Aids ist besiegt

In vielen Teilen der Welt ist eine HIV-Infektion nur noch eine Krankheit wie andere auch. Wie wir das Virus in den Griff gekriegt haben – ein Essay zum morgigen Welt-Aids-Tag.

Von Michael Rüegg, 30.11.2018

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Aufklärungskampagne in den USA in den Neunzigerjahren: In den Augen amerikanischer Konservativer war die Aids-Epidemie keine Krise. Senator Bob Dole etwa kämpfte dagegen, dass Aids öffentlich thematisiert wird. Auch Präsident Ronald Reagan brachte das Wort Aids erst Jahre nach Ausbruch der Epidemie über die Lippen. A. Abbas/Magnum Photos/Keystone

Ich hasse das HI-Virus. Noch bevor ich entdecken konnte, wie toll Sex ist, waren wir, meine Generation, befallen: von der Angst vor dem Erreger.

Gerade war ich zum Teenager mutiert, als die Furcht vor der Immunschwächekrankheit grassierte. Die Kampagnen zur Aidsprävention liefen auf Hochtouren. Sie impften mir mit aller Deutlichkeit ein, dass Sex eine Gefahr barg. Nie werde ich das Schockplakat der Kleidermarke Benetton vergessen: ein ausgemergelter Aidskranker, der seiner trauernden Familie vor der Nase wegstirbt.

1990 war das. Das Bild brannte sich in meine Hirnrinde ein. Als ich Jahre später meine ersten sexuellen Erfahrungen machte, begleitete immer ein Funke Panik die Freude am Tun. Ich war Teil einer ganzen Generation, die mitten im Frühlingserwachen traumatisiert wurde.

Und doch muss ich froh sein um dieses Timing. Wäre ich nur zehn, fünfzehn Jahre früher geboren, hätte es vielleicht auch mich erwischt. Aids hat seit Beginn der Epidemie über 35 Millionen Menschen dahingerafft. Männer, die wie ich Männer lieben, gehören zu den Hauptrisikogruppen. Von Anfang an war die Diskussion um HIV moralisch vergiftet: «Schwulenpest» nannte man die Krankheit, der «Spiegel» schrieb 1983 von der «Homosexuellen-Seuche». Christliche Gedanken von Sünde und Strafe, von Schmutz, Wollust und tiefem Fall spukten in vielen Köpfen.

Eine Chance gegen das Virus hatten wir erst, als wir endlich anfingen, es als das zu behandeln, was es ist: eine Krankheit wie andere auch. Dort, wo sie das nach wie vor nicht ist, wo Scham, Aberglaube und Armut herrschen, sterben auch heute noch Menschen an den Folgen von Aids. 940’000 waren es gemäss den Vereinten Nationen im Jahr 2017, rund zwei Drittel davon auf dem afrikanischen Kontinent.

Nur mit Gummi. Nur mit Gummi. Nur mit Gummi

Als ich Anfang der Neunzigerjahre darüber nachdachte, den Sex irgendwann mal von der Theorie in die Praxis zu überführen, lag die Ansteckungsrate noch bei 2000 pro Jahr. Als ich Ende des Jahrzehnts endlich zur Tat schritt und meine ersten Abenteuer erlebte, war sie auf etwa 700 gefallen. Die wiederkehrenden Stop-Aids-Kampagnen hatten die Zahl bereits massiv heruntergedrückt.

Ja, auch ich wusste, wie man sich schützt. Ja, Kondome waren zugänglich, gelegentlich haufenweise. Ja, ich hielt mich peinlich genau an die Safer-Sex-Regeln.

Und doch lauerte im Hinterkopf die Frage: Hält sich auch das Virus daran? Gab es da nicht den einen Fall von dem Mann, der sich angeblich beim Zungenküssen angesteckt hatte, irgendwo in Amerika? Was, wenn der Partner eine kleine Wunde hat? Wenn man sich beim Knutschen aus Versehen auf die Zunge beisst? Bei jedem dieser Gedanken betraten sie unweigerlich die gedankliche Bühne: die Bilder der ausgemergelten Aids-Kranken, von denen ich einer werden könnte.

Dabei war die Forschung kurz vor der Jahrtausendwende bereits weit fortgeschritten. Ab 1996 gab es erstmals wirksame Therapien. Zehn Jahre zuvor sah alles noch anders aus.

Woher kam das Virus?

Wer das Stigma des Infizierten trug, um den machte man nach Beginn der Epidemie in den Achtzigern einen Bogen. Es trat jedoch auch eine Solidarisierungswelle ein. Filme wie «Philadelphia» (1993), in dem Publikumsliebling Tom Hanks einen sterbenden Aidskranken spielte, trugen dazu bei. Pfarreien, Sozialarbeiterinnen, Ärzte begannen sich auf HIV-Patienten zu spezialisieren, es entstanden Hospize wie das Lighthouse in Zürich.

Hollywood nimmt das Thema Aids auf: Tom Hanks (links) und Antonio Banderas in Jonathan Demmes «Philadelphia» (1993). The Moviestore Collection Ltd

Gleichzeitig fragte sich die Welt immer noch, woher das Virus eigentlich kam. Auch darüber kursierten im Verlauf der Jahre Theorien. 2006 liess die Wissenschaft verlauten, der Erreger habe sich einst von Schimpansen aus Kamerun auf den Menschen übertragen. Nicht via Sex. Sondern – vermutlich – über den Konsum von Affenfleisch.

Wer der Patient Zero war, der erste Mensch, der das Virus in sich trug und weitergab, ist nicht bekannt. Höchstwahrscheinlich hiess er nicht Gaëtan Dugas, ein Flight-Attendant bei Air Canada, der 1984 in Québec starb. Lange hatte Dugas als Quelle der Pandemie gegolten. Dann wurde er abgelöst von Robert Rayford, der bereits 1969 dahingeschieden war und in dessen eingefrorenen Gewebeproben Antikörper gegen das HI-Virus nachgewiesen werden konnten. Eine andere Vermutung besagt, dass der Erreger um 1970 herum aus der Karibik in die USA gelangte. Der Strauss an Theorien wird ergänzt durch abstruse Ideen: etwa die, dass der KGB und die ostdeutsche Staatssicherheit hinter Aids stünden.

Spielt es denn eine Rolle, wer der oder die Erste war? Den einen Schuldigen kann es nicht geben. Genauso gut könnte man einem kamerunischen Affen die Schuld geben, dass er nicht richtig durchgegart verzehrt wurde.

Doch Wissenschaft hin oder her, es gab immer wieder solche, die ganz genau gewusst haben wollen, wer die Verantwortlichen sind.

Denn das HI-Virus tauchte just zu der Zeit auf, als im Zuge der Bürger- und der Frauenrechtsbewegung Schwule gegen Diskriminierung kämpften. Es lieferte all jenen Kräften eine wunderbare Ausrede, die sich keine Gleichgeschlechtlichen in ihrer Umgebung wünschten: Der Schwule war nicht mehr nur eine Gefahr für Sitte und Moral. Sondern auch für die Volksgesundheit. Aids: eine willkommene Strafe Gottes für die Sündiger.

Sieg in Etappen: Der royale Handshake

Als die Krankheit noch den Nimbus des Unbezwingbaren hatte, feierte die Menschheit einen ersten kleinen Teilsieg über das Virus. Auslöserin war Lady Diana, die Prinzessin von Wales. Sie besuchte 1987 ein Aids-Ambulatorium in London und schüttelte dort die Hand eines erkrankten Mannes – ohne dabei Handschuhe zu tragen.

Die Welt war entsetzt. «Wird sie auch sterben müssen?», titelte schockiert eine deutsche Frauenzeitschrift.

Ungeschützt! Ein Handshake von Diana, Princess of Wales, mit einem Aidskranken im Middlesex Hospital, London, schockierte im April 1987 die Welt. John Redman/AP Photo/Keystone

Die royale Geste war einer der unvergesslichen Momente in der Geschichte von HIV. Die damalige Gattin des britischen Thronfolgers demonstrierte, dass das Virus nicht durch alltäglichen Körperkontakt übertragen werden konnte. Diana trug damit einen Teil zu dem bei, was für den späteren Sieg über HIV essenziell war: soziale Ächtung, Panik und Scham zu vergessen und der Krankheit stattdessen nüchtern und mit den Waffen von Wissenschaft und Aufklärung zu begegnen.

Weitere Teilsiege folgten: Jahre später glaubte man, den Schlüssel im Kampf gegen das Virus gefunden zu haben: Anlass bot der Berliner Patient, ein Amerikaner mit Namen Timothy Ray Brown. Brown war HIV-positiv und erkrankte an Leukämie. Ein Arzt an der Berliner Charité-Klinik hatte eine zündende Idee: eine Knochenmarktransplantation mit Stammzellen eines Spenders, der von Natur aus immun gegen das HI-Virus war. Die 2007 durchgeführte Operation gelang in doppelter Hinsicht: Nicht nur der Krebs war besiegt, Timothy Ray Brown war nach dem Eingriff wieder HIV-negativ. Doch die Freude über die Entdeckung war von kurzer Dauer: Als andere Ärzte die Operation an ihren Patienten wiederholten, blieb der Erfolg aus.

Die Oberhand im Krieg Mensch gegen Virus behielt während Jahren nach seiner Entdeckung das Virus. Es ist dem Kondom und dessen grossflächiger Verteilung zu verdanken, dass die Zahl der Neuinfizierten pro Jahr sank. Und doch wurden die HIV-positiven Menschen immer mehr. Waren es Mitte der Achtzigerjahre in Europa noch um die 100’000 Fälle, gehörten 2005 bereits gegen eine Million Personen zu den Infizierten.

Ganz gewonnen ist der Kampf noch lange nicht: Eine HIV-positive Mutter in Quelimane, Mosambik, lässt ihren Sohn aufs HI-Virus testen. Ulrich Doering/Imagebroker/Keystone

Eine moralinsaure Krankheit

Das Perfide am HI-Virus: Wer sich ansteckt, gilt als selber schuld – bis heute. Es ist für viele noch immer die Seuche der Perversen, der Ehebrecherinnen, Junkies, Sextouristen. Die moralgetriebene Haltung ist gefährlich: Sie verhindert einen vernünftigen Umgang mit Risiko und Krankheit.

Die Schweizer Präventionskampagnen waren gerade deshalb erfolgreich, weil sie auf die moralische Schelte verzichteten. Und stattdessen pragmatisch mahnten: im Minimum en Gummi drum.

Heute ist eine HIV-Infektion eine Krankheit wie Diabetes. Diskushernie. Epilepsie. Sie ist – solange behandelt – im Gegensatz zu vielen Krebsarten nicht tödlich. HIV ist lebensverändernd. Aber man kann es in den Griff bekommen. Das Virus tötet nicht mehr. Es begleitet einen Menschen – soweit der Stand der Forschung – nur noch bis ans natürliche Lebensende.

Aus einem Arsenal an Pillen, die ein HIV-Positiver vor zwanzig Jahren noch schlucken musste, ist eine Tablette pro Tag geworden. Die Wirkstoffe unterdrücken das Virus so erfolgreich, dass es sich nicht mehr nachweisen lässt. Der HIV-Positive, das einstige Risiko für die Allgemeinheit. Der Patient, für den einst Quarantänestationen eingerichtet worden waren: Er, sie ist ein Mensch geworden, der bei richtiger Medikation niemanden mehr anstecken kann.

Schon seit Jahren ist bekannt, dass Safer Sex mit Kondom unter diesen Voraussetzungen faktisch nicht mehr notwendig ist. Will heissen: Wenn der positive Partner regelmässig das Medikament nach Plan einnimmt, lässt sich eine Übertragung ausschliessen, auch wenn aufs Kondom verzichtet wird.

Dasselbe gilt für die PrEP-Therapie, die an Beliebtheit gewinnt: HIV-Negative können regelmässig oder bei Bedarf eine aus zwei Wirkstoffen kombinierte Tablette einnehmen. Gemäss aktuellem Stand der Forschung gilt als nachgewiesen, dass damit eine Ansteckung ausbleibt – auch wenn man aufs Kondom verzichtet. Im australischen Bundesstaat New South Wales wurde der Effekt der PrEP-Abgabe auf die Infektionsrate untersucht. Das Resultat: 25 Prozent weniger neue Ansteckungen – der tiefste Stand seit Beginn des HIV-Monitorings im Jahr 1985.

Noch einmal: HIV-Positive in Behandlung geben das Virus nicht mehr weiter. Negative, die eine PrEP einnehmen, sind vor einer Ansteckung geschützt – damit sind beidseitig die Mittel vorhanden, um Neuinfektionen zu verhindern.

Dreissig Jahre nachdem «Tagesschau»-Moderator Charles Clerc in der «Tagesschau»-Hauptausgabe gezeigt hat, wie man ein Präservativ abrollt, ist das Verhüterli nicht mehr der einzige wirksame Schutz vor HIV.

Röllele, röllele, röllele: Moderator Charles Clerc klärt 1987 in der Hauptausgabe der «Tagesschau» das Land über die korrekte Verwendung eines Kondoms auf. RDB/Dukas

Die Politik fürchtet sich fürderhin

Mit einer neuen Kampagne klärt die Aids-Hilfe Schweiz seit November 2018 das Land auf: «HIV-positive Menschen unter erfolgreicher Therapie stecken niemanden an. Auch nicht beim Sex», steht auf Plakaten. Ein «Tabubruch» sei das, kommentiert der «Tages-Anzeiger». Und warnt davor, die Wirkung der langjährigen Kampagnen zu Safer-Sex-Regeln zu zerstören. Im Bundeshaus wittern Parlamentarier bereits Morgenluft und wollen der Aidsprävention die Mittel entziehen – weil sie falsche Botschaften verkünde!

Das Volk, so deren Argumentation, sei zu doof, um das richtig zu verstehen. Um zu kapieren, dass HIV-Positive nur dann niemanden mehr anstecken können, wenn sie die richtigen Medikamente schlucken. Dasselbe Volk, dem man zutraut, die wirtschaftlichen und politischen Folgen einer Kündigung multilateraler Staatsverträge abzuschätzen. Es soll zu dumm sein, um zu verstehen, dass Medikamente nur bei richtiger Einnahme schützen.

Ist es die noch immer schwelende Angst vor der einst tödlichen Krankheit, die im politischen Bern das Blut hochkochen lässt? Oder einfach die Blindheit gegenüber dem Stand der medizinischen Forschung? Oder doch die Idee, dass nur verheiratete Paare im Ehebett zur Zeugung von Nachwuchs auf Kondome verzichten sollten?

Nein, ganz gewonnen ist der Kampf gegen das HI-Virus noch lange nicht. Zu viele Menschen sind allein in der Dritten Welt von den nötigen Medikamenten abgeschnitten. Dort wird Aids weiterhin ausbrechen. Aber es zeigen sich immer mehr Lichtstreifen am Horizont.

  • Erstmals gibt es weltweit mehr HIV-Positive, die Medikamente erhalten, als solche, die ohne Therapie sind – auch wenn (ein gigantischer Skandal!) in vielen Weltgegenden noch immer Millionen Patienten keinen Zugang zu den nötigen Medikamenten haben.

  • Erstmals können sich HIV-Negative erfolgreich gegen Ansteckungen schützen, ganz egal, wie «unvernünftig» ihr Sexualverhalten ist. In vielen Ländern (wenn auch nicht in der Schweiz) werden die Medikamente gratis an Risikopersonen abgegeben oder von Krankenversicherungen bezahlt.

  • Erstmals wird darüber aufgeklärt, dass HIV-Positive beim Sex keinerlei Risiko für andere darstellen, wenn sie – wie praktisch alle – die richtige Therapie haben. Dies zu kommunizieren, ist ein Schritt hin zur längst nötigen Entstigmatisierung von HIV-Positiven.

Fazit: Das Virus bleibt Auslöser einer der schrecklichsten Pandemien der Neuzeit. Aber es trägt nicht mehr wie früher die Fratze des Todes. Wir sind ihm nicht mehr hilflos ausgeliefert.

Im Gegenteil. Die Menschheit hat zwar weder die erhoffte Impfung noch ein Heilmittel gegen HIV gefunden. Aber wir besitzen mächtige Waffen, um das Virus in Schach zu halten. Es ist nicht vernichtet. Aber besiegt.

Das alles ist – nüchtern betrachtet – ziemlich fantastisch.

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