Binswanger

Der Fluch der Ausgewogenheit

Wenn alle mitmachen und laut gestritten wird, ist alles gut. So wird behauptet.

Von Daniel Binswanger, 14.04.2018

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Was ist das zuverlässigste Indiz, um mittelmässigen Journalismus zu erkennen? Wenn ein Artikel sich haargenau in der Mitte positioniert. Natürlich ist die Wahrheit a priori weder links noch rechts, weder progressiv noch konservativ, sondern kann immer nur an konkreten Sachfragen, im Rahmen von transparenten Wertepräferenzen, auf der Basis möglichst gesicherter Fakten und unter Verwendung möglichst stringenter Argumente ermittelt werden. Deshalb ist die These plausibel, dass weder der äusserste Rand des linken noch des rechten Meinungsspektrums dieser Wahrheit am nächsten kommt. So weit, so banal.

Parteien kämpfen letztlich um Macht und nicht um Wahrheit. Dass sie eine Neigung haben, die Dinge selektiv darzustellen, und ihrer Wirklichkeitsbeschreibung einen Spin geben, versteht sich fast von selbst. Journalismus muss versuchen, solchen Wahrnehmungsfiltern zu widerstehen. Dass seriöse Berichterstattung sich häufig irgendwo zwischen den Polen situiert, kann folglich nicht überraschen.

Überraschend ist jedoch ein sachlich schwer erklärbares und ungeheuer verbreitetes Phänomen: dass ein Kommentar sich exakt in der Mitte positioniert. Liegt die Wahrheit tatsächlich jeweils genau auf dem Median aller manifesten politischen Meinungen? Diese Hypothese ist offensichtlich absurd. Dennoch ist das der Lieblingsaufenthaltsort für den «ausgewogenen» Journalismus. Denn wer von allen Seiten äquidistant bleibt, kann für sich geltend machen, dass er unabhängig und objektiv sei – quasi ungeprüft.

Grundsätzlich ist Ausgewogenheit ein Basisprinzip der sachgerechten Darstellung. Sie fordert, dass alle relevanten Aspekte thematisiert werden, alle entscheidenden Argumente zum Zug kommen, die Gewichtung fair und so weit als möglich unparteiisch ist. De facto wird «Ausgewogenheit» jedoch häufig zum Freibrief für Oberflächlichkeit, ja Unsachlichkeit.

Solange man einmal nach links und einmal nach rechts tritt, solange man immer schön sowohl den einen als auch den anderen Kontrahenten zu Wort kommen lässt, solange man es vermeidet, die Argumente zu bewerten, und sie einfach alle aufführt – so lange kann man sich als «objektiv» darstellen. Paul Krugman nennt das «Er sagt, sie sagt»-Journalismus. Der Sachbezug spielt in dieser Art von Publizistik letztlich eine sekundäre Rolle. Objektivität wird auf der Metaebene unter Beweis gestellt und muss sich um das Objekt eigentlich nicht weiter kümmern. Die Ausgewogenheit wird dann primär eine Pose oder, wie Journalisten gern sagen, eine «Haltung».

Die übelsten Folgen hat dieses falsche Ethos der Ausgewogenheit jedoch nicht für die journalistische Binnenreflexion, sondern für die demokratische Kultur der Debatte. Auch die demokratische Auseinandersetzung soll schliesslich «ausgewogen» und alle Standpunkte sollen möglichst ausgeglichen vertreten sein. So weit, so pluralistisch.

Das Problem ist nur, dass das hehre Prinzip fast unweigerlich dazu führt, dass blanke Polemik zum Beweis von Qualität erhoben wird. Je heftiger die Fetzen fliegen, desto unbestreitbarer wird, dass «beide Seiten» vertreten waren. Je niveauloser der Streit wurde, desto sicherer kann man sein, dass offenbar alle Pole abgedeckt waren. Je hemdsärmeliger der Austausch daherkommt, desto grösser scheint die Garantie, dass über niemandes Kopf hinweggeredet wurde. Die Schärfe einer Auseinandersetzung wird zum impliziten Mass für ihre Sachgerechtigkeit – obwohl Gladiatorenkämpfe mit Wahrheitsfindung doch eigentlich wenig gemein haben.

Das Niveau eines Mediensystems dürfte vielmehr umgekehrt proportional sein zur Häufigkeit seiner verbalen Prügelshows. Showkämpfe sind jedoch schon lange zu tragenden Säulen der Medienlandschaft geworden – in den internationalen Medien und natürlich auch in der Schweiz.

In den USA sind alle grossen Newskanäle dazu übergegangen, während der Primetime nicht mehr reine Newsjournale zu senden, sondern aktualitätsbezogene Streitgespräche zwischen Kommentatoren und Experten. Der Unterhaltungswert von Streit ist höher, die Einschaltquote ebenfalls. Er wird zum selbsterklärenden Tatbeweis des demokratischen Pluralismus – ganz unabhängig von Argumenten, Fakten, Sachbezügen. Die Polemik ist nicht mehr Begleiterscheinung, sondern Gütesiegel der Auseinandersetzung.

Es dürfte kaum ein Zufall sein, dass gleichzeitig mit der Zunahme des Pöbelfaktors in der öffentlichen Debatte auch der Trump-Diskurs der alternativen Fakten seine Vormachtstellung etablieren konnte. Wenn eine gewisse Gehässigkeit einmal überschritten worden ist, werden Faktenchecks ganz einfach irrelevant.

Auch in der Schweiz ist das «Arena-Prinzip» ein fester Grundsatz der öffentlichen Debatte. Das Problem dabei ist nicht, dass es Sendungen gibt wie die Arena, die ohne Zweifel ihre Funktion erfüllen. Das Problem ist, dass die verbalen Kampfzonen eine ständige Ausweitung erfahren. Es wird gefeiert als der Triumph einer bodenständigen demokratischen Auseinandersetzung. Doch es ist das Symptom ihrer bedrohlichen Schwächung.

Illustration Alex Solman

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