehrtes Publikum, würden indes eher türmen, als Sie noch weiter auf die Folter zu spannen. Denn erstens wissen die Schweizerinnen all diese Dinge schon aus der Qualitäts­presse. Und zweitens haben Sie, liebe 18’195 Verleger, wirklich schon reichlich Geduld bewiesen.

127’365 Tage mussten Sie alle zusammen warten seit der letzten Preisverleihung. Nicht auszudenken, wenn die momentane Verlegerschar deutlich grösser wäre – die Zahl der Wartetage wäre ins Unermessliche gestiegen!

Der menschlichen Ungeduld jedoch stemmt sich von alters her der Volksmund entgegen, der weiss, dass gut Ding Weile haben will.

Und siehe, so kam es, just am Tag des Herrn. Da offenbarte sich die unfrohe Botschaft, die Sie, liebe Preis­trägerin, zu verkünden hatten, mit einer so unwiderstehlichen Kraft und Klarheit, dass selbst das Jüngste Gericht unserer irdischen Republik in einen Engels­zungen-Chor verfiel und ausrief: Preiset sie!

Denn Sie, liebe «Sonntags­Zeitung», haben einem heiklen und undankbaren Thema Schönheit abgerungen. Die Schönheit der Erleuchtung, die Sinnlichkeit der unmittelbaren Anschauung.

Ihr Investigativ-Ressort – unwillkürlich schrieben wir zunächst «investigatief» – hat gebohrt und zutage gefördert: Auf 35’294 Bundes­angestellte kamen im vergangenen Jahr 254’000 Kranken­tage. Dazu haben Sie vorgerechnet: Teilt man das durch 220 Arbeitstage, «hüteten Verwaltungs­angestellte 2018 also 1154 Jahre lang das Kranken­bett». 1154 Jahre!

Sie haben tiefer gebohrt. In einer Tabelle nach Ämtern aufgeschlüsselt, «wo die Beamten 2018 besonders oft krank waren». Ganz vorne, im Lead, liest man: «Krankheits­bedingte Absenzen kosteten den Bund letztes Jahr 254 Millionen Franken.» Die Zoll­verwaltung zum Beispiel: Hier wurden 36 Millionen Franken «für Krankheiten ... ausgegeben – 3 Millionen mehr als im Vorjahr».

Und über Ihrer Headline mit 1154 Jahren prangt dieses schöne Bild mit den Bundes­räten und einer Tabelle für jede und jeden von den sieben: Stolze 358 Krankheits­jahre im Haus Parmelin, dem grössten Departement; 69 Jahre im viel kleineren bei Doris Leuthard; 344 bei Ueli Maurer, wo auch der höchste Pro-Kopf-Wert anfällt. Das alles noch übersichtlich umgerechnet in Franken.

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Sie haben das alles nur im Interesse der Beamten so anschaulich und greifbar gemacht. Letzten Endes – daran liess auch Ihr Kommentar ein paar Seiten weiter keinen Zweifel – ging es Ihnen um den sozial­demokratischen Dreh. Denn die über­durchschnittlichen Ausfall­raten zeigten, dass es Mängel bei der Arbeits­zufriedenheit und vermutlich «krank machende Strukturen» gibt; dass Spar- und Arbeits­druck Spuren hinterlassen. Allerdings sind wir nicht ganz sicher, ob diese Botschaft durch die Art, wie Sie das Ganze aufgemacht haben, auch ankommt. Oder ob in Volkes Bauch nicht eher ein Anti-Beamten-Ressentiment aktiviert wird? Was ja eigentlich immer zieht?

Nun denn, wir wollen an diesem Grün­donnerstag nicht greinen und nicht kritteln! Ein Festtag der Vorstellungs­kraft soll es sein.

«1154 Jahre krank»: Das ist eine Formel, die Augen öffnet. Die nicht nur einen Sachverhalt auf den Punkt bringt – sondern in bester kantischer Tradition auch die Anschauung zum Begriff! So bekommt die Krankheit, so bekommen Miss­stände ein Gesicht. So werden abstrakte Zahlen emotional. Was Sie exemplarisch vorführen, ist nicht weniger als das Sinnlich­werden der Erkenntnis.

Bleiben wir gerade deshalb realistisch und erwarten nicht zu viel. Denn nehmen wir einmal an, der Bundesrat würde sich für jeden durch Krankheit verlorenen Franken auch nur einen Meter von der eigenen Sicht wegbewegen, dann wären das 254’000 Kilometer Erkenntnis­gewinn. Das ist der sechsfache Erdumfang! Nur damit wir uns das besser vorstellen können: Wer diese Strecke in Lakritz­schnecken abstecken wollte, bräuchte rund 50 Millionen Packungen. Wenn Sie das in 1154 Jahren schaffen wollen, müssen Sie ein flotter Wickler sein! Und ja nicht unterwegs krank werden.

1154 Jahre. Wir vermuten, jemand errechnet bereits, welche Turmhöhe aus amtlichen Akten das ergäbe. Doch vergessen wir nicht: Es ist ein negativer, ein Nicht-Turm, gleichsam ein Bohrturm in die Tiefe. Und tief verneigen auch wir uns. Weil Sie, verehrte «Sonntags­Zeitung», nicht nur so schön die Kranken auf Franken gereimt, sondern auch der Anschauung zu ihrem Recht verholfen haben. Feierlich überreichen wir Ihnen dafür den Preis der Republik!

Pflegen und ehren Sie ihn und erfreuen Sie sich daran, 1154 gesunde Jahre lang. Gemeinsam schaffen Sie das!

Illustration: Doug Chayka

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