Träumen Sie!

Jonas Lüscher hat das Zürcher Philosophie Festival mit einer Verteidigung des Träumens eröffnet. Politisch ausgedrückt: mit einer Rehabili­tierung der Utopie.

Von Jonas Lüscher, 21.01.2019

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Träume, sagte einst Max Frisch, sind die entscheidende andere Hälfte unserer Existenz. Ein Leben bestehe eben nicht nur aus den Taten und Untaten einer Person, die Traumseite gehöre ebenso real dazu wie die Tat. Dieser Gedanke ist ein interessanter Ausgangs­punkt für einige Überlegungen zum Traum, nicht weil damit alles Wesentliche im Kern gesagt wäre, sondern weil Frisch zwei entscheidende Dinge unterschlägt.

Erstens reicht es ja für die Darstellung eines Lebens nicht aus, wenn wir nebst den Schilderungen der Taten und Untaten einer Person noch deren Träume erzählten, denn dann hätten wir noch immer nicht von den Dingen erzählt, die einer Person angetan wurden, und auch nicht von jenen, die ihr einfach so geschehen sind.

Das wusste Frisch natürlich, hat er selbst doch seinem Faber, einem Tat­menschen, wie er im Buche steht, so allerlei widerfahren lassen und angetan. Aber es ist eben bezeichnend, dass Frisch das Leben als eines der Tat beschreibt, in exakt jenem Moment, in dem er vom Traum spricht; und dass er den Traum als die dezidiert andere Hälfte unserer Existenz bezeichnet, weil er ihn damit zugleich als etwas charakterisiert, das einem geschieht: zwar gleichermassen real wie die Tat, ihr aber eben doch entgegengesetzt. Und das erscheint uns ja auf den ersten Blick auch als ganz richtige Beschreibung, suchen uns doch die Träume nächtens heim, gespeist vom Unbewussten, die Schwelle ins Bewusstsein oft nur schattenhaft durch­dringend. Die Träume geschehen dem Menschen.

Aber das gilt – da sind wir nun bei zweitens – nur für die Nachtträume, und es scheint also bei näherer Betrachtung, als habe Frisch die Tagträume unter­schlagen oder zumindest beide, die Nacht- und die Tagträume, gross­zügig derselben Seite zugeschlagen.

Der Unterschied zwischen Tag- und Nachttraum

Zu grosszügig, wie ich finde. Denn wir haben es dabei doch mit zwei sehr unter­schiedlichen Dingen zu tun. Der eine widerfährt uns nachts, der andere aber besteht aus Bildern und Erzählungen, die wir – mit den üblichen Ein­schränkungen – frei gestalten, bei Bedarf in Wieder­holungen abrufen und vor allem reflektieren und verändert weiter­träumen können.

Dass wir es mit zwei unter­schied­lichen Dingen zu tun haben, zeigt sich auch darin, dass der Nachttraum und der Tagtraum in zwei unter­schied­liche zeitliche Richtungen weisen. Der Nachttraum speist sich aus dem Vergangenen, dem Erlebten, aus Verdrängtem und Vergessenem, aus alten Traumata, verjährten Kränkungen und frühen Wünschen, die aus dem Unbewussten und Unter­bewussten kommen und sich, ungehindert von jener moralischen Zensur, die das Über-Ich für gewöhnlich als Massstab an alles anlegt, in Bildern und Sprache Bahn brechen.

Nicht so der Tagtraum.

Dieser verweist in die Zukunft.

Dass der Nachttraum in die Vergangenheit verweist, ist im Massstab der Menschheits­geschichte eine recht junge Einsicht und, wie so vieles, das Resultat einer allgemeinen Säkulari­sie­rung und Ver­wissen­schaft­li­chung. Jahr­hunderte­lang und in erstaunlich vielen unter­schiedlichen Kulturen funktionierte die Traum­deutung nach einem vorgegebenen Schema: Wenn einer dieses oder jenes träumt, so wird in naher Zukunft dieses oder jenes geschehen oder der Träumende soll dieses tun oder jenes lassen. Aus den zu Symbolen stilisierten Traumbildern konnte man also die Zukunft voraussagen und es liessen sich Handlungs­anweisungen ableiten.

In die Zukunft gerichtete vormoderne Traumdeutung und die psycho­logi­sierte Traum­deutung der Moderne, die in die Vergangenheit verweist, teilen aber auch eine Charakteristik. Beiden Formen der Traum­deutung ist gemein, dass sie den Träumen einen Sinn zuweisen. Und vielmehr noch: dass sie diesen Sinn nutzbar machen wollen.

Es ging und geht also in der Traumdeutung darum, die Nachtträume als Beitrag zu einem gelingenden Leben zu verwerten, indem wir sie aus dem Dunkel der Nacht zerren und ihnen mit dem Suchscheinwerfer der Hermeneutik in die Fratze blenden. Damit wir sie, derart ausgeleuchtet, möglichst widerspruchs­frei ins Tagesgeschäft integrieren können.

Es ist genau jener Zwang zur Sinnhaftig­keit, gepaart mit dieser Ver­wer­tungs­logik, die meinen Unmut weckt und mich zum Widerspruch anstachelt.

Wenn Frisch recht hatte und unsere Nacht­träume die entscheidende andere Seite unserer Existenz sind, weshalb dann nicht eben die Existenz dieses Anders­artigen ernst nehmen? Das hiesse auch, die Grenze zwischen den Seiten zu respektieren, indem wir uns weigern, an jenem anderen Ort das Tranchier­besteck anzusetzen, mit dem wir gemeinhin unser Leben trak­tieren, das eben zu gelingen hat. Das würde bedeuten, das Vage im Vagen sein zu lassen, das Verwirrende unentwirrt, das Verstörende störend, das Dunkle im Dunkeln und vor allem das Unver­ständliche im Unver­stande­nen; den Sinn unentborgen, die Ressource ungenutzt.

Von Zwergen träumen

Meine eigene Rede ernst zu nehmen, kann nur eines bedeuten, nämlich sofort vom Nachttraum zu schweigen.

Das ist ein grosses Glück für Sie, denn als berufsmässig Erzählender wäre ich vermutlich noch der Verlockung erlegen, Ihnen einen Traum zu schildern; ein Unterfangen, das aus künstlerischen Gesichts­punkten fast immer misslingt.

Niemand hat diesen Umstand schöner illustriert als Tom DiCillo in seinem Film über das Filmemachen – «Living in Oblivion» –, in dem der klein­wüchsige Peter Dinklage, angetan mit einem babyblauen Satin­smoking, den Dreh einer Traum­sequenz verweigert. Und zwar mit der berechtigten Frage, ob es denn die einzige Möglichkeit sei, klarzumachen, dass man sich gerade in einem Traum befinde, dass man einen Zwerg auftauchen lasse; ob er, der Regisseur, gespielt von Steve Buscemi, denn jemals von einem Zwerg geträumt habe? Ob er jemanden kenne, der jemals von einem Zwerg geträumt habe? Nicht einmal er selber, der Zwerg, habe jemals von einem Zwerg geträumt. Make it weird, put a dwarf in it! Everybody will go: Whoa, whoa, it must be a fucking dream, there is a fucking dwarf in it!

Diese Szene bringt die grund­sätz­liche Schwierig­keit, das Erleben auf der anderen Seite zu schildern, auf den Punkt. Wir sind erstaunlich hilflos, wenn es darum geht, Träume zu erzählen. Nichts Peinvolleres und Lang­weilige­res, als eine Freundin oder ein Arbeitskollege, die einem ihren Traum erzählen. Aber selbst ausgewiesene Fachleute fürs Erzählen, Schriftsteller, Drehbuch­autoren, Regisseure, scheitern regelmässig an dieser Aufgabe und retten sich nur allzu oft in die peinlichsten Klischees aus dem Malkasten der Surrealisten. Make it weird, lautet meistens die Devise.

Aber all das Bizarre und Versponnene, das wir unter Zuhilfe­nahme der elaboriertesten Adjektive zum Leben zu erwecken versuchen, bleibt seltsam läppisch. Und das ist erstaunlich, gelingt es doch sonst guter Literatur und guten Filmen, vom Anderen so lebendig zu erzählen, dass wir den Eindruck haben, wir wüssten, wie es sich anfühlt, jemand Bestimmtes zu sein; ein schwuler junger Mann aus der französischen Provinz zum Beispiel oder eine Sklavin auf einer Baumwoll­plantage. Zu erzählen, wie es ist, einen bestimmten Traum zu träumen, scheint hingegen kaum möglich. Die andere Seite bleibt erzählerisch uneinholbar.

Wer hätte noch nie einen «kleinen Tagtraum» gehabt

Auch dies also ist ein guter Grund, sich von den Nachtträumen abzuwenden, es bleiben uns schliesslich noch die Tagträume, und über die gibt es wahrlich genug zu sagen.

Zum Beispiel über die «kleinen Tagträume», wie Ernst Bloch sie genannt hat. Da ist der kleine Angestellte, der sich, an seinem Schreibtisch sitzend, ausmalt, wie der Abteilungs­leiter sich beim Treppen­sturz das Genick bricht; und er selbst sich, nachdem ihn die Geschäfts­leitung bekniet hat, dazu herablässt, dessen Posten zu übernehmen. Da ist die Biologie­doktoran­din, die sich vorstellt, wie sie die Zellkulturen vom Tisch wischt und aus dem Labor tanzt, denn das ist es, was sie in Zukunft tun will – tanzen, und nichts anderes. Da ist der Chief Executive Director, der sich vorstellt, wie die Frau, die täglich stumm seinen Papierkorb leert, eines Tages die Bürotür schliesst, wortlos den Kittel hebt und sich auf sein Gesicht setzt …

Ja genau, solcher Art sind des Direktors «kleine Tagträume», ganz schön gross und eben unbehelligt von der moralischen Zensur. Wunsch­erfüllung – was man sich wünscht, wird in einem ganz privaten Moment für einen Augenblick wahr. Und oft genügt das schon. Man will gar nicht wirklich, dass sich dieser Traum erfüllt. Um Gottes Willen, die Frau soll ihren Kittel schön unten behalten, man hat doch vor einem Monat erst zum zweiten Mal geheiratet und sich fest vorgenommen, diesmal alles anders zu machen. Und die Biologie­doktorandin weiss, dass es längst zu spät ist für die Karriere als Tänzerin, dass das Knie eh nicht mitspielen würde und dass es ihr vermutlich sowieso an Talent gefehlt hätte. Nur unser kleiner Angestellter, der wünscht sich wirklich, dass sich der Abteilungs­leiter das Genick brechen möge.

Wie bereits der verächtliche Name verrät, urteilte Bloch hart über diese «kleinen Tagträume». Als jämmerliche, private Utopien mit egoistischem Inhalt beschreibt er sie, die in eine Zukunft hinein­projizierten, die gar keine echte Zukunft sei, weil sie nur dem Tag­träumenden als Zukunft erscheine, aber eigentlich doch nichts anderes seien als das bisherige Leben, das sich nur besser rentieren solle.

Das ist ein harsches Verdikt, ein zu harsches, wie mir scheint, funktionieren doch diese Tagträume als kleine Fluchten, als ein kurzes, kostenloses Vergnügen, das das schier Unerträgliche für einen Moment erträglich macht.

Ich glaube, in diesem harschen Urteil ein Echo von Nietzsches verächtlicher Rede über den «letzten Menschen» zu hören, der keine Sterne mehr gebären wird. Es ist aber bei Bloch vielleicht mehr die elterliche Sorge, die pubertierende Tochter in ihrem mit Boygroup-Postern zugehängten Zimmer verliere sich zu sehr in ihren Tagträumen und vergesse darüber ihre tatsächliche Zukunft. Denn Zukunft, das wusste Bloch, stellt sich nicht von selbst ein. Erst praktisches Handeln kann Zukunft herstellen. Wir haben also, um wieder bei Frisch zu landen, mit dem «kleinen Tagtraum» die Seite noch nicht ganz gewechselt. Weil wir noch nicht zur Tat oder Untat geschritten sind.

Vom Traum zur Utopie

Machen wir also diesen Schritt, vom kleinen, von der moralischen Zensur unbehelligten Tagtraum zum «echten» Tagtraum, wie ihn Bloch grosszügig nennt, der als «Enzyklopädie von Hoffnungen» ja gar nicht mehr Tagtraum genannt werden muss, sondern das Prädikat Utopie verdient hat. Was immer die Frage mit sich bringt, wie man das Träumen überwindet und ins Handeln kommt.

Nun, das ist eine unangenehme Frage, zum einen, weil sie schwer zu beantworten ist. Zum anderen, weil doch die Utopie heutzutage einen denkbar schlechten Leumund hat.

Das hat bekanntlich historische Gründe. Die «echten Tagträume», die Utopien also, die sich nicht mit dem jämmerlichen Privaten abgeben, sondern die Gesellschaft, das Volk, die Nation, die Menschheit und die Ewigkeit oder wenigstens tausend Jahre als ihre Wirkungsräume bestimmen, haben zweifellos im letzten Jahrhundert, an beiden Polen des politischen Spektrums, zu Verheerungen geführt. Und es waren gerade jene Träume, die das Grösste und Erhabenste, das Kollektiv, im Blick hatten, die in den Biografien der Einzelnen die tiefsten Narben hinterlassen haben. Grund­stürzendes soll geschehen, kein Stein auf dem anderen bleiben und ja, selbst der einzelne Stein soll aus einem neuen Material gehauen sein.

Höchste Zeit für eine Rehabilitierung der Utopie: Holzschnitt auf dem Titel zum Buch «Utopia» von Thomas More (1561). Scherl/SZ-Photo/Keystone

Die Rede vom neuen Menschen hat eine heils­ge­schicht­liche Dimension, und sie findet sich bereits im Neuen Testament, in den Paulus­briefen, in denen geschrieben steht: «Dass ihr (…) ablegen sollt den alten Menschen (…) und anziehen sollt den neuen Menschen, der nach Gott geschaffen ist in wahrhafter Gerechtig­keit und Heiligkeit.»

Verordnetes Heil aber wird dann doch meist zu Unheil, und so brauchen wir nicht weit zu suchen, bis wir auf Zeugnisse von jenen stossen, die von Utopien für den Rest ihres Lebens gezeichnet sind. Odo Marquard, der vor vier Jahren verstorbene Giessener Philosoph, war so ein Fall. Ihm, der seine Jugendjahre in der Adolf-Hitler-Schule auf der Ordensburg Sonthofen verbrachte, wo man ihn zum Modell­menschen für das tausend­jährige Reich abrichten wollte, brauchte man mit Utopien nicht mehr zu kommen. Er rechnete sich explizit einer «skeptischen Generation» zu und begründete seinen Konservatismus mit eben jener Skepsis gegenüber jedem Versprechen von Neuartigkeit, Grösse und Wahrhaftigkeit.

Zukunft braucht Herkunft, lautete sein wohl­bekanntes Diktum.

Und ich kann von einer Tagung auf dem Monte Verità berichten, an der ich vor ein paar Jahren teilnahm. Es sollte um das Thema Utopie gehen, und man hatte auch einige Schrift­stelle­rinnen und Schrift­steller mit Ost­biografien eingeladen. Auch denen brauchte man mit der Utopie nicht zu kommen. Herta Müller verneinte, dass der Begriff noch irgendwie zu gebrauchen sei. Wenn ich mich richtig erinnere, sprach sie im Zusammen­hang mit Utopie von einer «Krankheit». Der sonst so gelassene Péter Nádas schien allein bei der Erwähnung des Begriffs seine Contenance zu verlieren, und es war schluss­endlich Durs Grünbein, der, auch mit Blick auf sich selbst, zugab, dass jene, an denen man den echten Tagtraum des neuen Menschen zwangs­verwirk­licht habe, ein neurotisches Verhältnis zur Utopie hätten.

Das ist nun zwar eine sehr verständ­liche, biografische Bewegung, aber eben auch keine ganz unproblematische, denn der Neurotiker neigt dazu, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Und wohin das führt, lässt sich mit Blick auf die deutsche Bundes­kanzlerin beobachten, die es nun seit dreizehn Jahren fertigbringt, das Land ganz ohne Vorstellung einer wünschens­werten Zukunft zu regieren. Gegenwart verwalten statt Zukunft gestalten, scheint das Motto zu lauten. Da wird dem Volk täglich der Puls gefühlt, und weil man verwaltender­weise nicht jedem gerecht werden kann, begnügt man sich ganz pragmatisch und lauwarm-konse­quenzia­listisch mit dem kleinen, schnellen Glück für die grösste Zahl. Das erinnert nicht nur zufälliger­weise an Blochs Beschreibung des kleinen Tagtraums. Hier geht es um Wunsch­erfüllung im Moment, aber Zukunft wird damit keine hergestellt.

Man kann aber auch konkreter auf den Punkt bringen, weshalb das nicht genügt: Zu vielen geht es nicht gut, und das ist ein unhaltbarer Zustand, besonders dann, wenn es keine Hoffnung, und das bedeutet auch keine Erzählung darüber gibt, dass es besser werden wird. Wenn aber die Hoffnung auf eine bessere Zukunft schwindet, dann verlagert sich die Hoffnung auf die Vergangen­heit, die – zumindest in der Erinnerung – besser war; was natürlich nur so weit richtig ist, als dass man damals wenigstens noch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft hatte. Es ist also nicht erstaunlich, dass diejenigen Gehör finden, die den Traum von alter Grösse wieder aufleben lassen.

Lasst uns das Tagträumen wieder lernen!

Halten wir also fest: Wir haben es verlernt, das grosse Tagträumen. Zu präsent ist noch der Schrecken, die die zur Ideologie geronnenen Utopien des zwanzigsten Jahrhunderts verbreiteten. Aber ohne geht es eben auch nicht.

Doch wovon liesse sich denn noch träumen angesichts der Tatsache, dass es leichter ist, sich das Ende der Welt zu imaginieren als das Ende des Kapita­lis­mus, wie Fredric Jameson ganz richtig bemerkt? Und angesichts sich rasant ver­schlies­sen­der Zukunfts­horizonte, die der fortschreitende Klimawandel mit sich bringt? Ist nicht damit auch die eine grosse Hoffnung, dass nämlich dereinst die ganze Menschheit am Fortschritt und Wohlstand gleichermassen teilhaben wird, zur Dystopie schlechthin geworden, weil das nämlich bedeuten würde, dass jeder Bewohner der Entwicklungsländer sich ein Auto leisten könnte, alle paar Jahre einen grossen Fernseher, jeden Tag Fleisch auf dem Teller, eine Klimaanlage und Flugreisen rund um die Welt?

Aber treten wir doch einen Schritt zurück. Vielleicht hat uns das Grauen den Blick getrübt.

Sind die beiden Utopien – die faschistische eines tausend­jährigen Reiches und die kommunis­tische eines neuen Menschen – denn wirklich die einzigen Utopien der Vergangen­heit, über die sich zu sprechen lohnt? Gäbe es denn nicht Beispiele, die uns die Sache in einem besseren Licht erschei­nen liessen? Was ist eigentlich mit jenen Denkern der Aufklärung, die tagträumten, das jahrhunderte­alte Ständesystem liesse sich überwinden und der Mensch werde dereinst in Freiheit und Gleich­heit und Brüderlich­keit leben? Musste ihnen das damals nicht wie eine grosse Utopie erschienen sein? Überhaupt die Demokratie – war das nicht auch einmal eine Utopie?

Und was ist mit Olympe de Gouge, die von gleichen Bürger­rechten für Frauen und Männer träumte; im Jahre 1791 – eine Utopie. Was ist mit Wochen­arbeits­zeiten unter vierzig Stunden, der Arbeits­losen­versiche­rung, der Kranken­kasse, der Elternzeit, der Renten­versicherung, dem Kündigungs­schutz? Sind das, aus der Perspektive früher Kämpfer für die Arbeitsrechte, nicht Utopien? Und viel wichtiger noch, sind das nicht die Träume, denen sich heute eine Gewerk­schafterin der Textil­industrie in Bangladesh an ihrer Näh­maschine hingibt?

Viele dieser Träume wurden vielleicht zu Beginn kleiner geträumt. Der Kämpfer für die Rechte der Arbeiter im frühen 19. Jahrhundert hat kaum auf die 35-Stunden-Woche gehofft und auch nicht vom Vater­schafts­urlaub zu träumen gewusst. Aber er hat denselben Traum von Gerechtig­keit und einem besseren Leben geträumt und damit den Grundstein für heutige Errungen­schaften gelegt, die, Schritt für Schritt, erst erhofft und dann erkämpft wurden.

Vielleicht ist das die Lösung: Tagträume mittlerer Reichweite. Nicht der kleine, schmuddelige Traum vom eigenen Vorwärts­kommen; aber auch nicht gerade der grosse Traum vom neuen Menschen. Dafür der Traum von liberalen, sozial­demokra­tischen und ökologischen Errungen­schaften, die Stück für Stück erkämpft werden, damit die Chancen­gleich­heit für alle Menschen steigt und die Grausam­keit immer weniger Platz im Leben der Menschen einnimmt.

Die eine schwierige Frage, wie man vom Träumen ins Handeln kommt, die habe ich allerdings noch immer nicht beantwortet. Das scheint mir auch richtig so, denn das ist eine Frage, die, will man eben verhindern, in den Dystopien des zwanzigsten Jahr­hunderts zu landen, jeder für sich beantworten muss. Aber ich bin überzeugt: Die Kampfeslust kommt mit dem Träumen.

In diesem Sinne: Träumen Sie weiter – unbedingt!

Zum Autor

Keystone

Jonas Lüscher, 1976 in Schlieren geboren, ist in Bern aufgewachsen und wohnt seit 2001 in München. Für sein schriftstellerisches Werk hat er zahlreiche Preise erhalten, zuletzt den Schweizer Buchpreis 2017 für seinen Roman «Kraft». Zuvor war er bereits 2013 mit seiner Novelle «Frühling der Barbaren» für den Schweizer und den Deutschen Buchpreis nominiert.

Dieser Text ist die schriftliche Fassung seiner Eröffnungs­rede zum Zürcher Philosophie Festival Ende vergangener Woche.

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