Worte, nach Luft schnappend

Dunkelkammer, Teil III: Was ist eine Metapher? Woher kommt ihre revolutionäre Kraft? In der dritten, abschliessenden Poetikvorlesung liest Melinda Nadj Abonji Kafka, Merz und Ugričić.

Von Melinda Nadj Abonji, 23.11.2018

Befehlsgewalt
Die Wunderschuhe anziehen! befahl
Grossmutter, setzte sich zu uns
aufs Kanapee, begann zu erzählen:
Schon waren wir über alle Berge.
(Klaus Merz, Aus dem Staub)

Ja, lassen Sie uns die Wunderschuhe anziehen – und bisweilen genügt es, einen Vokal zu verschieben, um über alle Berge zu sein; es sind auch keine atmungsaktiven Bergschuhe nötig, La Sportiva Nepal, mit Duratherm-Futter, aus wasserabweisendem Leder, steigeisenfest und mit herausnehmbarer Zunge!

«Die Metapher ist nur in einer Annäherung beschreibbar, auch darin liegt ihre Schönheit und ihre Kraft»: Melinda Nadj Abonji. Christian Neuenschwander für Style Magazin

Für den Einsatz im Buchstabengebiet sind, Sie wissen es bereits, die Ohren von Vorteil; ob geputzt oder nicht, spielt keine Rolle, ebenso wenig, ob sie geschmückt sind oder nicht; unentbehrlich ist es hingegen, die Imagination zu aktivieren, um möglichst schwindelfrei in unbekannte Regionen vorstossen zu können, was selbstverständlich nur dann gelingt, wenn Sie Ballast abwerfen, die Last des Vertrauten, und sich einer Befehlsgewalt ausliefern, die alle Autoritäten aushebelt: der Literatur.

Ich erinnere Sie an einen Abschnitt meiner ersten Vorlesung: «Von Literatur (Kunst) spreche ich nur dann, wenn sie die Fundamente der normativen Ordnung, die sogenannte Wirklichkeit, ausser Kraft zu setzen vermag; sie ist deshalb in einem ständigen Kampf mit dieser Ordnung, die vom Publikum und von der öffentlichen Meinung repräsentiert wird. Und gleichzeitig braucht die Literatur ein Publikum (und sei es noch so marginal) – Leserinnen und Leser, die bereit sind, die normative Ordnung der ‹äusseren Wirklichkeit› und in sich selbst ausser Kraft zu setzen.»

In Klaus Merzens Gedicht «Befehlsgewalt» spricht nicht das Oberhaupt einer Armee, kein Politiker, keine Firmenchefin – wie nach dem Titel zu erwarten wäre –, sondern die Grossmutter: «Die Wunderschuhe anziehen!»

Befehle sind performative Äusserungen, die sehr oft keinen Zweifel daran lassen, wie sie zu befolgen sind. Aber wie gehorcht man dem Befehl «Wunderschuhe anziehen!»? Eingeweihte wissen es – die Kinder verstehen die Anweisung der Grossmutter sofort, nämlich als Codewort, und da die Kinder (noch) in der Welt der Imagination leben, müssen sie für die bevorstehende Reise nichts tun, ausser sich auf dem Kanapee in Bereitschaft bringen, um der Erzählung der Grossmutter Gehör zu schenken (dem Befehl gehorchen bedeutet hier also hinhören oder hinhorchen); dann kann sich das im Befehl enthaltene Versprechen – das Wunder – bewahrheiten.

Der Punkt nach der letzten Verszeile «Schon waren wir über alle Berge» ist insofern kein Schlusspunkt, sondern eine Pause vor dem Übertritt: Nach dem Luftholen beginnt eine andere Welt, eine neue Wirklichkeit, die durch die Imagination der erzählenden Grossmutter und der zuhörenden Kinder entsteht. Die Bedeutung der bekannten sprichwörtlichen Wendung «über alle Berge sein» wird verschoben, was entscheidend ist; es geht nicht so sehr ums Fliehen, ums Verschwundensein, sondern viel eher um die Öffnung hin zu einer anderen Welt (hinter den Bergen), die sich nach dem Punkt auftut, aber bereits mit dem Befehl der Grossmutter «Die Wunderschuhe anziehen!» begonnen hat.

Das Adverb «schon», das die letzte Verszeile einleitet, erinnert mich daran, dass ich während meiner Vorlesungen nie über die Wichtigkeit der Partikel gesprochen habe (die Präpositionen, Konjunktionen und Adverbien), was ich nun wenigstens an dieser einen Stelle nachhole.

«Schon waren wir über alle Berge» – Sie hören es, alle Wörter sind auf der ersten Silbe betont, nach «wir», der dritten Betonung, ist eine kleine Pause erforderlich, bevor der Satz weitergeht. Die rhythmisch stimmige Gliederung des Satzes wird durch die Partikel «schon» eingeleitet, die darauf hinweist, wie schnell die Kinder in einer anderen Welt sind; die räumliche Distanz hingegen, die sie in dieser geringen Zeit überwinden, ist unermesslich gross.

Die Imagination – sie ist schneller als erwartet, äusserst kostengünstig, schadstoffarm und sogar barfuss erreichbar.

Das Gedicht spricht en miniature ganz grundsätzlich von Literatur, von den Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit sie überhaupt entstehen kann: Es braucht eine Künstlerin (die Grossmutter – sie hat sich den Ruf als Erzählerin erworben), das Publikum (die zuhörenden Kinder, die im Gegensatz zu einem erwachsenen Publikum noch nicht in die Welt der Imagination zurückgeholt werden müssen) und das Kunstwerk (die Erzählung der Grossmutter).

Den Titel lese ich als klaren Hinweis dafür, dass Kunst durch die Imagination die Autorität für sich in Anspruch nimmt (und nehmen muss), die die Autoritäten (wie Eltern, Schule, Kirche, Gesetz, Staat etc.) infrage stellt.

Befehlsgewalt. Wer hat das Sagen? Wer beansprucht Aufmerksamkeit? Und vor allem: Was ist vorstellbar, was unvorstellbar? Wer definiert, was wirklich, was unwirklich ist?

Wirklichkeit und Metapher

Auf fast all meinen Reisen habe ich ein kleinformatiges Buch dabei, eine Reclam-Ausgabe von Franz Kafkas Erzählungen, so auch letzten Herbst, als ich in einem Regionalzug sass, zwischendurch das Lesen unterbrach, um aus dem Fenster zu schauen, und ich erinnere mich an Überlingen, wie es sehr charmant, in herbstlicher Vergessenheit, an mir vorbeizog, ein Spielplatz mit Baumgerippen, eine feine Dame, an einem Brunnen stehend, die ihr schütteres Haar so kunstvoll frisiert hatte, dass die Luft in ihrer Haarkugel zu sehen war; alles kam mir vertraut vor, als hätte ich es schon einmal gesehen, ein Déjà-vu, und beim nächsten Halt stieg ich aus, setzte mich auf die nächstbeste Bank, öffnete das Buch, um weiterzulesen, Franz Kafkas «Gespräch mit dem Betrunkenen»:

«Als ich aus dem Haustor mit kleinem Schritte trat, wurde ich von dem Himmel mit Mond und Sternen und grosser Wölbung und vom Ringplatz mit Rathaus, Mariensäule und Kirche überfallen.

Ich ging ruhig aus dem Schatten ins Mondlicht, knöpfte den Überzieher auf und wärmte mich; dann liess ich durch Erheben der Hände das Sausen der Nacht schweigen und fing zu überlegen an:

Was ist es doch, dass Ihr tut, als wenn Ihr wirklich wäret. Wollt Ihr mich glauben machen, dass ich unwirklich bin, komisch auf dem grünen Pflaster stehend? Aber doch ist es schon lange her, dass du wirklich warst, du Himmel, und du Ringplatz bist niemals wirklich gewesen.

Es ist ja wahr, noch immer seid Ihr mir überlegen, aber doch nur dann, wenn ich euch in Ruhe lasse.

Gott sei Dank, Mond, du bist nicht mehr der Mond, aber vielleicht ist es nachlässig von mir, dass ich dich Mondbenannten noch immer Mond nenne. Warum bist du nicht mehr so übermütig, wenn ich dich nenne ‹Vergessene Papierlaterne in merkwürdiger Farbe›. Und warum ziehst du dich fast zurück, wenn ich dich ‹Mariensäule› nenne und ich erkenne deine drohende Haltung nicht mehr, Mariensäule, wenn ich dich nenne ‹Mond, der gelbes Licht wirft›.

Es scheint nun wirklich, dass es Euch nicht gut tut, wenn man über Euch nachdenkt; Ihr nehmt ab an Mut und Gesundheit.

Gott, wie zuträglich muss es erst sein, wenn Nachdenkender vom Betrunkenen lernt!»

Was ist wirklich? Was ist unwirklich? Wer sagt, was wirklich ist?

Um diese Fragen dreht sich der vorgestellte Ausschnitt, und zwar auf atemberaubende Weise. Zunächst geht es um die «Wirklichkeit» der Dinge: Ringplatz, Rathaus, Mariensäule, Kirche – Instanzen der weltlichen Macht. Und zweitens um die Wirklichkeit der Natur: Himmel, Mond, Sterne, grosse Wölbung – die Naturphänomene. Nachdem der «Nachdenkende» seine Hände in der Art eines Zauberers erhoben und so das «Sausen der Nacht» zum Schweigen gebracht hat, fragt er: «Was ist es doch, dass Ihr tut, als wenn Ihr wirklich wäret», und er kommt zum Schluss: «Es ist ja wahr, noch immer seid Ihr mir überlegen, aber doch nur dann, wenn ich Euch in Ruhe lasse.»

Ich lese den zweiten Teil von Kafkas Text nochmals:

«Gott sei Dank, Mond, du bist nicht mehr der Mond, aber vielleicht ist es nachlässig von mir, dass ich dich Mondbenannten noch immer Mond nenne. Warum bist du nicht mehr so übermütig, wenn ich dich nenne ‹Vergessene Papierlaterne in merkwürdiger Farbe›. Und warum ziehst du dich fast zurück, wenn ich dich ‹Mariensäule› nenne und ich erkenne deine drohende Haltung nicht mehr, Mariensäule, wenn ich dich nenne ‹Mond, der gelbes Licht wirft.›

Es scheint nun wirklich, dass es Euch nicht gut tut, wenn man über Euch nachdenkt; Ihr nehmt ab an Mut und Gesundheit.

Gott, wie zuträglich muss es erst sein, wenn Nachdenkender vom Betrunkenen lernt!»

Im zweiten Teil der Erzählung geht es um den Mond und seine (möglichen) Namen. Der «Nachdenkende» sagt, der Mond sei «nicht mehr so übermütig», wenn er nicht mehr Mond heisse, sondern «Vergessene Papierlaterne in merkwürdiger Farbe» (und mir fällt das berühmte Bild von René Magritte ein, auf dem eine Pfeife gemalt ist und das mit dem Satz «Ceci n’est pas une pipe» kommentiert wird). Aber warum sollte der Mond denn übermütig sein, wenn er «Mond» heisst? Und nicht mehr übermütig, wenn der Erzähler ihm einen anderen Namen gibt, eine Metapher: «Vergessene Papierlaterne in merkwürdiger Farbe»?

Mond und Papierlaterne haben eine Gemeinsamkeit, nämlich, dass sie Licht geben. Deren Materialität allerdings könnte nicht unterschiedlicher sein. Und was bedeutet es, wenn ein Himmelskörper mit einem vergessenen Objekt in Verbindung gebracht wird?

Der «Nachdenkende» geht aber noch weiter. Im nächsten Moment erklärt er den Mond zur «Mariensäule» (der Erzähler hat die Säule gesehen, als er aus dem Haustor getreten ist). Was erklärt die «drohende Haltung» des Mondes, nachdem er nicht mehr Mond heisst, sondern Mariensäule? Der «Nachdenkende» kommt jedenfalls zu folgendem Schluss: «Es scheint nun wirklich, dass es Euch nicht gut tut, wenn man über Euch nachdenkt; Ihr nehmt ab an Mut und Gesundheit.» (Bemerkenswert ist auch die Mehrfach-Bedeutung der Verben «scheinen» und «abnehmen»).

Der Erzähler denkt also nach und sein Überlegen bringt ihn dazu, den Mond nicht mehr Mond zu nennen, sondern «Vergessene Papierlaterne in merkwürdiger Farbe». Indem der Erzähler eine Metapher braucht, verschiebt er unsere Wahrnehmung: Der Nacht für Nacht anwesende Himmelskörper wird zur Papierlaterne, die jemand vergessen hat – wenn sie jemand holt, wird es bestimmt stockdunkel sein; das wohl vertraute Attribut des Mondes, sein «gelbes Licht», wird zur «merkwürdigen Farbe». Die Folge der Metaphernbildung ist, dass der Mond, wie bereits gesagt, nicht mehr «so übermütig» ist.

Der «Nachdenkende» verwandelt die vergessene Papierlaterne in eine «Mariensäule», und dadurch wird alles, was für den Mond relevant war oder zu sein schien, für irrelevant erklärt: Es gibt keine erkennbare Verbindung mehr zwischen «Mond» und «Mariensäule».

Ist es nicht verständlich, dass der Mond eine «drohende Haltung» einnimmt, weil er schliesslich alles verliert, was den Mond ausgemacht hat? Ist «Mariensäule» eine Metapher für den Mond oder nicht – oder eine misslungene?

Die Metapher ist umworben; Wissenschaftlerinnen bemühen sich um sie, Schreibende, aber auch Manager und Politikerinnen. Es handelt sich um eine Art Schatzsuche, die bereits mehr als zweitausend Jahre dauert und bei der die Beteiligten sich in ihrem Fieber überbieten, manches Mal so klug sind, dass mir ganz schwindlig wird, dann wieder so trivial, dass ich nur kopfschüttelnd lachen kann. Das Beispiel «Achilles ist ein Löwe» hat Schule gemacht, sodass ich mich frage, ob es überhaupt noch eine Metapher ist oder nicht schon längstens eine abgegriffene Redewendung. Die Metapher ist aber nur in einer Annäherung beschreibbar, auch darin liegt ihre Schönheit und ihre Kraft. Sie ist jene Mikroebene der Literatur, die deren Kunst, über der Zeit schwebend, am eindrücklichsten verkörpert und deshalb unaufhörlich interpretiert werden kann. Zugegeben: Das ist meine Interpretation.

Kafkas Erzählung «Gespräch mit dem Betrunkenen» ist erhellender als jede Theorie, die ich über Metaphern gelesen habe, und zwar deshalb, weil in ihr darüber nachgedacht wird, was Metaphern mit der Wirklichkeit tun; der «Nachdenkende» reflektiert zunächst über die Wirklichkeit und zeigt, dass es den Repräsentanten der weltlichen und natürlichen Ordnung schadet, wenn man über ihre «Wirklichkeit» nachdenkt. Ihre Überlegenheit, das heisst ihre Macht, besteht gerade darin, dass man nicht über sie nachdenkt, sie vielmehr in ihrem So-Sein, in ihrer Wirklichkeit akzeptiert und damit in ihrer Überlegenheit bestätigt.

Dass die Wirklichkeit der Dinge in der Sprache liegt, findet am stärksten ihren Ausdruck darin, dass der Erzähler nicht mehr den «natürlichen», auf der Hand liegenden Namen für den Mond verwendet, sondern eine Metapher: Der in seinem Namen nicht Bestätigte reagiert ungehalten, sogar drohend, als er vom Erzähler «Vergessene Papierlaterne in merkwürdiger Farbe» und «Mariensäule» genannt wird.

Die Metapher entmachtet die Inkarnationen der normativen Ordnung: die Wirklichkeit / die Sprache; die normative Ordnung kontrolliert die Wahrnehmung und die Aufmerksamkeit und die Imagination. Die Metapher hingegen bewegt die Aufmerksamkeit hin zum eigenen Verstand und zur eigenen Imagination (Imagination verstanden als Fähigkeit zu vergleichen, Annahmen zu treffen und Voraussagen zu machen; die Überlegenheit der (Sprach)Wirklichkeit, die fixen Bedeutungen werden in Kafkas Text ausser Kraft gesetzt, und zwar, indem der Erzähler überlegt und Fragen stellt und durch die Metapher das Vorgegebene, was so ist und weiterhin so bleiben soll, infrage stellt. Das führt letzten Endes dazu, dass durch die Metapher die bestehende Macht der Wirklichkeit transformiert und so eine neue Wirklichkeit möglich wird. Und das ist revolutionär.

«Gott, wie zuträglich muss es erst sein, wenn Nachdenkender vom Betrunkenen lernt!» – so heisst es im letzten Satz des gewählten Ausschnitts.

Was also würde geschehen, wenn der Nachdenkende von einem Berauschten lernte, der nicht mehr bei Sinnen oder eben bei anderen Sinnen ist? Nicht auszudenken! Oder doch?

Wenn Sie die nächsten Sätze hören, werden Sie sich vielleicht vorstellen können, was alles noch auf Sie zukommt, falls Sie den ganzen Text lesen:

«Warum ist alles still geworden. Ich glaube, es ist kein Wind mehr. Und die Häuschen, die oft wie auf kleinen Rädern über den Platz rollen, sind ganz festgestampft – still – still – man sieht gar nicht den dünnen, schwarzen Strich, der sie sonst vom Boden trennt.»

In Kafkas Erzählung liegt die Betonung, wie eingangs erwähnt, auf der Wirkung der Metapher, was sie mit der Wirklichkeit tut, und das ist, wie Sie gehört haben, sehr weitreichend. Nur indirekt erfahrbar ist in seinem Text, wie die Metapher entsteht, welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit überhaupt von einer Metapher gesprochen werden kann. Wie also ist die Metapher beschaffen, da sie ein derart umstürzlerisches Potenzial in sich birgt?

Das griechische Verb μεταφέρειν (metapherein) bedeutet «anderswohin tragen», «verlegen», «wegrücken», «übertragen». Es erscheint mir sinnvoller, vom Verb auszugehen und nicht vom Nomen, weil so einsichtig wird, dass die Metapher im grundsätzlichsten Sinne eine physische und geistige Bewegung vollzieht. Da wir gemeinhin davon ausgehen, dass ein Wort definierbar ist, auch in seiner oder trotz seiner Mehrdeutigkeit, dann zeugt die Metapher von der elementaren Fähigkeit der Sprache, sich anderswohin zu bewegen, etwas zu tun, was in Wörterbüchern nicht auffindbar ist und nicht dingfest gemacht werden kann.

Ein kurze Passage aus «Schildkrötensoldat»:

«(...) ich habe meinem Papa Glück gewünscht, weil das Glück – G-L-Ü-C-K – eine Luke ist, aus der man an einem warmen Tag den Kopf hinausstreckt, oder nicht?»

Melinda Nadj Abonji: «Schildkrötensoldat».

Zoltán, die Hauptfigur des Romans, wünscht seinem Vater Glück und begründet das mit einer Metapher. Er wünscht ihm also keinen Goldesel, kein Auto, kein Haus, kein ewiges Leben, sondern Zoltán ersehnt für den Vater Glück in Form eines kleinen Fensters, aus dem «man an einem warmen Tag den Kopf hinausstreckt».

Glück und Luke – Glück wird zur Luke hingetragen; aber was hat eine emotionale Hochstimmung, eine günstige Fügung des Schicksals mit einer winzigen Öffnung zu tun? Müssen sie überhaupt etwas miteinander zu tun haben? Ja, sie müssen, ansonsten würde ich nicht von einer Metapher sprechen (André Breton würde mir nicht zustimmen). Die Bewegung des Glücks zur Luke kann nur gelingen, wenn die beiden – so weit entfernten – «Dinge» mindestens eine Charakteristik teilen, die erst durch deren Verbindung zum Vorschein kommt.

Glück und Luke sind durch den Klang miteinander verbunden, über den klingenden Konsonanten «l» und das stimmlose «k»; das englische «luck» schwingt mit und die «Lücke». Alle erwähnten Wörter sind etymologisch verwandt, was für das Verständnis der Metapher unerheblich ist, aber für deren Entstehung entscheidend war. Glück und Luke kommen ausserdem in einem sinnlichen Aspekt zusammen: Ein Hochgefühl wie eine Raumöffnung ermöglichen eine veränderte Wahrnehmung, ein Aufatmen, einen anderen, wärmeren Blick auf die Welt (den sich Zoltán für seinen Vater wünscht).

Massgebend ist auch, die Metapher in ihrer Verbindung zum Textganzen zu berücksichtigen. Hier steht sie am Ende des Kapitels G-L-Ü-C-K-S-L-A-U-N-E, das von Zoltáns Mutter erzählt, die in Glückslaune ist, weil sie zu ihrem Geliebten aufbricht, und seinem Vater, der seine Hoffnungslosigkeit ertränkt. Zoltán wünscht ihm eine Art Gegenzauber, damit er sich nicht weiter absacken lässt.

μεταφέρειν (metapherein):

Etwas ist da. A. Und etwas anderes. B.

A und B haben nichts miteinander zu tun.

Das eine wird zum anderen getragen. A zu B.

Die beiden, die grundverschieden sind, haben etwas gemeinsam. In A ist etwas von B. Und in B ist etwas von A.

Die Gemeinsamkeit ist verborgen. Sie liegt nicht auf der Hand, höchstens in der Luft.

Je weiter A und B voneinander entfernt sind, desto überraschender ist es, wie nah sie (plötzlich) sind.

In ihrer Verbindung spricht das weit Auseinanderliegende durch ihre Gemeinsamkeit.

Die Sprache platzt aus ihren Nähten, sie schnappt über.

μεταφέρειν: die Wahrnehmung verändert sich und die Imagination verändert sich.

Wenn sich die Wahrnehmung und die Imagination verändern, verändert sich die Wirklichkeit.

Die Wirklichkeit ist die Illusion, dass es keine Illusion gibt (Sreten Ugričić).

Die lebendige, revolutionäre Metapher – sie ist äusserst selten. Aber möglich.

Das letzte Wort hat die Literatur, ein Ausschnitt aus dem Roman «An den unbekannten Helden» von Sreten Ugričić. Vergessen Sie nicht, die Wunderschuhe anzuziehen, it’s mind blowing:

«Der Querschnitt eines Apfels legt einen fünfzackigen Stern frei. Der Längsschnitt des Apfels verdeckt den fünfzackigen Stern. Der Querschnitt eines Weihnachtsbaums legt eine Schneeflocke frei. Der Längsschnitt des Weihnachtsbaums verdeckt die Weihnachtsgeschenke. Der Querschnitt der Milchstraße legt eine spiralförmige Himmelsrutsche frei. Der Längsschnitt der Milchstraße verdeckt die spiralförmige Himmelsrutsche. Der Querschnitt eines Bleistifts legt eine totale Sonnenfinsternis frei. Der Längsschnitt des Bleistifts verdeckt die totale Sonnenfinsternis und legt einen dünnen Pfeil frei. Der Querschnitt einer weißen Taube im Flug legt Christus am Kreuz frei. Der Längsschnitt der weißen Taube ist tödlich, aber drei Tage später wird die weiße Taube wiederauferstehen. Der Querschnitt einer Frau im Koma legt das Leben frei. Der Längsschnitt der Frau im Koma verdeckt die Freudentränen. Der Querschnitt des Schwarzen Meeres in der Tiefe, zu der kein Licht vordringt, legt Schwärme fluoreszierender Quallen frei. Ein Längsschnitt des Schwarzen Meeres ist nicht möglich.»

Zur Autorin

Melinda Nadj Abonji ist eine der wichtigsten Stimmen der Schweizer Gegenwartsliteratur. Im Jahr 2010 wurde sie für ihren Roman «Tauben fliegen auf» mit dem Deutschen Buchpreis und dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. Der Roman erzählt vom «Gastarbeiter»-Leben in der Schweiz und von einer Sommerreise in die heute serbische Vojvodina, die in atmosphärisch dichten Schilderungen die Vorboten der Jugoslawienkriege spürbar werden lässt.

2017 erschien ihr Roman «Schildkrötensoldat», der mit dem Schillerpreis der Zürcher Kantonalbank ausgezeichnet wurde. Das Werk erzählt die Geschichte von Zoltán Kertész, einem Jungen aus der Vojvodina, der «nicht ganz richtig im Kopf» ist, sich auf seine Weise aber dem Krieg und der gesellschaftlichen Ordnung verweigert. Und von seiner Cousine Hanna, die zwar depressiv und mit Medikamenten sediert ist, aber Zoltán – und der Literatur – die Treue hält.

Die Zürcher Poetikvorlesungen finden seit 1996 statt und wurden von Schriftstellerinnen wie Herta Müller, Brigitte Kronauer, Lukas Bärfuss oder Durs Grünbein gehalten. Sie werden begleitet von den ebenfalls öffentlichen Werkstattgesprächen. Die Republik publiziert die Manuskripte der drei diesjährigen Poetikvorlesungen von Melinda Nadj Abonji in leicht gekürzter Form.

Zürcher Poetikvorlesungen mit Melinda Nadj Abonji

Im Literaturhaus Zürich begann am 8. November die dreiteilige Reihe der Poetikvorlesungen. Auf Teil I, «Zu Ohren kommen», folgte am 15. November Teil II: «Aus einem Hund wird kein Speck». Teil III, «Worte, nach Luft schnappend», beschloss gestern die Reihe.

Die Poetikvorlesungen werden in Kooperation mit dem Deutschen Seminar der Universität Zürich durchgeführt. Jeweils am Freitag nach den Veranstaltungen im Literaturhaus findet von 10.15 bis 12 Uhr am Deutschen Seminar (Schönberggasse 9, 8001 Zürich) ein Kolloquium statt, in dem Melinda Nadj Abonji mit Studierenden und Interessierten über ihre Texte spricht. Auch diese Kolloquien sind öffentlich.

Dunkelkammer

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Worte, nach Luft schnappend