Preis der Republik

Politisches Stretching

Flexibilität ist eine verkannte Qualität in der Politik – zu Unrecht. Wir zollen einer Frau Respekt, die beweist, dass unterschiedliche Standpunkte auch gleichzeitig vertreten werden können.

08.11.2018

Teilen
Politisches Stretching
0:00 / 5:08

Journalismus, der Ihnen hilft, Entscheidungen zu treffen. Und der das Gemeinsame stärkt: die Freiheit, den Rechtsstaat, die Demokratie. Lernen Sie uns jetzt 21 Tage lang kostenlos und unverbindlich kennen:

Sehr geehrte Preisträgerin

Sehr geehrte Damen und Herren

Sehr geehrte Verlegerinnen und Verleger

«Bei mir weiss man, woran man ist»: Diesen Satz sagen Sie, Frau Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter, über sich. Er stammt aus einem Porträt in der «Tageswoche». Das ist die Zeitung aus der Region Basel, von der wir uns diesen Monat verabschieden müssen.

Verabschieden müssen wir uns vielleicht auch von Ihnen als Nationalrätin. In dem Fall, in dem Sie, Frau Schneider-Schneiter, Bundesrätin werden. Denn Sie gehören zu den Kandidatinnen, die Doris Leuthard beerben wollen. Und Sie lassen nichts unversucht, Ihre Chancen auf eine Wahl zu erhöhen.

Bei Ihnen, Frau Nationalrätin, weiss man tatsächlich, woran man ist: nämlich mal da, mal dort. Bitte verstehen Sie das keinesfalls als Kritik. Es ist tief empfundene Anerkennung. Nichts steht symbolhafter für Ihre politische Linie als Ihr Doppelname. Hier das weiche «d» der Mittepolitikerin in «Schneider». Dort das harte «t» in Schneiter, das nach rechts schielt. Das auch mal der SVP zuzwinkert.

Zwischen diesen Polen, dem «d» und dem «t», mäandrieren Sie gekonnt, Frau Bundesratskandidatin, und Sie pflegen damit einen dermassen flexiblen Politstil, dass Ihnen dafür der Preis der Republik gebührt.

Und zwar nicht deshalb, weil Sie für die Aufhebung der Sanktionen gegen das Putin-Regime plädierten – nachdem die Welt entsetzt Zeugin davon geworden war, wie der russische Geheimdienst in Grossbritannien Giftanschläge verübt hat.

Nein, sondern für Ihre Haltung beim Uno-Migrationspakt. Er ist – im Wesentlichen – die Niederschrift der Schweizer Migrationspolitik in Form eines unverbindlichen internationalen Vertrags. Als Präsidentin der Aussenpolitischen Kommission haben Sie, Frau Nationalrätin, ihn sicher gelesen. Und wissen, dass alles, was drinsteht, halb so wild ist. Kein Aufreger.

Aber Sie können eben nicht nur lesen, Sie können auch rechnen! Sie haben errechnet, dass Ihnen bei der Bundesratswahl die 74 Stimmen der SVP-Fraktion ganz gelegen kämen. Und Sie wussten: Die SVP schiesst volles Rohr gegen den Migrationspakt. Also haben Sie sich gefragt, wie Sie sich so biegen können, dass Ihr «d» und Ihr «t» beide profitieren.

Die Lösung: Sie sind nicht so richtig für den Uno-Migrationspakt. Sie haben also eine ambivalente Haltung kreiert und diese medienwirksam kommuniziert. Obwohl Sie als Juristin wissen, dass das Mumpitz ist, haben Sie einen Vorbehalt aufs Tapet gebracht: Die Schweiz soll in einem Punkt ein «Ja, aber» anbringen. Dort, wo der Pakt sich nicht mit Schweizer Landesrecht deckt.

Eine wunderbare Idee! Das Volk erkennt: Die Frau steht für unsere Souveränität ein. Die würde sich auch im Bundesrat nicht von fremden Mächten die Traktanden diktieren lassen.

Bei der besagten Abweichung zwischen unserem Recht und dem Uno-Pakt geht es lediglich um die folgende Frage: Soll man Kinder in Ausschaffungshaft setzen dürfen? Die Schweiz meint: Ja! Gefängnis bitte auch für Minderjährige. Theoretisch zumindest. Praktisch versucht man das zu vermeiden. Der Uno-Vertrag meint: Nein! Ausschaffungshaft ist nur etwas für Erwachsene.

Wir sind überzeugt, Frau Schneider-Schneiter, dass Sie persönlich keine Kinder einsperren wollen. Aber wichtig ist, dass Sie den rechten Kräften ein Signal gesendet haben: Eure Polemisierung, eure Hetze gegen den Schweizer Uno-Botschafter, der das Vertragswerk mit ausgehandelt hat – das alles ist okay. So gehen wir in der Schweiz mit Menschen um. Wir diffamieren sie, wir brandmarken sie als Verräter!

Solange es uns nützt.

Der Nutzen in Ihrem Fall, Frau Bundesratskandidatin, ist ein rein mathematischer. Es geht darum, ob sie am 5. Dezember genügend Stimmen erhalten. Damit Sie künftig Ihre politische Flexibilität als Mitglied der Landesregierung unter Beweis stellen können. So, wie Sie das diese Woche getan haben, als Sie sich bei der Abstimmung in der Aussenpolitischen Kommission wieder für den Pakt ausgesprochen haben – ohne Vorbehalt. (Wir können auch rechnen.)

Wir wünschen Ihnen, Frau Schneider-Schneiter, dass Sie auch weiterhin Spagate und Pirouetten von solcher Eleganz hinlegen. Egal, in welcher Rolle wir, die Bevölkerung, künftig von Ihrer politischen Flexibilität profitieren dürfen.

Besten Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Illustration: Doug Chayka

Der Preis der Republik

Er wird jede Woche am Donnerstag verliehen. Für jede Sorte von Leistung. Die miserable. Die mittelmässige. Und natürlich auch die hervorragende. Niemand soll von seinem Erhalt ausgeschlossen werden, niemand verschont bleiben. Über seine Vergabe entscheidet ebenso kompetent wie willkürlich eine anonyme Jury.

Rund 27’000 Menschen machen die Republik heute schon möglich. Lernen Sie uns jetzt auch kennen – 21 Tage lang, kostenlos und unverbindlich: