Hinter der prunkvollen Fassade des Petersdoms liegt die letzte absolute Monarchie Europas. Ein Staat ohne Gewaltentrennung. In dem – fast – keine Kinder leben.

Nachts hinter den Mauern des Vatikans

Nicht alle Fälle von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche spielen sich in der Provinz ab. Mitten im Vatikan soll sich ein angehender Priester an Ministranten vergriffen haben.

Von Michael Meier (Text) und Pietro Masturzo (Bilder), 19.12.2018

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Kamil Jarzembowski erinnert sich genau: Wie sich eines Abends, es geht auf Mitternacht zu, leise die Zimmertür öffnet – und ein angehender Priester ins Zimmer schleicht, das er mit einem anderen Jungen teilt. Erschrocken fragt Kamil den Mann, was er hier wolle.

Der Erwachsene antwortet nicht, dreht auf dem Absatz um und geht stumm hinaus. Doch er kommt wieder. Schon in der nächsten Nacht.

Jarzembowskis Zimmergenosse soll hier Paolo heissen und ist damals 16 Jahre alt. Schon seit langem wird Paolo von jenem angehenden Priester bedrängt – im Knabenpräseminar des Vatikans, dessen Bewohner, 13 bis 19 Jahre alt, als Messdiener im Petersdom dem Papst zur Hand gehen. Zu zweit oder dritt wohnen sie in kargen Zimmern im Palazzo San Carlo, einem schmucken Bau aus dem 19. Jahrhundert, und sollen sich über ihre Berufung zum Priestertum klar werden.

Am Abend darauf, wieder ist es spät, schleicht der angehende Priester erneut ins Zimmer der beiden Jungs. Wieder ist Jarzembowski noch wach, wieder spricht er ihn an. Der Mann fertigt Kamil mit den Worten ab, er müsse etwas mit Paolo besprechen. Dann geht der angehende Priester zu Paolos Bett, legt sich wortlos zu ihm und beginnt an ihm herumzufummeln. Paolo lässt es geschehen. Kamil hat keinerlei Zweifel an dem, was er aus wenigen Metern Entfernung hört und sieht: Die beiden haben Oralsex, geschätzte 20 Minuten lang.

Wieder und wieder wiederholt sich die Szene, fast jeden Abend zwischen September 2011 und Juni 2012. Kamil Jarzembowski dreht sich weg und stellt sich schlafend – und ist so peinlich berührt von dem Geschehen, dass er sich nicht traut, Paolo darauf anzusprechen. Erst die Sommerferien setzen dem nächtlichen Treiben ein Ende. Und dann ist es vorbei.

Das Verhör

Sieben Jahre später, an einem Septembermorgen 2018, sitzt Kamil Jarzembowski in einem Saal im Palazzo del Tribunale, im Inneren des Vatikans. Der Raum spiegelt die typisch vatikanische Ästhetik: an der Decke vergoldete Stuckaturen, die Wände mit dunklem Holztäfer verkleidet, ein Kruzifix aus Massivholz hinter dem Stuhl des Richters. Ein Ambiente, das Respekt heischt.

Kamil Jarzembowski kam aus Polen nach Rom, um Priester zu werden, doch die fünf Jahre im Vatikan haben ihm den Glauben geraubt.

Doch Jarzembowski beeindruckt es nicht. Zu gut kennt er den Gerichts­palast, der auch die Gendarmerie und das winzige Gefängnis des Vatikans beherbergt. Denn er hat von 2009 bis 2014 vis-à-vis gewohnt, im Palazzo San Carlo, in dem das Knabenpräseminar Pius X. untergebracht ist.

Mit 13 wurde Kamil Jarzembowski dort als chierichetto aufgenommen, als Messdiener des Papstes. Mit 18 wurde er hinausgeworfen, weil er den sexuellen Missbrauch an seinem Zimmergenossen angezeigt hatte. Im Juni 2018 begann endlich die juristische Untersuchung, und Jarzembowski ist die Hauptperson, der wichtigste unter den rund dreissig Zeugen. Schliesslich hat er alles ins Rollen gebracht.

Gian Piero Milano leitet die Anhörung an diesem Morgen. Als Staatsanwalt des Vatikans hat er den Beinamen Promotore di Giustizia, Förderer der Gerechtigkeit, und Milano scheint seinem Titel gerecht zu werden. Er habe zufrieden gewirkt, als sei er erfreut darüber, einmal in die Praxis umsetzen zu können, was er sonst als Professor für Kirchenrecht an den päpstlichen Universitäten nur lehrt. Geduldig, genau, hartnäckig, zugleich taktvoll und ausgesucht höflich befragen er und sein Assistent Kamil Jarzembowski.

Obwohl der den Missbrauch im Knabenpräseminar – die Bettszenen, die sich über ein halbes Jahr lang in seinem Zimmer abspielten – akribisch schildern muss, fühlt sich Jarzembowski erleichtert. Was für eine Genugtuung, nach Jahren zum ersten Mal von vatikanischer Seite gehört zu werden! Nach all den Schreiben an Kongregationen, an Monsignori, Exzellenzen und Eminenzen. Seit 2014 hat er versucht, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen: vom Rektor des Präseminars bis hinauf zu Papst Franziskus.

Stets hat er vergeblich auf Antwort gewartet. Und wenn er eine bekam, dann mit dem Hinweis, dass eine andere Behörde zuständig sei für den Fall. Wobei es für den Vatikan gar keinen Fall gab: Der Lüge und Verleumdung haben ihn die Würdenträger bezichtigt.

Worauf Jarzembowski den höchsten kirchlichen Autoritäten schrieb: «Ich lasse mir nicht auf diese Weise ins Gesicht spucken, und ich werde ein Mittel finden, gehört zu werden. Die Wahrheit muss ans Licht.»

Und er hat Wort gehalten.

«Für Übergriffe prädestiniert»

Dezember 2018. Es ist warm in Rom an diesen Tagen, es nieselt, die Sicht ist trübe. Kamil Jarzembowski erscheint pünktlich am Mittag zum Treffen auf der Dachterrasse des Hotels Atlante Star mit Panoramablick auf Rom und den Vatikanstaat: ein schmächtiger junger Mann in einem Sakko, das ihm an den Schultern zu breit ist. Auch die markante Brille wirkt zu gross, als solle sie ihm äusserlich die Statur geben, die er argumentativ so überzeugend verkörpert. Nüchtern und präzise und in makellosem Italienisch erzählt Jarzembowski – und mit einer Reife des Urteils, die jedem Vatikanisten zur Ehre gereichte.

Jarzembowski, Sohn eines Kleinunternehmers aus dem Dorf Sztum bei Danzig, sah einst im polnischen Fernsehen einen Bericht über das Knabenpräseminar im Vatikan. Das brachte ihn auf die Idee, in Rom zu studieren und die weite Welt kennen zu lernen. So liessen ihn seine Eltern das vatikanische Ministrantenseminar besuchen. 13 Jahre alt war er damals.

Doch die fünf Jahre im Vatikan haben ihm nicht nur jede Illusion, sondern auch den Glauben geraubt. Er wollte Priester werden, um mit der Wandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi in der Messliturgie wenigstens für Momente das «Paradies auf Erden» herbeizuführen. Doch das hinter frommer Moralfassade erlebte Karrierestreben, die Lüsternheit gewisser Kleriker und die vielen nicht beantworteten Schreiben haben ihm die Zukunft als Priester gründlich verbaut. Jahrelang, sagt er, habe er unter Schlaflosigkeit und Depressionen gelitten. Jetzt ist er 23, noch immer in Rom, wo er Kunstgeschichte studiert.

In der Sakristei vor und nach der Liturgie pflegten sich die Monsignori gegenseitig Spitznamen zu geben, weibliche zumeist.
Doch bei all den jovialen Umgangsformen herrschte eine Atmosphäre der ständigen Konkurrenz.

Während er erzählt, hoch oben auf der Dachterrasse, verortet er das Geschehene mit Fingerzeigen: da der Petersdom, an dessen Altären er diente, dort der Pinienhof, in dem er an üppigen Banketten teilnahm, da die Casa Marta, wo der Papst residiert, hier der Gerichtspalast, in dem er zwei Monate zuvor verhört wurde, und natürlich der Tatort: der Wohntrakt des Palazzo San Carlo, ein dreistöckiges gelbes Gebäude mit grauen Holzläden.

Republik: Wie viele Knaben besuchten damals das Präseminar?
Jarzembowski:
Wir waren 15 Knaben, die dort wohnten, schliefen und assen. Zum Essen im Refektorium waren häufig Prälaten und illustre Gäste, auch Kardinäle zu Besuch.

Sie waren Jungs in einer reinen Männergesellschaft. Hatten Sie Kontakt zu anderen Kindern oder Jugendlichen im Vatikan?
Wie denn? Die gibt es ja kaum im Vatikan. Man trifft dort selten mal auf Kinder von Schweizergardisten oder Angestellten. All die Würdenträger im Vatikan sind ja kinderlos.

Wie kann es an einem so heiligen Ort zu sexuellen Belästigungen kommen?
Der Vatikan ist für Übergriffe geradezu prädestiniert. Die kirchlichen Würdenträger geniessen Immunität, keine amtliche wie Politiker, aber soziale Immunität kraft ihres priesterlichen Status. Zudem herrscht dort das Gesetz des Schweigens, des Vertuschens, die Omertà. Als Kind unter lauter Würdenträgern und Autoritätspersonen ist man eingeschüchtert und wagt nicht zu widersprechen. Das würde einem als Ungehorsam und Verleumdung ausgelegt.

Dabei gilt schon seit 2002 die offizielle päpstliche Devise: null Toleranz gegenüber Tätern, Prävention auf allen Ebenen.
Im Präseminar gab es so gut wie keine Kontrolle. Wir Knaben waren weitgehend uns selbst überlassen. Wir hatten keine Krankenversicherung und durften das vatikaneigene Ambulatorium nicht benutzen. Der Rektor hatte keinerlei pädagogische Ausbildung und keine erzieherischen Fähigkeiten. Wir mussten uns Moralpredigten anhören, und zugleich wurde unsere Privatsphäre missachtet und wurden unsere Schränke durchsucht. Auch waren wir praktisch ganz von unseren Eltern abgeschnitten.

Das Gesetz des Schweigens

Nein, es sei keine einvernehmliche Liebesbeziehung gewesen, was sich da Nacht für Nacht in seinem Zimmer abspielte. Kamil Jarzembowski ist überzeugt: Sein Zimmergenosse Paolo war unter Druck, weil er abhängig war vom mutmasslichen Täter. Im März 2018 hat jener Paolo Strafanzeige wegen sexuellen Missbrauchs eingereicht. Der beschuldigte Priesteramtskandidat – nennen wir ihn hier Antonio – war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen.

Antonio war im Präseminar so etwas wie ihr Superior: Er war ein enger Vertrauter des Rektors, Don Radice, und genoss viele Privilegien. Ihm nützte, dass er der persönliche Altardiener eines mächtigen Bischofs war, im Vatikan ging er ein und aus. Sein wichtigstes Privileg aber: Er teilte die Knaben zum Altardienst im Petersdom ein – und bestimmte so, wer dem Papst zur Hand sein durfte. Auch er war einst Zögling des Präseminars und wohnte selbst dann weiterhin in einem Zimmer am Ende des Gangs, nachdem er die Priesterausbildung aufgenommen hatte. Jarzembowski schildert ihn als präpotent und cholerisch.

Das Präseminar im Vatikan wirkt wie aus der Zeit gefallen. Seit 1956 sind die Zöglinge des Präseminars mit dem Altardienst in der St.-Peter-Basilika betraut, und bis heute wird der Tagesablauf von den Messen im Petersdom diktiert. Jeden Morgen kurz nach sechs müssen die chierichetti die Altäre herrichten, auch jene der Grotten, damit die Priester pünktlich um sieben Uhr die erste Messe feiern können. Jeder Alumne versieht bei einer Messe den Altardienst; er selber soll täglich in den Genuss des Leibes Christi kommen.

Die Messdiener müssen den Priestern helfen, die liturgischen Gewänder an- und wieder auszuziehen.

Nach dem Frühstück werden die Jungs mit dem Minibus zum Institut Sant’Apollinare gefahren, einem zum Heiligen Stuhl gehörenden Gymnasium, aber ausserhalb der vatikanischen Mauern gelegen. Nachmittags, zurück im Präseminar, machen sie Hausaufgaben und dienen allenfalls abermals am Altar. Die Rekreation nach dem Abendessen besteht aus Fernsehen – zweimal wöchentlich – oder kurzen Spaziergängen durch die vatikanischen Gärten.

Die Freizeit ist spärlich bemessen. An Sonn- und Feiertagen werden die Knaben zu liturgischen Schwerarbeitern. Allein die Vorbereitung einer Papstmesse auf dem Petersplatz beansprucht zwei Stunden – sie schleppen Leuchter, Evangeliar und Kelch herbei. Stets müssen sie den Priestern helfen, die liturgischen Gewänder an- und wieder auszuziehen und diese aufzuhängen.

Natürlich will jeder Zögling so oft wie möglich bei Papstmessen dienen. Der Lohn für die harte Arbeit ist dann jeweils ein Foto in dem roten Untergewand und dem weissen Chorhemd am Altar zusammen mit dem Papst.

Kamil Jarzembowski darf im März 2013 Papst Franziskus bei dessen erster Messe in der Sixtinischen Kapelle dienen. Und später weitere 15-mal. Wobei er mit Franziskus nie wirklich in Kontakt kommt. Stets freundlich sei der gewesen, habe sich aber kaum je an die Knaben gewandt.

Die Opulenz, die Konkurrenz

Ganz anders war es unter seinem Vorgänger, unter Papst Benedikt, dem der Pole unzählige Male am Altar assistierte. Der deutsche Papst fragte die Ministranten beim Umkleiden in der Sakristei schon mal, woher sie denn kämen oder mit welchem Philosophen sie sich in der Schule gerade befassten.

Paolo war unter Druck, weil er abhängig war vom mutmasslichen Täter. Kamil Jarzembowski schildert den Mann als präpotent und cholerisch.

Überhaupt war unter Benedikt das höfische Leben bunter und opulenter als unter dem argentinischen Papst, der die Kurie gern massregelt und zu Bescheidenheit mahnt. Zur Zeit des bayrischen Pontifex gab es aus Anlass von Beförderungen, Priester- oder Bischofsjubiläen Steh-Apéros und Bankette.

Jarzembowski erinnert sich an zwei besonders kostspielige Buffets im Cortile della Pigna, den man vom Besuch der vatikanischen Museen her kennt. Gleich neben dem Riesenpinienzapfen mit den zwei Bronzepfauen war das Buffet aufgebaut und erstreckte sich den ganzen Pinienhof entlang: Wurst- und Fleischwaren à discrétion, metergrosse Parmesanlaibe. Eine Musikkapelle spielte auf. Der Junge aus Polen hatte so etwas noch nie gesehen.

Zumindest solange Benedikt regierte, herrschte an der Kurie pontifikale Freude an Gewändern aus Moiréseide, Damast und Hermelin. Die barocke Ästhetik kippte mitunter ins Tuntenhafte. Unterschwellig natürlich.

Jarzembowski schätzt den Anteil der schwulen Geistlichen im Vatikan auf über fünfzig Prozent. So begegnete ihm eines Abends in den Strassen Roms etwa ein Monsignore in Latexhosen, dem er bei Messen im Petersdom assistiert hatte. Andere wollen Vatikan-Geistliche in der römischen Schwulendisco «Muccassassina» gesehen haben.

«Tagsüber homophob, nachts homophil», kommentiert Jarzembowski sarkastisch.

In der Sakristei vor und nach der Liturgie pflegten sich die Monsignori gegenseitig Spitznamen zu geben, weibliche zumeist: «Jessica di Notte» zum Beispiel oder «Die drei Marien». Einer wurde «Viper», genannt, der andere «Huhn» – oft wenig schmeichelhafte oder ironisierende Namen.

Denn bei all den jovialen Umgangsformen herrschte eine Atmosphäre der ständigen Konkurrenz. Kamil Jarzembowski spricht von Clans rund um mächtige Würdenträger der Hierarchie, denen man sich anschloss, um selber Macht zu bekommen. Stellt man sich so eine Gemeinschaft von Brüdern vor?

Natürlich kannten die Knaben all die schwulen Priester und tuschelten über sie. Wobei Jarzembowski zwischen homosexuellen Klerikern und solchen mit pädophilen Neigungen unterschieden haben will. Bisweilen seien die Ministranten, wenn einer mit erstem Bartflaum oder Stimmbruch auffiel, von den Monsignori geneckt worden. Ansonsten hätten sie die Jungs in Ruhe gelassen.

Bis auf einige.

Die Opfer

Kamil Jarzembowski weiss von zwei Opfern unter den Altarknaben zur Zeit seines Aufenthalts im Internat: Priesteramtskandidat Antonio habe nicht nur seinen Zimmergenossen Paolo missbraucht, sondern auch einen anderen Ministranten belästigt. Ausserdem habe es einen weiteren Messdiener gegeben, der in den 1980er-Jahren vom damaligen Rektor des Präseminars missbraucht worden sei.

Lange versucht Kamil Jarzembowski, den Missbrauch anzuzeigen – doch niemand will zuständig sein. Nachdem ihn endlich ein Kardinal empfangen hat, büsst er am nächsten Tag. Der Rektor wirft ihn aus dem Knabenseminar.

Der italienische Enthüllungsjournalist Gianluigi Nuzzi, der mit seinen «Vatileaks»-Recherchen den Vatikan erschüttert und auch den von Kamil Jarzembowski angezeigten Missbrauch erstmals öffentlich gemacht hat, in seinem neuen Buch «Erbsünde», kürzlich bei Orell Füssli erschienen – dieser Gianluigi Nuzzi spricht von einem vierten Missbrauchsfall: Ein Ministrant sei von einem Monsignore des Vatikans in dessen Wohnung missbraucht worden. Der Junge habe mehrere Suizidversuche hinter sich und sei in psychiatrischer Behandlung.

Vielleicht gibt es sogar einen fünften Fall: Die Mutter eines chierichetto hat bereits 2012 an die Seminarleitung geschrieben, ihrem Jungen sei Schlimmes widerfahren. Niemand ging dem seinerzeit nach.

Und so war es auch bei Jarzembowski. Bis zum Sommer 2011 muss er zusehen, wie der angehende Priester Antonio Nacht für Nacht zu Paolo ins Bett kriecht. Drei Jahre lang trägt er dieses Wissen mit sich herum. Dann, am 9. Juni 2014, geht er zu Kardinal Angelo Comastri, dem Erzpriester des Petersdoms, und berichtet ihm von den Übergriffen im Knabenseminar. Und das, obwohl ihn Priester im Vatikan gewarnt haben: Sollte er das tun, würde er das Seminar verlassen müssen.

Doch Jarzembowski glaubt, er sei es der Wahrheit und der Gerechtigkeit schuldig. Und muss teuer dafür bezahlen: Am Tag nach dem Besuch bei Kardinal Comastri bittet ihn Don Radice zum Gespräch, der Rektor des Knabenseminars. Er ist ein mächtiger Monsignore, unter anderem, weil er die Gelder für die Messen im Petersdom einsammelt und verteilt. Er bescheidet Jarzembowski kühl, er möge nach den Sommerferien nicht mehr zurückkommen in den Vatikan. Auch vom Gymnasium habe man ihn abgemeldet.

Jarzembowski wird verstossen.

Die Ermittlungen

Irgendwann hört der Ausgestossene von Gianluigi Nuzzi und dessen Vatikan-Enthüllungen. 2017 kontaktiert er ihn. Und Nuzzi schreibt auf, was Jarzembowski gesehen hat.

Das druckfrische Exemplar von «Erbsünde» schickt Nuzzi an Gian Piero Milano, den Staatsanwalt des Vatikans. Die beiden verbindet eine innige Feindschaft: Staatsanwalt Milano versuchte 2015 vergeblich, Nuzzi wegen der «Vatileaks»-Enthüllungen ins Gefängnis zu bringen. Darum ist Nuzzis Genugtuung gross, als der Staatsanwalt aufgrund seiner Enthüllungen eine Untersuchung wegen sexuellen Missbrauchs einleiten muss.

Es ist der erste öffentlich gewordene Missbrauchsfall im Inneren des Vatikans, der gleichsam unter den Augen des Papstes geschah, der damals Benedikt XVI. hiess. Nachfolger Franziskus soll gesagt haben, er wolle eine skrupulöse Aufklärung.

Zwei Mal wurde Jarzembowski von Staatsanwalt Milano vernommen, im Juni und im September dieses Jahres.

Republik: Was bringt die Untersuchung?
Jarzembowski:
Bisher wurde von vatikanischer Seite alles als Verleumdung abgetan. Jetzt wird ernsthaft ermittelt. Und ich werde das erste Mal gehört.

Glauben Sie, dass es zum Prozess kommt?
Das ist schwer zu sagen. Ich glaube, dass der Staatsanwalt und der Substitut ihre Arbeit gewissenhaft machen. Der Druck der Öffentlichkeit und der Medien ist gross. Und im Vatikan hat man Angst vor dem Enthüllungsjournalisten Gianluigi Nuzzi. Der wird Staatsanwalt Milano genau auf die Finger schauen.

Haben Sie Vertrauen in die Justiz des Vatikans?
Der Vatikan kennt keine Gewaltenteilung, hat also keine unabhängige Justiz. Es ist ein eigener Staat mit eigenen Gesetzen und eigener Gerichtsbarkeit. Der Papst ist absoluter Monarch und oberster Richter. Er kann machen, was er will, und begnadigen, wen er will. Es kommt also ganz darauf an, was der Papst machen wird: Lässt er einen öffentlichen Prozess im Vatikan zu, oder nutzt er die Geschichte, um die Integrität des Vatikans zu zeigen?

Der Missbrauch geht weiter

Papst Franziskus ist wegen der weltweiten Missbrauchsfälle unter Druck. Erzbischof Carlo Maria Viganò, der frühere päpstliche Diplomat in Washington, wirft ihm gar vor, den US-Kardinal Theodore McCarrick gedeckt zu haben, der sich an Minderjährigen und Seminaristen vergangen hatte.

Hinter vorgehaltener Hand sagt man im Vatikan, Franziskus handle nur, wenn er nicht anders könne. Kürzlich hat der Pontifex McCarrick doch noch die Kardinalswürde aberkannt. Und er hat Bischöfe in Chile abgesetzt, weil sie Missbräuche vertuscht hatten. Erst Mitte Dezember hat Franziskus den Australier George Pell, den Finanzchef des Vatikans, aus dem Kardinalsrat entlassen. Dies als Reaktion auf das Urteil eines Geschworenen­gerichts in Melbourne am Tag zuvor – es verurteilte den Geistlichen wegen Missbrauchs zweier Messdiener.

Im Februar lädt Papst Franziskus zu einem Missbrauchsgipfel. Experten fürchten, dass die Veranstaltung auf der Ebene der Ankündigung und des Marketings verbleibt.
Hinter frommer Moralfassade herrschen Karrierestreben, die Lüsternheit gewisser Kleriker und die Omertà.

Für Ende Februar 2019 hat der Papst die Spitzen der weltweiten Bischofs­konferenzen in den Vatikan eingeladen, um über Massnahmen gegen Kinds­missbrauch und dessen Vertuschung in der Kirche zu beraten. Experten fürchten, dass der Missbrauchsgipfel – ganz auf der Linie von Franziskus – auf der Ebene der Ankündigung und des Marketings verbleibt. Franziskus beruft Kommissionen ein und formuliert allgemeine Schuldbekenntnisse, statt justiziable Akte zu setzen, Bischöfe und Kardinäle zu bestrafen und die Archive zu öffnen.

Zu gross ist die Distanz zwischen dem, was man machen müsste, und dem, was man machen kann und will. Doch die Welt wird im Februar auf Rom schauen. Mit den Bischöfen werden auch Journalisten aus allen Ecken des Planeten im Vatikan versammelt sein.

Gut möglich, dass dann auch Kamil Jarzembowski eine Rolle spielen wird. Er ist ein Zeuge, der sich artikulieren kann und keine Angst hat, Rede und Antwort zu stehen. Und er kann einen Fall bezeugen, der noch frisch und nicht verjährt ist. Der sich nicht irgendwo in Übersee, sondern im Innersten der katholischen Kirche zutrug. Und wie so viele andere vertuscht wurde.

Für seine Aufdeckung hat Kamil Jarzembowski gebüsst. Der Rektor warf ihn aus dem Knabenseminar.

«Antonio» hingegen, jener Priesteramtskandidat, der über Monate sexuelle Handlungen an ihm befohlenen Minderjährigen vornahm und nun im Fokus einer Untersuchung durch den Staatsanwalt ist, stieg auf in den vatikanischen Rängen. Erst kürzlich ist er zum Priester geweiht worden.

Der Autor

Michael Meier, 1955 in Zürich geboren, hat Germanistik studiert und in katholischer Theologie abgeschlossen. Sein Studium führte ihn unter anderem an die päpstliche Universität Gregoriana. Seit vielen Jahren schreibt er als Kirchen- und Religionsexperte vor allem beim «Tages-Anzeiger».

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