Theorie & Praxis

«Doppeldenk» auf Russisch

Masha Gessen: «Die Zukunft ist Geschichte»

Die amerikanisch-russische Autorin zeigt eindrücklich, wo die Kampagnen in Putins Russland ihre Vorläufer haben. Ein Buch über die Abgründe gegenwärtiger russischer «Leitkultur» – und ein Lehrstück über heutige Ideologie allgemein.

Von Sylvia Sasse, 20.02.2019

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«Doppeldenk» (doublethink) ist eines der «Neusprechwörter» aus George Orwells berühmter Antiutopie «1984». In seinem Roman leben die Menschen in einer Welt, die sie zu «Doppeldenk» zwingt und in der sie nur mit der Akzeptanz von «Doppeldenk» zurechtkommen. Sie sehen zwar die Realität mit eigenen Augen, von ihnen wird aber verlangt, an die falsche Darstellung dieser Realität zu glauben. In die Sprache der Gegenwart übersetzt: Lügen erzählen und selbst aufrichtig an diese glauben. Oder umgekehrt: Fakten als Fiktionen deuten, selbst dann, wenn man täglich mit ihrer Realität konfrontiert ist.

In Masha Gessens Buch «Die Zukunft ist Geschichte» (alle Angaben am Artikelende) ist «Doppeldenk» so etwas wie ein Gradmesser für den Zustand der postsowjetischen Gesellschaft der letzten dreissig Jahre. Gessen, Publizistin unter anderem für die «New York Times», will wissen, wie es dazu kommen konnte, dass Russland sich nach Perestroika und Glasnost wieder in einen Staat verwandelt hat, für den Politologen und Soziologinnen, Journalisten und Historikerinnen noch immer nach einem geeigneten Begriff suchen.

Handelt es sich um eine «illiberale Demokratie», um ein «hybrides System», eine «Kleptokratie», «Klientel­kapitalismus» («crony capitalism»)? Oder um einen «postkommunistischen Mafiastaat», wie der ungarische Soziologe Bálint Magyar verschiedene osteuropäische Länder nennt, darunter das Putin-Regime: eine «kleine Gruppe von Machthabern, die wie eine Familie aufgebaut ist», im Mittelpunkt der Patriarch, der nicht regiert, sondern «verfügt – über Positionen, Wohlstand, Status, Personen». Das sei kein «ideologie­gesteuertes» System mehr, wie einst die Sowjetunion, so Magyar, sondern eines, das «ideologie­anwendend» funktioniert: Während sich die Sowjetunion auf eine Ideologie stützte und mit dieser ihr Vorgehen rechtfertigte, ist Ideologie nun ein operatives Mittel zum Erhalt von Macht.

Gessen schliesst in ihrer Argumentation an Magyar an. Sie erzählt die letzten dreissig Jahre mithilfe von sieben Protagonistinnen und Protagonisten, die gegensätzlicher nicht sein können. Auf der einen Seite die Psycho­analytikerin Marina Arutjunjan und der Soziologe Lew Gudkow, die beide die Folgen der Ideologie­anwendung untersuchen; auf der anderen Seite der ehemals national­bolschewistische und nun rechts­nationalistische Polit­technologe Alexander Dugin, einer der Erfinder jener Ideologie, die Putin erfolgreich anwendet.

Die eigentlichen Hauptrollen in Gessens Buch haben aber jene, die in diesem System erwachsen geworden sind. Gessen nennt sie mit Vornamen: Mascha, Ljoscha, Serjosha, Shanna, alle vier geboren zwischen 1982 und 1985. Mit ihnen hat sich Gessen getroffen, ihre Geschichten gibt sie wieder, versetzt mit Zeitungsmeldungen, Fernsehnachrichten, wissenschaftlichen Thesen, Tweets und Blogeinträgen. Dabei erzählt sie nicht nur die Geschichten der einzelnen Figuren, sondern immer auch die ihrer Familien und Freunde: Shanna ist die Tochter des ermordeten Oppositionspolitikers Boris Nemzow und Serjosha der Enkel von Alexander Nikolajewitsch Jakowlew, dem Initiator von Gorbatschows Reformpolitik.

Dass Gessen das Ergebnis ihrer Recherche und ihrer Gespräche als «faktografischen russischen Roman» konzipiert hat, ist allerdings in Zeiten von berechtigter Kritik am Erzähl­journalismus und an «alternativen Fakten» ziemlich gewagt – letztlich weiss man nie genau, wer spricht, Gessen oder ihre Protagonisten.

«Konstitutive Widersprüchlichkeit»

Warum interessiert sich Gessen für «Doppeldenk»? Das hat vor allem mit den Gesprächen zu tun, die sie mit dem Soziologen Lew Gudkow geführt hat. Gudkow ist Leiter des russischen Meinungs­forschungsinstituts Lewada-Zentrum, eine Position, die er vom 2006 verstorbenen Namensgeber des Zentrums, Jurij Lewada, übernommen hat. Lewada war es, der in Russland die ersten Meinungsumfragen zwischen 1989 und 1991 initiierte und dem dabei auffiel, dass die befragten Personen keineswegs indoktriniert waren, sondern einfach, wie er es formulierte, in «Antinomien» dachten.

Es waren alte sowjetische Antinomien, die unter anderem auf einem Widerspruch zwischen Realität und Ideologie basierten. Der Staat sprach von sowjetischer Überlegenheit, die Leute lebten im Mangel und mussten beides irgendwie miteinander vereinbaren. Der Staat sprach von Gleichheit, die Menschen erlebten eine hierarchische Privilegien­wirtschaft, von der sie entweder profitierten oder die sie benachteiligte. Der Soziologe Detlef Pollack nannte diese Politik und diese Erfahrung, bezogen auf das Leben in der DDR, eine «konstitutive Widersprüchlichkeit», also eine, die nicht einfach passierte, sondern Teil des Systems war.

Lewada hatte nun festgestellt, dass das Denken in Antinomien nicht etwa gemeinsam mit der Sowjetunion untergegangen war. Sondern dass es sich in der Generation der Älteren hartnäckig hielt, etwa wenn die Umfragen ergaben, dass ein grosser Prozentsatz von Menschen Freiheit als zentrales Kriterium der Zukunft ansah und sich gleichzeitig eine starke Autorität wünschte, die diese Freiheit herstellt. Auch die Einstellung der Russen gegenüber den USA war nach Lewada ein mustergültiges «Doppeldenk»-Beispiel für die 90er-Jahre: Amerika «erschien zugleich attraktiv und bedrohlich, zugleich nachahmens- und überaus hassenswert». Allerdings glaubte Lewada voraussagen zu können, dass «Doppeldenk» in der nächsten Generation nachlassen und mit ihm der Sowjetmensch aussterben werde.

Eine Zukunft ohne «Doppeldenk»?

Es ist nicht nur diese Zukunft, die sich gemäss Gessen nicht bewahrheitet hat. Verloren ging das Vertrauen in Zukunft überhaupt. Dabei stand ein neuer Höhepunkt von «Doppeldenk» erst noch bevor. Und der hat nichts mit dem Sowjetmenschen oder mit der Sowjetunion zu tun, sondern damit, dass «Doppeldenk» das Kennzeichen jedweder Ideologie ist.

Aktuell lässt sich «Doppeldenk» in vielen Facetten beobachten. Allerdings haben wir es kaum noch, um Magyars Unterscheidung zu verwenden, mit «ideologiegesteuerten», sondern vor allem mit flexiblen und operativen «ideologieanwendenden» Antinomien zu tun. Vermutlich fallen jedem von uns zig solcher konstitutiven Widersprüche ein.

Nicht anders lässt sich sonst erklären, dass es Politikern, die aus der Elite kommen, nichts ausmacht, gegen Eliten zu mobilisieren; oder Menschen, die «Heimat» zum zentralen konservativen Wertebegriff machen, sich nicht gleichzeitig für den Schutz der Umwelt dieser Heimat einsetzen; oder dass ein Präsident, der nachgewiesen dauernd lügt, die Presse, die diese Lügen aufklärt, als «Lügenpresse» beschimpft. Die Liste liesse sich endlos fortsetzen. Und neben solchen strategischen Antinomien leben die meisten von uns selbst in welchen, wenn wir etwa den durch Fakten belegten Klimawandel einsehen – und trotzdem kaum etwas dagegen tun.

Doch zurück nach Russland.

Gessen verfolgt am Beispiel von Alexander Dugin die Produktion einer flexiblen Ideologie. Dugin war es, der Putin im Februar 2012 bei einer vom Kreml organisierten «antiorangen» Kundgebung den Spin für das neue Freund-Feind-Schema lieferte.

Schon 1994 hatte Dugin eine «konservative Revolution» gefordert, die, wie Gessen schreibt, eine Gegenbewegung gegen den «extremistischen Humanismus» und die Idee «einer rechtsstaatlich verfassten Gesellschaft» sein sollte. Jetzt liess sich diese Forderung unterfüttern mit einer Erfindung neuer Werte, das heisst der putinschen Variante von «Leitkultur». Gessen fasst diese so zusammen: «die Nation, die Vergangenheit, traditionelle Werte, eine Bedrohung von aussen und eine fünfte Kolonne».

So konnten all jene, die Kritik an den politischen Verhältnissen, das heisst an den mafiös autokratischen Strukturen, übten, als russophobe «ausländische Agenten» eingestuft werden, die – so Putin – von aussen gesteuert werden. Kritik an der Politik wird in dieser Logik stets zu einer Kritik an der nationalen Kultur umgedeutet – eine Praxis, die wir auch bei Viktor Orbán oder Trump finden.

«Gleichdenk»

Aber Kritik an der Regierung war nicht nur ein Verstoss gegen die russische Leitkultur, sondern auch Sünde, denn Dugin verknüpfte geschickt religiösen (russisch-orthodoxen) und politischen Fundamentalismus miteinander. So fädelte die russische Regierung gekonnt eine Kampagne ein, die eine altbekannte christliche Variante von «Doppeldenk» wieder reaktivierte. Orwell formulierte die Methode in «1984» so: «die Moral für sich in Anspruch nehmen und sie gleichzeitig verletzen». Gessen erzählt diese Geschichte anhand des Lebens von Ljoscha, der über Pädophilie seine Diplomarbeit schrieb und als schwuler Dozent seine Stelle an der Uni Perm verlor. Die Werteattacke der Regierung, in der Schwulsein und Pädophilie gleichgesetzt wurden, betraf Ljoscha unmittelbar – als Homosexuellen und als Wissenschaftler.

Die Strategie von Dugin war einfach. Eine Sache wurde zu Recht angeprangert (Pädophilie), gleichzeitig eine ganz und gar falsche Lösung vorgeschlagen: die Kriminalisierung von Homosexualität. Denn mit dieser geschickten Ineinssetzung wurde der Westen mit Homosexualität und Homosexualität mit Pädophilie gleichgesetzt, was ermöglichte, Homosexuelle zu verfolgen, zu kriminalisieren und zugleich den «Liberalfaschismus» des Westens im eigenen Land zu beseitigen. Das war nicht mehr nur «Doppeldenk», sondern «Gleichdenk»: Völlig verschiedene «Begriffe» wurden gleichgesetzt beziehungsweise in einem bestimmten Rahmen vereinigt. Bei «Liberalfaschismus» wurde sogar alles, was man in eins setzen wollte, in ein einziges Wort gezwängt.

Gessen beschreibt diese Kampagne in all ihren perversen Facetten, sodass man es beim Lesen kaum aushält. Mit immer wieder neuen Beispielen aus Fernsehdebatten, Gesetzesentwürfen, selbst organisierten Bürgerwehren und Hassattacken im Internet führt sie vor, wie «die Schwulen» durch diesen Kniff zum perfekten Sündenbock gemacht wurden: «Sie waren Spione, schlecht für die Moral der Armee und eine Gefahr für Kinder.»

Bei einer Meinungsumfrage des Lewada-Zentrums von 2013 stimmten 73 Prozent der Bevölkerung für das Verbot «homosexueller Propaganda». Darunter fällt auch Aufklärungsarbeit, Information, Forschung – die blosse Existenz von Genderstudies – und jegliche Form von Öffentlichkeit. Diese Mehrheit hatte inzwischen offensichtlich das strategische Gleichheits­zeichen zwischen Homosexualität und Pädophilie verinnerlicht.

Am Schluss gibt Gessen selbst keine Antwort auf ihre Frage, wie und warum das alles passieren konnte. Sie lässt nur noch die widersprüchlichen Fakten sprechen.

In der Figur von Ljoscha, dem ehemaligen Dozenten für Genderstudies in Perm, zeigt sie, wie schwierig es ist, vor homophober und nationalistischer Politik zu fliehen. Die Nähe zu ihrer eigenen Biografie ist hier offensichtlich: Gessen, die sich in der Lesben- und Schwulenbewegung engagiert, verliess Russland 2013, und dies schon zum zweiten Mal nach der Emigration mit ihren Eltern 1981.

Ljoscha hat Russland 2017 verlassen und lebt nun wie Gessen in New York. Dort wohnt er in Brighton Beach mit anderen emigrierten Russen zusammen. Es sind jene Emigranten, die schon in den 90ern Russland verliessen und die ausgerechnet 2016 mehrheitlich Trump wählten. «Wären sie in Russland geblieben», so Gessen, «hätten sie für Putin gestimmt.»

Oder anders formuliert: Diese «Leitkultur», vor der Ljoscha flüchtete, ist alles andere als national. Sie zeigt wohl eher das «Doppeldenken» all jener, die versuchen, die Abwertung von anderen als Wert und als Kultur zu bestimmen.

Das Buch

Masha Gessen: «Die Zukunft ist Geschichte. Wie Russland die Freiheit gewann und verlor». Aus dem Englischen von Anselm Bühling. Suhrkamp-Verlag 2018. 639 Seiten, ca. 37 Franken. Zur Leseprobe gehts hier.

Im Dezember 2018 war Masha Gessen zu Gast in der American Academy in Berlin. Eine Aufzeichnung der Lesung und der anschliessenden Diskussion finden Sie hier.

Zur Rezensentin

Sylvia Sasse ist Professorin für Slavistische Literaturwissenschaft an der Universität Zürich. Sie hat in Konstanz und Sankt Petersburg studiert, in Berkeley und Berlin geforscht und gelehrt. 2009 wurde sie nach Zürich berufen, wo sie seither mit ihrem Partner und ihren zwei Söhnen lebt. Sie ist Mitherausgeberin von «Geschichte der Gegenwart».

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