Die Augen weit geöffnet, die Gesten unkontrolliert: Schaulustige im New York der 1950er-Jahre. Weegee (Arthur Fellig)/International Center of Photography/Getty Images

«Und blöde starr ich so hin»

Vor unseren Augen findet das Unglück statt. Es fesselt uns. Hinschauen oder wegschauen? Eine kleine Phänomenologie des Gaffens.

Von Andreas Nentwich, 09.11.2018

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Wenn oben auf dem Galgenberg ein Mörder gehenkt wird oder auf dem Marktplatz einer geköpft, pilgert die halbe Stadt zur Richtstätte. Dass bei uns keine Hinrichtungen mehr stattfinden, ändert nichts am Hingehen. Nur ist es jetzt eben die Massenkarambolage auf der Autobahn, die Kreuzung, wo die Notarztwagen blinken, der Grosseinsatz der Feuerwehr.

Manche nehmen eine Anreise in Kauf, buchen ein Zimmer mit Frühstück, um mit eigenen Augen zu sehen, wie ein umgekipptes Kreuzfahrtschiff mit einer unbekannten Zahl von Leichen im Bauch in Wirklichkeit aussieht. Ob bei dem Haus des Frauenzerstücklerpärchens etwas zu sehen ist. Oder ob der Tsunami wirklich so gewütet hat, wie die Fernsehbilder behaupten.

Katastrophentourismus heisst das Fachwort dafür. Wie gut, dass wir nicht sind wie die!

Der Hund hetzt den Hasen

Wir sind aber wie die. Zumindest die meisten von uns, und ausserdem wir alle von Natur aus.

«Wie ein Hund einen Hasen hetzt, das schaue ich mir im Zirkus nicht mehr an, aber wenn ich es zufällig im Vorbeikommen auf offenem Feld sehe, so fesselt mich ein solches Jagen, es bringt mich vielleicht aus einem wichtigen Gedankengang, und zwingt es mich auch nicht, den Weg, den mein Reittier mich trägt, zu verlassen, so doch die Richtung meines Herzens; und blöde starr ich so hin.»

So formuliert es, unter dem Stichwort «Wissensgier», im 4. Jahrhundert Augustinus im zehnten Buch seiner «Bekenntnisse» – stellvertretend für uns feiner Organisierte, die süssen Lohn aus Versagung und Triebverzicht generieren können und nur noch wegschauend hinschauen.

Ferienziel umgekippter Luxusdampfer: Mit dem Feldstecher kommt man der verunglückten Costa Concordia noch näher. Marco Bertorello/AFP

Geboren aber sind wir, um anzustarren, was von unserer Erfahrung abweicht, mit offenem Mund, einem selbstvergessenen Finger in der Nase und blödem Gesicht. Gaffen heisst, im Mittelhochdeutschen jedenfalls noch, dass man das Maul weit aufreisst und dabei glotzt. Vor Staunen den Mund nicht mehr zukriegt. Das können wir an Kindern und an solchen studieren, die Kinder geblieben sind. Ein Bagger schaufelt, ein Hund jagt einen Ball, ein beeinträchtigter Mensch sieht seltsam aus, zwei Autos krachen zusammen – das Kind hält Maulaffen feil, um noch einen anderen Ausdruck für das zum Schauen bestellte Wesen des Menschen einzuführen.

Eine Situation scheint uns umso mehr zu bannen, je mehr sie unseren Erfahrungshorizont sprengt und uns überfordert. Vor dem noch nie Gesehenen werden wir, bevor noch unsere Erziehung greifen kann, zu Kindern.

Alles soll wieder gut werden

Sieht ein Vorschulkind einen Krankenwagen mit geöffneter Ladefläche, möchte es dazu eine komplette Geschichte hören. An zarten Tagen darf es nur ein Fast-nichts sein, ein Bilderbuchaquarell von Stolpern, Hinfallen, Aua-Aua und, zur Kontrolle, dass nichts gebrochen ist, ins-Spital-gefahren-Werden.

Aber manchmal ist der Blutdurst gross, die Lust des Kindes, sich dem kosmisch schwarzen Dahinter des Lebens zu nähern, von dem es allenfalls die Ahnung ahnt. Dann kann der Unfall nicht schwer genug sein. Es muss zeitraubend mit Spritzen und Verbänden hantiert werden, zum Schluss aber muss eine komplette Heilung erfolgen. Offenbar muss der schlimmstmögliche Fall ausgemalt, der Schauder ganz durchlebt werden, zum Beweis, dass im Prinzip alles wieder gut werden kann. Immer würde das Kind am liebsten stehen bleiben, bis klar ist, dass alles wieder gut wird.

Aber man zieht es fort.

Unser entstelltes Ebenbild

Ist der Anblick, der sich bietet, ein schrecklicher, müssen die einen wegschauen, die anderen weg- und dann doch hinschauen. Wieder andere starren gelähmt. Alle sind im Bann des Furchtbaren. Den furchtbaren Anblick schlechthin bieten Menschen, die verletzt, entstellt oder soeben vom Leben in den Tod geschleudert worden sind.

Er jagt uns das Entsetzen darüber in die Netzhaut, wie zerbrechlich und mit Blut angefüllt wir sind und dass uns nur ein winziger Zufall vor dem gleichen Schicksal bewahrt hat. Eine todkranke Freundin beschrieb mir einmal, wie sie jeden Morgen aufs Neue vom Blitz der Diagnose durchschlagen wurde: «Ich wache morgens auf, als wäre nichts. Und dann fällt es mir ein. Es ist jedes Mal, als ob dir die Handtasche weggerissen wird.»

Das Entsetzen, nein: das Anknallen des Todes ist ein absolutes Gefühl wie die Lust, der Zorn und die Freude. Wir wollen sehen, wir müssen kurz sehen, zumindest schnell aus den Augenwinkeln, was wir am meisten zu sehen fürchten, nämlich, dass das Leben an einem seidenen Faden hängt, und zum Beweis sackt unser ganzes Blut nach unten.

Den Schock teilen

Vor einigen Jahren sass ich mit einem Journalistenkollegen im Taxi. Wir unterhielten uns angeregt. Plötzlich sah ich, wie ein seltsam unförmiger, wie aufgepumpt wirkender älterer Mensch, Mann oder Frau – ein Wesen –, durch die Luft flog, auf die Fahrbahn fiel und dort mit allen Gliedern zuckte. Aus dem Lastauto, das die Person offensichtlich angefahren hatte, sprang der Fahrer, gestikulierte, er muss geschrien haben im Schock.

Ich sah das alles in einem Moment, kann nicht mehr sagen, ob wir uns von dem Geschehen entfernten oder darauf zufuhren. Der kurze «Film», noch heute überdeutlich vor meinen Augen, fiel aus Zeit und Raum. Was der Taxifahrer sagte, habe ich vergessen, es kann nicht viel gewesen sein. Mein Kollege hatte nicht das Geringste mitbekommen.

Gebannt vom Bösen: Menschen im New York der 1940er-Jahre an einer Stelle, an der ein Mord geschehen war. Weegee (Arthur Fellig)/International Center of Photography/Getty Images

Was war passiert – mit mir, dem Zuschauer? Das Erlebnis löste ein Grundgefühl der Verunsicherung aus, einer Gefährdung «mitten im Leben», das noch lange anhielt. Am meisten beschäftigte mich im Nachhinein die Frage, ob die Verletzungen des Menschen schwerwiegend waren oder nicht. Die unbekannte Person war mein Nächster in diesem Moment, ein Stellvertreter, fast zwanghaft musste ich mir vorstellen, wie es ist, so durch die Luft geschleudert zu werden und aufzuschlagen.

Vielleicht wäre das ein Grund gewesen zu gaffen, wenn ich die Chance dazu gehabt hätte. Ich hätte gegafft, um zu sehen, dass noch zu helfen ist, und um den Schock mit anderen teilen zu können, denn dass der Taxifahrer unterreagierte und mein Mitfahrer nichts bemerkt hatte, liess mich noch mehr allein mit dem Unglaublichen, das ich gerade gesehen hatte, als wenn ich allein gewesen wäre.

Die Schaulust und das Gewissen

Zu den übelsten Figuren in dem an Unsympathen wahrlich nicht armen und selbst ja sadistischen Kosmos des Zeichners Wilhelm Busch gehört der alte Kaspar Schlich, ein feixender Spiessbürger, der überall auftaucht, wo andere Pech haben, um sich an ihrem Unglück zu weiden: «‹Ist fatal›, bemerkte Schlich. ‹Hehe! Aber nicht für mich!›» Aber Schlich ist eher der üble Nachbar mit dem Feldstecher als der Katastrophen- oder Unfallgaffer, selbst wenn wir uns ihn auch dort, unter den Schaulustigen, vorstellen dürfen.

Die Psychologen sagen, dass es Schaulustige eigentlich nur in der Mehrzahl gibt. Erst die Anwesenheit vieler gibt dem Einzelnen die Möglichkeit zur Passivität. Die Verantwortung wird – unbewusst – von einem zum anderen geschoben. Das ist der Non-helping-bystander-Effekt. Zwischen «sozialer Lähmung» und «Verantwortungsdiffusion», so die weiteren Fachbegriffe, verbirgt die Untätigkeit ihr Haupt. Wäre der Gaffer allein, wäre er keiner, sondern würde viel eher einem Impuls folgen, der ebenso sehr zum Menschen gehört wie die Schaulust: Er würde versuchen zu helfen.

Wie aber steht es mit dem Gewissen der Schaulustigen? Schaulustige rechtfertigen ihr Tun oder vielmehr Nichtstun über das, womit die Gratisblättchen ihre Abgefeimtheit moralisch legitimieren. (Ohne Moral geht in den Medien immer noch nichts.) Das Wörtchen ist «Information» und bedeutet das Gleiche wie die «Wissensgier» des Augustinus.

Exkurs: Im Biotop der Gaffer

Unnützes, quer zum Erkenntnisgewinn liegendes Wissen war immer der soziale Schmierstoff. Aber früher, im Analogzeitalter, gab es eine klare, von allen für unüberwindbar gehaltene Hierarchie zwischen den Belehrungsformaten der Deutungseliten und den Meinungsbildungsquellen der Unwissenden. Wer seine Weltsicht aus Boulevardblättern bezog, musste sich von Zeit zu Zeit gegen deren Übertreibungen aussprechen oder auf die eigenen Grenzen als «eben nicht so gebildeter Mensch» verweisen, um gesellschaftlichen Erwartungen zu genügen.

Heute muss der nicht so gebildete Mensch seine gekränkte Wut nicht länger in schief lächelndes Verstummen packen. Der Zeitgeist weht von rechts, und der kleine Mann nimmt Rache am sorglosen Hochmut der progressiven Eliten, dieser fremden Richter über seine Weltsicht. Vorbei die Zeiten, in denen er sich durch die Spielverderberspiele der im Sinkflug begriffenen linksbürgerlichen Aufklärung zum Verstummen bringen liess, durch Kulturkompetenz und Mahnertum und all die Duftmarken feiner Distinktion, zu denen auch das wegschauende Hinschauen gehört, wenn die Sau durchs Dorf getrieben wird und der Hund den Hasen hetzt.

Jetzt wird draufgehalten, wenn der Hund den Hasen hetzt, vom Herzen weg in Richtung Informiertsein. Aggressiv pocht das unnütze Wissen, das aufwiegelnde wie das abwiegelnde, der Influencer-Bullshit wie die Grusel-Apokalyptik, auf Relevanz. Die egalitäre Kommentarfunktion auf allen Onlineseiten liefert jedes Infohäppchen der Wut des sofortigen Meinens aus.

Was die meisten erregt, wird am meisten geteilt. Was sich durch Teilung vermehrt, ist in seiner erregten Vielstimmigkeit bald einem kollektiven Erfahrungsschatz zum Verwechseln ähnlich. Bei all dem beruft sich die Kommentargemeinde, wie zerstritten sie in sich auch sei, auf eine gesunde Menschenvernunft, der Statistik, Hintergrund, reale Missbrauchs- oder Migrationszahlen ideologisch verdächtig sind, bestenfalls realitätsfremd erscheinen. Kurz sind die Wege vom Hash-Tag zum Hass-Tag. Schlimmstenfalls nennen sie Lüge, was einmal Anstand hiess.

Informiertheit und der Sinn des Lebens

Die Verbreitung des neuen Relevanten über soziale Medien und die Eintagspresse ist zu einem breit akzeptierten Gaffgrund geworden. Der «Leserreporter» ist der homo novus der informierten Gesellschaft.

Wo ist die beste Sicht? New York City, nach dem Terroranschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001. Andreas Herzau/Laif/Keystone

Mit dem vorgehaltenen Smartphone distanziert er sich vom Blut- und Knochenbrei: Reflexionsabstand ohne schweres Denken. Informiertheit. So schleicht sich vereinzelt, dann in Gruppen das Entsetzen aus der Schockgemeinschaft der Gaffer heraus – und mit ihm die Empathie.

Vielleicht erklärt sich so die Zunahme von Tätlichkeiten gegen Einsatzkräfte: Lebensretter werden zur Störung im Bild, wie Leute, die sich mitten in der coolsten Szene vor die Kinoleinwand stellen.

Vor bald einem halben Jahrhundert präfigurierte Elias Canetti den Zeitgeistmenschen, der sich ums Leben knipst, in einer treffenden Miniatur mit dem Titel «Der Blinde» (in «Der Ohrenzeuge», 1974):

«Der Blinde erspart sich die Anstrengung, etwas vorher gesehen zu haben. Er sammelt, was er gesehen hätte, und stapelt es auf und freut sich daran, als wären es Briefmarken. Um der Kamera willen bereist er die Welt (…). Der Blinde glaubt nichts, was nicht aufgenommen wurde. Leute schwatzen und prahlen und reden daher, sein Motto ist: heraus mit den Fotos! Da weiss man, was einer wirklich gesehen hat, da hält man’s fest in der Hand, da kann man den Finger drauflegen, da kann man auch ruhig die Augen öffnen, statt sie sinnlos vorher schon zu vergeuden. Alles im Leben hat seine Zeit, zuviel ist zuviel, das Sehen erspare man sich für Fotos.»

Seit Elias Canetti haben die Fotos laufen gelernt, und der Blinde führt eine grosse Gemeinde von Followern an. «Ich wollte es mit eigenen Augen sehen. Ich bin absolut sprachlos. Ich fasse es nicht, wie gross es ist, es ist ein schrecklicher Anblick»: Das sagte ein Tourist, der auf die Insel Giglio gereist war, um sich das Wrack des havarierten Kreuzfahrtschiffs Costa Concordia (wer erinnert sich noch?) anzusehen.

Das sagen alle überall, wo etwas Grosses passiert ist. Es ist die dem möglichen Auftritt vor Kameras und im Zitatbalken in Gratisblättern bereits angepasste Sprachlosigkeit, von der der Mund überläuft. Der vernetzte Mensch beamt sich durch die Touchscreenoberfläche, um zu spüren, dass etwas, was ihm die Medien ins Haus geliefert haben, wirklich wirklich ist, in echt und unwiderruflich passiert.

Live vor Ort, sofern nicht eine Kamera auf ihn selbst gerichtet ist und er dem archaischen Ergebenheitsreflex gegenüber den Promis aus dem Fernsehen folgt, schreit er seine Stummheit in Superlativen. Dabei macht er feixend Selfies – das ist wirklich passiert, und da bin ich! –, wird sich zur Sensation als Gaffer seiner selbst.

Zum Autor

Andreas Nentwich ist freier Publizist und lebt in Zürich. 2012 erschien von ihm im Deutschen Kunstverlag «Alfred Polgar. Leben in Bildern». Zurzeit arbeitet er an einem Buch über moderne Sakralarchitektur in der Schweiz, das im Herbst 2019 erscheinen soll.

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