Theorie & Praxis

Westöstliche Diva

Bettany Hughes: «Istanbul. Die Biographie einer Weltstadt», Orhan Pamuk: «lstanbul. Erinnerungen und Bilder aus einer Stadt»

Eintauchen in einen städtischen Kosmos – das ermöglichen sowohl «Die Biographie einer Weltstadt» von Bettany Hughes als auch «Istanbul. Erinnerungen und Bilder aus einer Stadt» von Orhan Pamuk. Historie und Alltag: Beides wird gegenwärtig.

Von Angelika Overath, 15.02.2019

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Ein Blick auf das Goldene Horn im Jahr 1956, im Hintergrund die Süleymaniye-Moschee: Die Bilder des grossen Fotografen Ara Güler sind im Istanbul-Buch von Orhan Pamuk zu finden. Ara Güler/Magnum Photos/Keystone

1,4 Kilo schwer, 6 Zentimeter bibeldick, in Gold und Kachelblau eingeschlagen. Das Werk ist ein Muss für jeden, der Istanbul liebt, und eine Kür für alle, die sich der Metropole zwischen Orient und Okzident nähern möchten. Man wünscht sich Regenwetter und eine Schachtel Lokum (Granatapfel mit Pistazien von Hafis Mustafa) und dann: abtauchen! In 8 Kapiteln und 78 Unterkapiteln hat die Historikerin und Bestsellerautorin Bettany Hughes, die auf Youtube als «British Goddess of History» gefeiert wird, die «Biographie einer Weltstadt» vorgelegt. Der Titel der englischen Original­ausgabe spricht von «A Tale of Three Cities» und kommt dem Stil des Buches damit näher. Denn Hughes orientiert sich im Duktus an der literarischen Erzählung. (Sie finden alle Angaben zu den rezensierten Büchern am Ende des Artikels.)

Gift, Glück und Günstlinge

Entstanden ist ein Reigen von Geschichten zur Geschichte Istanbuls. Er beginnt mit der Frühzeit der Flut um 5500 v. Chr., als durch Schmelzen der Gletscher aus einem Süsswassersee das Schwarze Meer entstand – dessen Strömung nun über die Meerenge des Bosporus ins Marmarameer fliesst (Hughes weist nicht darauf hin, dass diese These umstritten ist) –, und reicht bis in die Tage von Kemal Atatürk, dem «Vater» der modernen Türkei, der die arabische Schrift, das Sultanat und das Kalifat abschaffen liess und, im Blick auf Frankreich, die neue Republik als einen modernen, laizistischen Staat entwarf.

Hughes nimmt uns mit in das Leben von Byzanz, Konstantinopel und Istanbul. Dabei setzt sie einen Schwerpunkt auf weibliche Macht und Einfluss­nahme, weist auf verehrte Göttinnen (Kybele, Hekate) hin, betont die Bedeutung der Marien­verehrung und schreibt Porträts von Frauen, die mit offensiver Intelligenz oder heimlich, mit Gift, Glück und Günstlingen, Politik machten. Und der Sound der sinnlichen, gelehrten, weit gereisten Erzählerin verbindet sich schwungvoll mit dem Mut zu starken Farben. So schreibt Hughes das, was Verlags­vertreter gern als «Bildung, die nicht wehtut» bezeichnen.

Eines ihrer wichtigen darstellenden Mittel ist die Psychologisierung. Ein verlassener Palast kann «schwermütig in den Süden» blicken. Von einer steinzeitlichen Frauenmumie (man fand sie 2012, als beim Bau der Metrostation Yenikapi ein byzantinischer Hafen zum Vorschein kam) wird gesagt: «Die junge Frau (…) bemühte sich offensichtlich um ein gutes Leben.» Der in einen Kampf um Byzanz involvierte athenische Feldherr Alkibiades erscheint «verantwortungslos, sexbesessen, masslos, ordinär, dekadent», und sein Kontrahent ist der «leicht psychotische Spartaner Klearchos».

Neben der Lust an der Charakter­zeichnung versetzt sich die Autorin gern szenisch in die Vergangenheit, so 1453 bei der Eroberung von Konstantinopel durch den 21-jährigen Mehmed II.: «Die Osmanen bahnten sich einen Weg durch die inneren Stadtmauern zu einer kleinen offenen Ausfall­pforte, und als dann die Fahne mit Stern und Halbmond auf einem Turm flatterte, verbreitete sich die Botschaft, dass die Stadt eingenommen war.» 1453 gab es aber noch keine «Fahne mit Stern und Halbmond»; sie wurde (eine Vorform der heutigen Flagge) 1826 entworfen. Vermutlich ist es kleinlich, darauf hinzuweisen.

Grosses gross, Kleines klein

Bettany Hughes entwirft eine beeindruckende Reliefkarte der Geschichte Istanbuls. Ein schönes, gut konturiertes Panorama, auf dem die grossen Züge anschaulich, ja nacherlebbar werden. Im Grossen ist sie einfach grossartig! Im Kleinen aber schnell klein. Und zwar da, wo die Lust an der süffigen Formulierung mit ihr durchgeht und sie die Demut zur Genauigkeit vergisst.

Im Kapitel «Sex and the City: Eunuchen» findet sich die – nicht weiter belegte – Formulierung: «Eine beträchtliche Anzahl der Patriarchen (…) bestand aus Eunuchen.» Das liest sich schmissig. Aber wie viele? In welcher Epoche? Namen? Niketas I. zum Beispiel, Oberhaupt der griechisch-orthodoxen Kirche Konstantinopels von 766 bis zu seinem Tod 780, soll Eunuch gewesen sein, aber das wird auch als mögliche Diffamierung diskutiert. Dazu kommt, dass der Begriff «Eunuch» eine ganze Spanne von körperlich-seelischen Varianten umfasst. Aber sicher nicht – wie Hughes es tut – gleichzusetzen ist mit dem «dritten Geschlecht».

Neben Psychologisierung und szenischer Darstellung ist ein wichtiges Stil­merkmal die – kreative – Verbindung vergangener Plätze und Geschehnisse mit der Gegenwart. Das ergibt oft ausgesprochen schöne Effekte. Etwa wenn sie – einer Reporterin gleich – Relikte der Zerstörung der Akropolis in den Tagen der Schlacht von Salamis besucht: «Als ich die nach diesem Feuer­sturm noch erhaltenen Artefakte besichtigte, die in das Neue Akropolis-Museum in Athen überführt wurden, habe ich die traumatisierten archaischen Statuen berührt, die diesem Angriff zum Opfer gefallen waren; man kann der blasigen, zerborstenen Oberfläche dieser gebrochenen steinernen Zeugnisse immer noch die Hitze des persischen Feuers anmerken.» Aber manchmal scheint sie, auch wenn sie es suggeriert, nicht vor Ort gewesen zu sein.

So lesen wir etwa vom bronze­zeitlichen Ort Chalkedon, der früher besiedelt war als das gegenüberliegende europäische Ufer, das zum Zentrum von Byzanz werden sollte. In der Legende hiess Chalkedon deshalb «Stadt der Blinden», weil ihre Bewohner nicht gemerkt hatten, dass jenseits des Wassers, an den Ufern des Goldenen Horns, das bessere Siedlungs­gebiet gewesen wäre. Und die Autorin überblendet: «Heute ist Chalkedon der geschäftige kleine Vorort Kadiköy. In den Strassen geht es volkstümlich zu.» Hier herrsche eine «heimelige familiäre Atmosphäre» und die Hausfrauen vom europäischen Ufer unternähmen «die Reise übers Wasser», um «die besten frischen Bergkäse­sorten» zu finden. Nun hat Kadiköy über 450’000 Einwohner und ist damit etwa so gross wie Zürich. Und die «Reise übers Wasser» ist eine Fähren­fahrt von wenigen Minuten, die einer «Reise» mit dem Tram entspricht.

Auch die prominente Burg­ruine Yoros (auf einem Hügel kurz vor der Mündung des Bosporus ins Schwarze Meer), die über oder bei einem Zeus-Tempel gebaut worden war, wird modern überblendet: «Das Gelände liegt oberhalb eines militärischen Beobachtungs­postens, es wird durch Stachel­draht und scharfe Hunde beschützt und ist immer noch von einer bedrückenden Atmosphäre umgeben.» Das ist schlicht falsch. Die Burg liegt oberhalb des alten Fischerorts Anadolu Kavagi und ist eines der beliebtesten touristischen Ausflugs­ziele Istanbuls. Von der Fähren­station am Hafen, den viele Restaurants säumen, ziehen sich Terrassen mit Cafés bis zur Burg hinauf. Hierher kommen Familien und geniessen den wunderbaren Blick über das Wasser. Die Militärzone befindet sich in einem angrenzenden Wald zwischen Anadolu Kavagi und Beykoz.

Ausruhen vor dem Kaffeehaus: Ara Güler hielt mit seiner Kamera den Alltag in Istanbul fest. Ara Güler/Magnum Photos/Keystone

Vielleicht ist man – nach dem Fall Relotius – auch neu sensibilisiert auf die Frage, wie viel Ich, wie viel Erfindung in einem Text steckt. Und stecken darf, wenn er uns etwas über die Welt erzählen möchte. Fraglos ist Bettany Hughes inspiriert und beeinflusst vom grossen Geschichten­erzähler Patrick Leigh Fermor (den sie zutraulich «Paddy» nennt), der uns in seinen Reise­geschichten, in denen er fantasiebegabt nach Historie schürft wie nach Gold, glücklich schwindelig macht.

Auch wenn manches übertrieben ist und nicht alles stimmt: lesen! Vielleicht ab und an mit einem fragenden Staunen. Dieses Buch ist ein kaum erschöpfbares Füllhorn an Wissen und Geschichten. Gute Zeichnungen, Karten, Bilder helfen, wie auch eine Zeittafel, der Orientierung. Eine ausführliche Bibliografie gibt Anregungen zum Weiterlesen.

Buch der Bilder – Pamuk als Fotograf

Bettany Hughes schreibt, dass ihre Liebe zu Istanbul durch Orhan Pamuk geweckt worden sei. Dieser hat zeitgleich ein Istanbul-Buch veröffentlicht, fast genauso dick wie die «Biographie einer Weltstadt»: Und es ist im Kleinen gross. Der mittlerweile legendäre Text stammt von 2002/03; bereits 2006 war er im Hanser-Verlag unter dem Titel «Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt» erschienen. Orhan Pamuk (geboren 1952) erzählt darin von seiner Kindheit und Jugend und wie er, Sohn aus gutem Haus, der eigentlich Maler werden wollte, Schriftsteller wurde. Es ist auch das Sittenbild eines Istanbul der Nachkriegszeit, in dem sich der Wille zum Anschluss an die europäische Moderne entwickelte.

Waren, wie Pamuk nun in einem Vorwort schreibt, die circa 200 Schwarz-Weiss-Fotografien der früheren Ausgaben Illustrationen zum Text (Familien­fotos und vor allem Bilder des grossen und vermutlich ersten Fotografen des Istanbuler Alltags Ara Güler), so machen die Abbildungen – 230 kamen neu dazu – das Buch nun auch zu einem eindrücklichen Fotoband. Und der Text wird zu einer Art alter Begleit­melodie. Die Bilder sollen zeigen, «wie die Stadt im 20. Jahrhundert wirkte».

Pamuk hat eine Auswahl komponiert und darauf geachtet, dass gerade Nebensächlichkeiten des kleinen Alltags ins Bild rücken. Handgriffe von Werft­arbeitern oder Fischern, Kleider­moden, Reklame­schilder, die Bosporus­schiffe, beiläufige Szenen in Strassen­zügen mit den alten hölzernen Stadt­häusern. Das 20. Jahrhundert zeigt uns den Rücken der Geschichte. Seine Melancholien auch. Die Istanbuler nennen diese rauchgrauen, nebelblassen, möwensilbrigen, asphaltglänzenden, bosporus­öligen Momente zwischen Ennui und Traurigsein hüzün. Diese besondere Melancholie kann im Umblättern der bilderreichen Seiten wiederauferstehen.

Zu den Büchern

Bettany Hughes: «Istanbul. Die Biographie einer Weltstadt». Übersetzt von Susanne Held. Klett-Cotta-Verlag 2018. 940 Seiten mit zahlreichen Karten und Abbildungen, ca. 52 Franken.

Orhan Pamuk: «Istanbul. Erinnerungen und Bilder aus einer Stadt». Übersetzt von Gerhard Meier. Hanser-Verlag 2018. 652 Seiten mit Fotografien von Ara Güler, Henri Cartier-Bresson, dem jungen Orhan Pamuk u. a., ca. 60 Franken.

Zur Autorin

Angelika Overath schreibt neben Literaturkritiken auch Essays, Romane und Gedichte. Sie unterrichtet Kreatives Schreiben an der Schweizer Journalisten­schule MAZ, Luzern. Zuletzt erschien ihr Roman «Ein Winter in Istanbul», Luchterhand 2018, 272 Seiten, ca. 22 Franken.

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