Gift und Galle

Meine Hassliebe für den Finanzmarkt

Von Simon Schmid, 01.11.2018

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Ich liebe sie, ich liebe sie nicht.
Ich liebe sie, ich liebe sie …
… wieder mal nicht: die Märkte.

Und die Jubelsprünge, die sie gemacht haben, als in Brasilien der Rechtspopulist Jair Bolsonaro zum Präsidenten gewählt wurde.

Plus 3 Prozent übers Wahlwochenende, plus 15 Prozent seit September. Ja sind die Finanzmärkte denn komplett übergeschnappt? Haben sie keine Vorstellung davon, was es für ein Land bedeuten kann, wenn ein Präsident sich offen als Faschist zu erkennen gibt und der Opposition mit physischer Gewalt droht?

Wir haben gesehen, was mit der Türkei passiert ist, seit Recep Tayyip Erdogan versucht, alles gleichzuschalten, Parteien, Presse, Firmen: Die Freiheit leidet, die Wirtschaft auch. Sehen das die Märkte nicht ein?

Zugegeben, im Fall der Türkei haben es die Händler dann doch irgendwann gecheckt. Und die Lira auf Talfahrt geschickt: 60 Prozent hat sie dieses Jahr verloren. Ein Überschiessen, aber okay, immerhin scheinen die Leute, die am Finanzmarkt agieren, doch über ein Quäntchen Verstand zu verfügen.

Und Italien – ha! Wie haben die Finanzmärkte da erst ausgeschlagen, als die Populistenkoalition der Lega und der Cinque Stelle ihr überrissenes Budget vorgestellt hat. Vorbildlich! Fast 75 Basispunkte ist die Differenz der italienischen gegenüber den deutschen Anleihenrenditen im Oktober hochgeschossen, der sogenannte «Spread». Matteo Salvini, Italiens grossmauliger Vize-Ministerpräsident, kriegt wegen ihm bereits Albträume.

Manchmal liebe ich sie doch, die Finanzmärkte.

Muss ich ja fast, als Ökonom. Märkte sind ein probates Mittel, um Ressourcen optimal einzusetzen, lernt man im Studium. Das gilt für Güter und auch für Geld. Natürlich darf man Märkte nicht verabsolutieren: Sie müssen sinnvoll reguliert und von guten Institutionen umgeben sein. Märkte ersetzen den Staat nicht, es braucht Einrichtungen wie die Umverteilung.

Die Marktwirtschaft ist die beste aller schlechten Wirtschaftsformen, würde eine Politologin vielleicht sagen. Aber hey: Deswegen den Markt als Prinzip abzulehnen – das wäre ungefähr so falsch, wie das Prinzip der Demokratie abzulehnen, nur weil manchmal Demagogen zu Präsidenten gewählt werden.

Stichwort Demagogen. Was war das damals 2016 für ein Trauerspiel, als Donald Trump Präsident wurde. Plus 4 Prozent über die Wahlwoche, und danach ein monatelanger Börsensteigflug. Wie absurd! Als ob Trumps Steuersenkungen und seine Chinazölle irgendetwas zur Gesundung des Rostgürtels beitragen würden. Als ob es den Menschen dort tatsächlich helfen würde, wenn Kohlekraftwerke wieder ungefilterten Dreck in die Atmosphäre pusten!

Nun gut, inzwischen ist die Stimmung auch wieder gekippt. Und die Börsen haben ihre ganzen Gewinne von 2018 wieder preisgegeben. Der Handelskrieg, die trumpsche Defizitwirtschaft: Selbst jene Leute hier in der Schweiz, die vor zwei Jahren noch jubelten, sehen die Sache inzwischen realistischer.

Wie lange sie wohl brauchen werden, um einzusehen, dass auch Bolsonaro kein liberaler Heilsbringer ist? «Ich verstehe nichts von Wirtschaft», hat er mehrfach gesagt. Hat das irgendwer an der Börse überhaupt registriert?

Ich hasse die Märkte.

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