Theater

Das Weinen der Lämmer

«Lam Gods» in Gent

Als neuer Chef des Stadttheaters von Gent holt Milo Rau die Mutter eines IS-Kämpfers und das Video einer Schlachtung auf die Bühne. Gehört so was ins Theater?

Von Barbara Villiger Heilig, 03.10.2018

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Auf der Bühne wird ein Schaf geschoren, in der Videoeinspielung eines getötet, gehäutet, zerlegt. Michiel Devijver

Skandal! Ein Fernsehsender wusste es bereits vorher: In «Lam Gods», dem Stück, mit dem Milo Rau seine Intendanz am NTGent eröffnen sollte, würden Sexszenen stattfinden – bei anwesenden Kindern. Am Morgen vor der Premiere verbreiteten sich die Fake News blitzartig im Netz.

Theater – eine soziale Baustelle

Der Gegenwart immer einen Schritt voraus, das passt zum Schweizer Regisseur, der im belgischen Gent das Stadttheater (offiziell: NT oder Nederlands Toneel, «niederländisch» steht hier für die Sprache) zum «Theater der Zukunft» umbaut. Momentan ist auch das Haus noch eine Baustelle. Ein Kran wetteifert mit dem Glockenturm auf der einen und der St.-Bavo-Kathedrale auf der anderen Platzseite um den Höhenrekord.

Obwohl die Renovation noch im Gang ist, setzte Rau Zeichen und startete statt in einer der zwei Nebenspielstätten im grossen Haupthaus. Dessen monatelange Schliessung hatte nebst anderem Missmanagement unter Raus Vorgänger Johan Simons zu vielen Abo-Kündigungen geführt. Milo Rau muss das Publikum nun zurückgewinnen. Dafür hat er einen Plan.

Ein Theater für die ganze Stadt mit ihrer multikulturellen Bevölkerung, ihren politischen Kontroversen, ihren sozialen Bruchstellen soll das NTGent werden. Deshalb lädt Rau Bürgerinnen und Bürger auf die Bühne ein.

Adam und Eva, ein Genter Paar, simulieren vor dem Altar eine Liebesszene. Michiel Devijver

Der Alltag als Altarbild

Seine Idee ist simpel und hintergründig zugleich: «Der Genter Altar», wie die performative Videoinstallation auf Deutsch heisst, ist ein Tableau vivant mit Menschen von heute. Es reproduziert den weltberühmten Flügelaltar der Brüder van Eyck aus dem 15. Jahrhundert, die Touristenattraktion in der benachbarten Kathedrale. Menschen von damals, so Raus Argument, hätten den Malern Modell gestanden für die abgebildeten Heiligen, Engel, Pilger und Würdenträger um das blutende Lamm Gottes. Aus gelebter Wirklichkeit Kunst machen, das ist auch die Ambition von Milo Rau. Löst er sie ein?

Er greift weit zurück in die Theaterhistorie. Mysterienspiele auf der Basis biblischer Erzählungen werden seit dem Mittelalter mit Laiendarstellern inszeniert. Wie «Das grosse Welttheater», das dieser Tradition entstammt, besteht «Lam Gods» aus vielen Geschichten: denjenigen der teilnehmenden Leute auf der Bühne, die einen Anknüpfungspunkt auf dem Altarbild finden.

Rames Abdullah, der unterwegs von Afghanistan nach Europa ein Kind über Bord gehen sah, wird zum neuen Christophorus. Chokri und Zouzou Ben Chikha, die den flämischen Pavillon bei der Weltausstellung in Dubai 2020 bespielen werden, sind die neuen Brüder van Eyck. Wim Claeys, der mit dem Kinderchor – den Engeln – Lieder im kaum noch gesprochenen Genter Dialekt eingeübt hat, erhält die Rolle Gottes, «des Dirigenten von allem».

Geburt und Tod

So wird die spirituelle Bildallegorie irdisch und alltäglich. Urbi et orbi, der Stadt und dem Erdkreis, widmet sich Raus «globaler Realismus» in der Theorie. In der Praxis ist «Lam Gods» alles andere als ein perfektes Theater­stück. Vieles darin wirkt sogar richtiggehend unbeholfen: Über­dimen­sio­nierte Videoaufnahmen führen uns etwa eine Unterwassergeburt oder eine Sterbepatientin vor, um das Leben von Anfang bis Ende sichtbar zu machen. Ins Theater gehört das nicht. Doch das ist Milo Rau egal – alles, was ihn interessiert, holt er auf die Bühne.

Gerade diese Unverfrorenheit verleiht seinem Projekt Charme. Und die Themen, die er anschneidet, verleihen dem Resultat nachhaltige Kraft.

Die Vertreibung aus dem Paradies

Zwei Profis, die Schauspielerin Chris Thys und der Schauspieler Frank Focketyn, führen durch den Abend. Eine Rahmenerzählung legt Genesis und Evolutionstheorie übereinander: Vom Urknall bis zum Homo sapiens, von Klimakatastrophen bis zum Verglühen der Sonne reicht der eine Bogen.

Der andere: Adam und Eva, ein Genter Paar, ziehen sich zu Beginn tatsächlich splitternackt aus und simulieren vor dem neugierig näherrückenden Kinder­chor eine Liebesszene, die so jugendfrei keusch wirkt wie im Aufklärungs­buch von anno dazumal – gerade gut genug für den erwähnten Shitstorm im Wasserglas. Doch Adam und Eva bekommen Konkurrenten.

Adam und Eva haben ihr Paradies für immer verloren: Nima Jebelli aus Iran und Andie Dushime aus Ruanda verliessen ihre Heimat in der Kindheit. Michiel Devijver

Denn am Schluss, wenn sich die Bühne bereits leert, reklamiert ein alter­natives Paar seinen Anspruch auf die Rollen. Nima Jebelli und Andie Dushime, er aus Iran, sie aus Ruanda, verliessen ihre Heimat in der Kindheit. Ihr Paradies bleibt für immer verloren. Paradies? Rau arbeitet mit schiefen, aber effektvollen Bezügen. Das Dilemma des Migranten bringt der iranische Adam auf den Punkt, wenn er sagt, die Leute in seinem Herkunftsland kämen ihm trotz der gemeinsamen Muttersprache vor «wie Aliens».

Morden, schlachten

Dem Miniskandal zur Eröffnungspremiere waren etliche andere Erregungen vorausgegangen. Am stärksten hatte ein öffentlicher Casting-Aufruf im letzten Frühling provoziert: Gesucht wurden Glaubenskämpfer aller Art – auch Rückkehrer aus dem Dschihad. Das war politisch sensibel, Rau krebste zurück, doch die Diskussion dauert an. Besseres kann er sich eigentlich nicht wünschen. Sein Theater ist im Gespräch.

Der IS kommt trotzdem auf die Bühne: Fatima Ezzarhouni erzählt von ihrem Ältesten, der mit 18 Jahren nach Syrien verschwand. Zurückgewinnen konnte sie ihn nicht. Jetzt engagiert sie sich für Deradikalisierungsprojekte, kandi­diert als Muslimin bei den Kommunalwahlen in Antwerpen für die christ­lich-demokratische Partei CD&V und spielt auf der Genter Theaterbühne Maria, «die auch Schwierigkeiten hatte mit ihrem Sohn».

Und das Lamm? Während der Schäfer Koen Everaert eins seiner fünf mitgebrachten Tiere schert, wird auf dem Videobildschirm gleichzeitig ein Schaf getötet, gehäutet, zerlegt. Wir sehen, wenn auch gefilmt, eine veritable Schlachtung, begleitet von fachmännischen, kein bisschen tröstlichen Kommentaren: Die Schafe hätten vor Angst stets Tränen in den Augen.

Das sitzt – wie so manches an diesem Abend. Er ist roh, bringt zusammen, was nicht zusammengehört, und trifft doch voll ins Schwarze. In Gent jeden­falls ging die Rechnung auf. Begeisterung, Rührung. Tosender Applaus.

Zehn Gebote

Ob die Rechnung auch in Stuttgart aufgeht, wo «Der Genter Altar» ohne jeden Lokalbezug gastieren soll, ist offen. Milo Rau und sein Team haben ein Zehn-Punkte-Manifest publik gemacht, das die Grundlagen ihrer Arbeit definiert. «Jede Inszenierung muss an mindestens zehn Orten in mindestens drei Ländern gezeigt werden. Vor Erfüllung dieser Zahl darf keine Produktion aus dem Repertoire des NTGent ausscheiden», lautet der letzte Punkt.

«Es geht nicht mehr nur darum, die Welt darzustellen. Es geht darum, sie zu verändern»: Milo Rau in Berlin. NT Gent

Mit seinem Genter Manifest will Rau den herkömmlichen Stadt­theater­betrieb umkrempeln. Zu teure Produktionen für zu wenige Zuschauer, kritisiert er nicht zu Unrecht. Das gesamte Regelwerk liest sich wie ein Angriff auf die bestehenden Strukturen. Eine Auswahl:

Klassiker werden neu erarbeitet, der Originaltext darf nur 20 Prozent der Spieldauer ausmachen. Mindestens zwei Mitspielende pro Produktion müssen Laien sein. Mindestens ein Viertel der Proben finden ausserhalb des Theaters statt. Recherchen, Besetzung und Proben sind dem Publikum zugänglich. Jede Produktion ist mindestens zwei­sprachig. Ausstattungs- und Bühnenmaterial muss auf einem Last­wagen transportiert werden können. Pro Spielzeit wird eine Produktion in einer Konfliktzone ohne kulturelle Infrastruktur geprobt.

Viele dieser Prinzipien hat Milo Rau in seinen bisherigen – freien – Produk­tionen umgesetzt. Sie mit dem Stadttheaterbetrieb zu vereinbaren, ist nun die steile Herausforderung. Eine Regiekollegin bemerkte, Rau lege sich damit Handschellen an. Er selbst hält das für notwendig. Und er ist nicht allein mit der Meinung, das Stadttheater könne Erneuerung gebrauchen. Jedenfalls reicht es nicht, Aischylos in modischen Kostümen aufzuführen.

Rau kann alle Punkte seines Manifests erklären. Sie ordnen sich grosso modo dem Gebot Nr. 1 unter: «Es geht nicht mehr nur darum, die Welt darzustellen. Es geht darum, sie zu verändern. Nicht die Darstellung des Realen ist das Ziel, sondern dass die Darstellung selbst real wird.»

Theaterprojekte des NTGent sollen also fortan eine Langzeitwirkung haben – wie bei Milo Raus «Kongo-Tribunal», nach dessen Durchführung zwei Minister zurücktraten. Oder, bescheidener, im Nordirak, wo Rau für «Empire», den letzten Teil seiner Europatrilogie, Kameraleute vor Ort ausbildete. Ins nordirakische Mosul kehrt Milo Rau demnächst zurück, um den dritten Teil seiner «Orestie» vorzubereiten. Premiere ist am 17. April 2019.

Bis dann bietet die neue Frau- und Mannschaft des NTGent ein Programm aus Neu- und Gastspielproduktionen an, das sich Diversität und Post­kolo­nia­lismus auf die Fahne schreibt, die menschliche Existenz und den politischen Exzess untersucht, erste und letzte Fragen stellt – sicher auch diejenige nach der Kunst. «Das grösste Kunstwerk ist die Natur»: Dieser Satz fällt in «Lam Gods» auf der Theaterbühne. Dass sie sich selbst abschaffen könnte, wie Kritiker von Milo Rau befürchten, ist schwer denkbar.

Dies ist ein Vimeo-Video. Wenn Sie das Video abspielen, kann Vimeo Sie tracken.
Het Manifest van Gent/ The Ghent Manifesto

Das Genter Manifest: Zehn Thesen für ein Theater des 21. Jahrhunderts

1. Es geht nicht mehr nur darum, die Welt darzustellen. Es geht darum, sie zu verändern. Nicht die Darstellung des Realen ist das Ziel, sondern dass die Darstellung selbst real wird.

2. Theater ist kein Produkt, es ist ein Produktionsvorgang. Recherche, Castings, Proben und damit verbundene Debatten müssen öffentlich zugänglich sein.

3. Die Autorschaft liegt vollumfänglich bei den an den Proben und der Vorstellung Beteiligten, was auch immer ihre Funktion sein mag – und bei niemandem sonst.

4. Die wörtliche Adaption von Klassikern auf der Bühne ist verboten. Wenn zu Probenbeginn ein Text – ob Buch, Film oder Theaterstück – vorliegt, darf dieser maximal zwanzig Prozent der Vorstellungsdauer ausmachen.

5. Mindestens ein Viertel der Probenzeit muss ausserhalb eines Theaterraums stattfinden. Als Theaterraum gilt jeder Raum, in dem jemals ein Stück geprobt oder aufgeführt worden ist.

6. In jeder Produktion müssen auf der Bühne mindestens zwei verschiedene Sprachen gesprochen werden.

7. Mindestens zwei der Darsteller, die auf der Bühne zu sehen sind, dürfen keine professionellen Schauspieler sein. Tiere zählen nicht, sind aber willkommen.

8. Das Gesamtvolumen des Bühnenbilds darf 20 Kubikmeter nicht überschreiten, das heisst eines Lieferwagens, der mit einem normalen Führerschein gefahren werden kann.

9. Mindestens eine Produktion pro Saison muss in einem Krisen- oder Kriegsgebiet ohne kulturelle Infrastruktur geprobt oder aufgeführt werden.

10. Jede Inszenierung muss an mindestens zehn Orten in mindestens drei Ländern gezeigt werden. Vor Erfüllung dieser Zahl darf keine Produktion aus dem Repertoire des NTGent ausscheiden.

Anmerkung der Redaktion:
Fatima Ezzarhouni, die muslimische Maria, will nach den ersten Aufführungen von
«Lam Gods» am NTGent nun doch nicht mehr mitmachen – sie sei dem Druck nicht gewachsen gewesen, den ihre Umgebung aufgrund der Nacktszenen auf sie ausgeübt habe. Das Soundfile bleibt – die Figur wird nun von ihrer Stimme vertreten.

Die Bücher zum Stück

Den Neustart des NTGent unter Milo Rau begleitet der Berliner Verbrecher Verlag mit einer neuen Reihe: Goldenes Buch/Golden Book. Die beiden ersten Bände sind bereits erschienen: «Lam Gods/The Ghent Altarpiece» (niederländisch/englisch) und «Globaler Realismus/Global Realism» (deutsch/englisch).

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