Theaterspektakel

Mutig, schön und unglaublich stark!

Von Barbara Villiger Heilig, 28.08.2018

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Die Wände sind dünn. Kindergeschrei, Geklimper von Strassenmusikanten und das unablässige Geplauder der Besucher auf der Landiwiese dringen von draussen herein. Stets spielt die umgebende Wirklichkeit mit, wenn man am Theaterspektakel in einer Aufführung sitzt.

Auf der Bühne der Spielstätte Süd steht eine junge Frau in Jeans und T-Shirt. Während der ganzen Aufführung wird sie kein Wort sagen. Dabei besteht «Mining Stories» aus Stimmen. Sie vergegenwärtigen die Katastrophe des Dammbruchs, der 2015 im Bergbaugebiet des brasilianischen Südostens mehrere Dörfer mit giftigem Schlamm zudeckte.

Zuerst hören wir die Flut: ein Rollen, ein Grollen, immer näher, immer bedrohlicher – und dazwischen die Rufe von Menschen. Übertönt, ausgeblendet die eben noch so gesellige Begleitung durch die grosse Sonntagabend-Party ringsherum. Das macht die Sache noch beängstigender.

Stopp. Stille.

In «Mining Stories» beginnt das Publikum, mit den Ohren zu sehen: Sylke Huysmans bedient die Sampler-Klaviatur. Christian Altorfer

Silke Huysmans, die Performerin, bedient mit dem Turnschuh eine Sampler-Klaviatur am Boden. So erteilt und entzieht sie den Leuten, die sie und ihr Duo-Partner Hannes Dereere interviewt haben, das Wort. Es sind manchmal bloss Satzfragmente, den mutmasslichen Kontext stellen wir selbst her. «Luc» oder «Lindsay», «Regina» oder «Paul» erörtern Fragen, äussern Meinungen, umkreisen Probleme. Ihre Namen stehen über Tafeln, auf denen die Aussagen mitzulesen sind. Nach und nach ordnen wir sie Fachgebieten zu: Soziologie, Ökonomie, Risikomanagement. Ein Puzzle. Es setzt sich im Lauf von sechzig Minuten zu einem Bild zusammen. Aus den Stimmen werden erkennbare Gestalten, obwohl wir sie nicht sehen. Faszinierend.

Dazwischen Pausen. Ab und zu Musik, nicht einfach zur Auflockerung, sondern als Puzzleteil im akustischen Bild. Dann Betroffene aus dem Katastrophengebiet. Die Konzernleitung. Versicherungsangestellte. Der Priester mit seinem unerschütterlichen Glauben. Ein Werbespot: Wahlpropaganda. Eine Versammlung der Bergwerksbelegschaft. Oder, als stumme Leuchtschrift, die Mail der Freundin Maria. Wo die Schlammlawine niederging, lebte auch Silke Huysmans zeitweise.

Das eine ist der Text. Das andere das Konzert: Tatsächlich wirkt dieser Hör-Essay wie ein modernes Musikstück. Die Klangfarben der verschiedenen Sprachen und der individuellen Sprechweisen, die variierenden Lautstärken, der Rhythmus. Ein unglaublich starkes Stück und für mich ein theatralischer Höhepunkt: Wie selten erlebt man etwas, das gleichzeitig neu, relevant und schön ist! Mutig ausserdem. Ein echtes Wagnis. Ich gebe zu: Am Anfang war mir mulmig zumute in Anbetracht des streng schmucklosen Settings.

Doch jetzt verstehe ich plötzlich, was mir bei Lola Arias und ihrem «Campo Minado/Minefield» tags zuvor Unbehagen verursachte: Die opulente Bilderflut verunmöglichte jede eigene gedankliche Stellungnahme. Bei Silke Huysmans passiert ziemlich genau das Gegenteil. Aus der zerstörerischen Schlammflut wird hier ein Reflexionsprozess.

Am Schluss, fürs gross orchestrierte Finale, werden simultan lauter News-Kommentare zugeschaltet: Umweltkatastrophen aus der ganzen Welt. Bondo kommt dabei nicht vor. Oder doch – in meinem Kopf.

Silke Huysmans & Hannes Dereere

«Mining Stories», das Bühnen-Hörstück des belgischen Performance-Duos, ist noch heute Dienstag, 28. August, in der Spielstätte Süd zu sehen. Infos hier.

Impressionen und Rezensionen von der Landiwiese

Kulturredaktorin Barbara Villiger Heilig schreibt vom 16. bis zum 31. August übers Zürcher Theaterspektakel. Ihre Kolumne erscheint unter der Woche um die Mittagszeit. Hier gehts zur Sammlung der bisher erschienenen Beiträge.

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