Strassberg

Ökonomische Grausamkeit

Unser Autor fühlt sich als Liberaler, wählt aber meistens Linke. Warum eigentlich? Eine Antwort findet er bei John Locke.

Von Daniel Strassberg, 20.11.2018

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Ich gebe zu: Ich bezeichne mich nicht gerne als Sozialisten. Obwohl ich meistens Sozialisten wähle und mit ihnen abstimme, widerstrebt mir vieles an ihren Theorien. Zum Beispiel der Geschichtsdeterminismus – wer weiss schon, was die Zukunft bringt? Oder die Idee eines falschen Bewusstseins – wer weiss schon, was man denken soll? Das ist im besten Fall anmassend, im schlimmsten gewalttätig.

Ich wäre lieber ein Liberaler. Ich möchte in einer Gesellschaft leben, in der die unterschiedlichsten Lebensentwürfe möglich sind und nicht der beste gefördert wird. Doch das Label liberal ist schon seit längerem von der anderen Seite okkupiert. Es stellt sich also die Frage, ob und wie die Linke den Liberalismus zurückerobern kann.

Ich will mal einen Versuch machen.

Historisch gründet der Liberalismus im Habeas-corpus-Gesetz. König Charles I. (1600–1649) pflegte die Staatskasse aufzupolieren, indem er seine Untertanen willkürlich verhaften liess, um von den Angehörigen Lösegeld zu erpressen. Das Parlament erliess darauf ein Gesetz gegen willkürliche Verhaftungen und begründete dies mit dem unveräusserlichen Recht jedes Menschen auf seinen eigenen Körper – habeas corpus eben.

John Locke (1632–1704) dehnte dieses Prinzip dann auf das Eigentum aus: Obwohl die Erde und alle niederen Lebewesen allen Menschen gemeinsam gehören, so hat doch jeder Mensch das Eigentum an seiner eigenen Person. Auf diese hat niemand ein Recht als nur er allein. Die Arbeit seines Körpers und das Werk seiner Hände sind, so können wir sagen, im eigentlichen Sinne sein Eigentum.

Auch was der Körper erschafft, seiner Hände Arbeit also, gehört gewissermassen zu diesem Körper, meinte Locke, und deshalb sei auch Eigentum unantastbar. Er erfand damit die liberale Definition von Freiheit: den Schutz des Einzelnen und seines Eigentums vor staatlichen Übergriffen.

Wie Lockes Freiheitsbegriff pervertiert wurde

Die liberale Philosophin Judith Shklar buchstabiert dies für unsere Zeit aus: Der Kern des liberalen Projekts sei der Schutz des Einzelnen vor Grausamkeit. Im Grunde sehr sympathisch, kann man sagen, wer wollte da widersprechen. Wo also liegt der Haken?

Im liberalen Universum gibt es nur zwei Akteure: den Einzelnen und den Staat. Die Grausamkeit geht deshalb im liberalen Universum immer vom Staat aus und trifft das Individuum. Hält man sich die Grausamkeit von Folter, Krieg oder staatlicher Willkür vor Augen, kann man das Bestreben, dieser Art der Grausamkeit Einhalt zu gebieten, nur gutheissen. Aber es gibt nicht nur Staat und Individuum, es gibt auch eine Gesellschaft, die das Zusammenleben der Menschen organisiert, und das heisst: die Verteilung von Macht und Ressourcen.

Die neoliberale Ideologie hat Lockes Freiheitsbegriff gekapert und pervertiert. Er dient nun der Legitimation von Willkür und Unterdrückung, indem bis ins Groteske konsequent alle anderen Machtzentren als der Staat geleugnet werden. Als gäbe es keine Macht der Grossfirmen, in das Leben des Einzelnen einzugreifen und ihn herumzukommandieren. Bis hin zu festgelegten Toilettenzeiten. Dies scheint den Freiheitsvorstellungen der heutigen Liberalen nicht zu widersprechen. Unvergesslich dazu Margaret Thatchers Ausspruch «There is no such thing as society» – so etwas wie eine Gesellschaft gibt es nicht.

Auf der anderen Seite dehnte der neue Liberalismus die Habeas-corpus-Idee ins Unendliche aus: Nicht nur ihr Körper gehört zur Person, nicht nur die Früchte ihrer Arbeit; sondern die Freiheitsrechte umfassen alles, was auf irgendeine Weise in den Besitz der Person gelangt ist. Auch durch Ausbeutung anderer Personen, auch durch den Übergriff auf deren Hände Arbeit.

Die neoliberale Gemeinde beruft sich zu Unrecht auf Locke. Locke kämpfte gegen die Mächtigen seiner Zeit, er kämpfte gegen Willkür und Unterdrückung durch verkrustete und ungerechte Strukturen. Er kämpfte für die Unantastbarkeit der menschlichen Würde.

Unsere Liberalen hingegen stellen Locke auf den Kopf und schützen mit seiner Hilfe Willkür und Unterdrückung. So liest man beim liberalen Vordenker Friedrich August von Hayek diese gruseligen Sätze:

«Ich bin überzeugt, dass ‹soziale Gerechtigkeit› letztlich als ein Irrlicht erkannt werden wird, das Menschen verführt hat, viele der Werte aufzugeben [gemeint ist die Freiheit; D. S.], die in der Vergangenheit die Entwicklung der Zivilisation angeregt haben.»

Marx hätte gegen den lockeschen Eigentumsbegriff nichts einzuwenden gehabt. Natürlich darf jede behalten, was sie erarbeitet. Wenn er gegen das Privateigentum ins Feld zieht, dann deshalb, um gegen die Ausdehnung der Freiheitsrechte auf das Kapital zu protestieren. Es kann nicht sein, dass das Recht auf den eigenen Körper auch das Recht einschliesst, andere Körper zu knechten. Eine Freiheit, die sich nicht an konkreter Unfreiheit und an realer Unterdrückung bemisst, wird hohl und leer, glaubte Marx. Sie dient nur noch der ideologischen Verbrämung der Gewalt, die von gesellschaftlichen, konkret: von ökonomischen Verhältnissen ausgeht.

Armut, Hunger und Ausbeutung sind fraglos Formen der Grausamkeit, doch sie gehen nicht vom Staat aus. Vielmehr kann nur der Staat vor ihnen schützen – wenn er nicht in der Geiselhaft neoliberaler Ideologie ist. Wer nicht am gesellschaftlichen Leben teilnehmen kann, wer keinen Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung hat, wer mit seinem Ersparten Banken retten muss, ist ein Opfer ökonomischer Grausamkeit. Doch die Geschichte hat die Protagonisten im Laufe der Zeit unmerklich die Seiten wechseln lassen. Die Jünger Lockes argumentieren heute so, wie König Charles I. im 17. Jahrhundert: Willkür und Grausamkeit sind durch eine höhere Macht gerechtfertigt. Nur heisst sie heute nicht mehr Gott, sondern Markt.

Illustration: Michela Buttignol

Zum Autor

Daniel Strassberg ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychoanalytiker und promovierter Philosoph. Er ist Autor zahlreicher Publikationen im Bereich der Psychoanalyse und der Philosophie. 2014 veröffentlichte er «Der Wahnsinn der Philosophie. Verrückte Vernunft von Platon bis Deleuze». Strassberg gehört zu den Gründern des Wissenschaftler-Netzwerks Entresol und betreibt in Zürich eine psychoanalytische Praxis.

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