Am Gericht

Das Unglück des Tüchtigen

Ein Büezer hats nicht so mit dem administrativen Kram. Als sein Geschäft in Schieflage gerät, rächt sich das Manko gleich mehrfach.

Von Yvonne Kunz, 26.12.2018

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Ort: Bezirksgericht Zürich
Zeit: 11. Dezember 2018, 14 Uhr
Fall-Nr.: GG180216
Thema: Misswirtschaft, Unterlassung der Buchführung, Gläubigerschädigung durch Vermögensminderung

In Büezerhosen mit Seiten­taschen und verstärktem Gesässteil steht der Mann an einem grauen Dienstag im Dezember vor Einzel­richter André Wenker. Eisen­leger ist er, seit 42 Jahren jeden Tag auf dem Bau. Sommers, winters, manchmal sieben Tage die Woche. Heute noch, er ist jetzt 61. Die Gesundheit? Soso, lala. Hobbys? Nein, nur Arbeit. Noch ein paar Jahre, sagt er, dann mal schauen. Erst noch Schulden abzahlen, 130’000 Franken, wegen «dieser Sache da». Auf dem Rücken knetet er seine Hände. Gross wie Brat­pfannen sind sie, und ein paar Pflaster kleben dran. Die Handwerker­hände hätten das Potenzial für ein Gemälde: der rechtschaffene Arbeiter, eingerahmt, an der Wand.

Vor Schranken steht er nicht etwa, weil er etwas Falsches getan hätte – sondern wegen Unterlassungs­sünden. Ende der Neunziger­jahre gründete er eine Einzelfirma; ein Mann, ein Name. Und der galt etwas auf den Gross­baustellen im Bündner­land, wo er mit seiner Truppe oft im Einsatz war. Jahr für Jahr machte seine Bude mit zeitweise über dreissig Arbeitern im Schnitt über 3 Millionen Franken Umsatz. Derweil blieb die Organisation dahinter minim – kaum Material­lager, kein Magazin. Die Mitarbeiter brachten ihr eigenes Werkzeug mit, die Rechnungen schrieb die Ehefrau. Bis auf zwei VW Golf, einen Peugeot 406, einen Škoda und Büromöbel für 300 Franken hatte die Firma nie Vermögen und führte immer nur ein einziges Kontokorrent.

Daran änderte sich auch nichts, als die Firma 2009 auf Anraten des Treuhänders in eine GmbH umgewandelt wurde, ein Unternehmen mit Strukturen, Statuten und strengeren Buchführungs­pflichten. Der Büezer wechselte indes nie von der Baustelle ins Büro, um ein Kreditoren­management aufzuziehen oder sich um Rückstellungen und Abschreibungen zu kümmern. Er rannte den Verpflichtungen hinterher. Stets war sein Geschäft auf neue Umsätze angewiesen, um die laufenden Kosten zu decken. Löhne, Versicherungen, AHV, Suva, Steuern.

Lange gings gut, aber dann entgingen ihm 2013 gleich zwei sicher geglaubte Grossaufträge, und die Abwärts­spirale begann sich zu drehen. Er verrannte sich noch mehr in der Arbeit und versank vollends im Stress, als die Zahlungs­befehle trotzdem bald täglich ins Haus flatterten. Alles wuchs ihm über den Kopf – Burn-out, Anti­depressiva. Eigene Forderungen trieb er nicht mehr ein, er schickte dem Treuhänder keine Unterlagen mehr, ordentliche Jahres­abschlüsse blieben aus. Und so zögerte der Büezer nicht, als sich ein Kauf­interessent für seine Firma meldete. Keine Sorge, hiess es, man werde bei der Übernahme auch gleich die Bücher in Ordnung bringen. Für 2500 Franken in bar war er 2015 die Last – sein Geschäft – los. Vorerst.

Zu gut, um wahr zu sein

Denn ein halbes Jahr später meldet die Firma nach nochmaligem Besitzer­wechsel Konkurs an. Und als Geschäfts­führer des «Vororgans» wird nun auch der Eisen­leger belangt. Misswirtschaft, Unterlassung der Buchführung und Gläubiger­schädigung durch Vermögens­minderung lauten die drei Anklage­punkte. Schon der Beschuldigte hätte eine Zwischen­revision veranlassen oder die Bilanz deponieren müssen, schreibt Staats­anwältin Sabine Schwarz­wälder in ihrer Anklage. Stattdessen habe er sein Geschäft im Wissen um die Über­schuldung verkauft. Dabei den Käufer nicht über die Ausstände informiert und sich überdies die Fahrzeuge gesichert, indem er sie für je 1000 Franken seiner Frau verschacherte – die nun ihrerseits eine Eisenleger­firma betreibt, wo der Mann heute arbeitet.

«Hören Sie», sagt der Mann zu den Vorwürfen, der südost­europäische Akzent liegt noch immer schwer in den Sätzen. «Ich habe Firma aufgemacht und gearbeitet. Viel lesen kann ich nicht, aber arbeiten schon, tschuldigung.» Verteidiger Peter Portmann doppelt nach: Ab 17 sei der Mann nicht mehr in der Schule gewesen, habe nur geschuftet, als er mit 19 in die Schweiz kam und auf dem Bau anheuerte. Und habe für seine Firma «im Schweisse seines Angesichts mit reiner Arbeit Millionen erchrampft».

Dabei sei ihm die Kontrolle über sein Geschäft entglitten, ja. Aber er habe nie bezweckt, die Vermögens­lage seiner Firma zu verhüllen. Er hatte ja die Übersicht verloren, so der Verteidiger. Hätte er sie gehabt, wären die Autos, 16 und 17 Jahre alte Bau­fahrzeuge, längst auf Schrott­wert abgeschrieben gewesen. Und der Beschuldigte hätte von den Konto­eingängen gewusst, mit denen er im kritischen Zeitpunkt seine Ausstände hätte decken können. Mit 144’000 Franken Höchst­stand ohnehin nur eine «Kleinstigkeit», so Portmann. Also keine Überschuldung, der Verkauf der Firma legal. Aus Sicht seines Verteidigers hat sich der Beschuldigte einzig der Unterlassung der Buchführung schuldig gemacht – denn dort reicht Fahrlässigkeit.

Zu milde, um einzuleuchten

Genau umgekehrt sieht es der Richter und spricht den Eisenleger einzig wegen Unterlassung der Buchführung frei. Und zwar deshalb, weil er dies als Teil der Miss­wirtschaft taxiert, des schwersten Deliktes mit bis zu fünf Jahren Freiheits­strafe, wie André Wenker herausstreicht. Umso mehr überrascht die Sanktion, die er verhängt: Mit seiner Geldstrafe von 150 Tagessätzen zu 90 Franken sowie einer Busse von 500 Franken bedingt bleibt er ganze 40 Tage unter dem Antrag des Verteidigers. Die Staats­anwältin hatte gar 270 Tagessätze gefordert. Weihnachtliche Milde eines Richters also?

Die Erläuterungen Wenkers geben zunächst wenig Aufschluss. Klar sei die Sache bei den Autos: Der Beschuldigte habe seine Frau bevorteilt. Ansonsten nimmt der Richter dem Arbeiter ab, nicht mutwillig gehandelt zu haben – doch Unwissen schütze vor Strafe nicht: «Sie hätten sich als Geschäfts­führer für Ihre Pflichten interessieren müssen.»

Genaueres Hinsehen legt die Vermutung nahe, dass das Urteil in einem grösseren Kontext gesehen werden muss. Denn der kleine Fall des einfachen Eisen­legers ist Symptom eines kriminellen Trends, gegen den sich der Kanton Zürich seit einigen Jahren mit Nachdruck stemmt: Raubritter-Konkurse. Eine Spielart ist die Übernahme von in Schieflage geratenen Handwerks­betrieben. Über Vermittler (wer auf Baustellen ihre Namen sucht, findet sie) gelangen trudelnde Unternehmen in die Hände von Firmen­bestattern. Und die zocken dann ab, indem sie auf Firmenrechnung einkaufen: Autos, Laptops, Mobiltelefone – ohne dafür zu bezahlen. Dann melden sie Konkurs an. Nach Schätzungen der Behörden liegt der volks­wirtschaftliche Schaden allein im Kanton Zürich jedes Jahr im dreistelligen Millionen­bereich.

Ein solcher Vermittler war mutmasslich auch der nette Herr, der dem verurteilten Büezer so grossmütig aus der Patsche geholfen hatte. Die Staats­anwältin bestätigt auf Anfrage, dass gegen ihn ein Verfahren wegen Konkurs­reiterei in mehreren Fällen läuft. Inwieweit dem Eisen­leger bewusst war, dass der Verkauf seiner Firma ein krummes Ding sein könnte, sei dahingestellt. Denn was auch immer sein Beitrag war, er zahlt nun, so oder so. Und das ist auch das, was den Richter letztlich am meisten überzeugte: die tätige Reue. Dass der Mann seit der Anklage­erhebung aus seinen 5000 Franken Lohn jeden Monat 1000 Franken an Schulden aus dem Konkurs abträgt. Wenn er bis 72 durchhält, wäre der Schaden getilgt. Zuzutrauen ist es ihm.

Das Gemälde des rechtschaffenen Arbeiters muss nicht abgehängt werden.

Illustration: Friederike Hantel

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