Am Gericht

Zürcher Strafverfolger verletzen die Bundesverfassung

Strafbefehle müssen öffentlich einsehbar sein, damit es keine Geheimjustiz gibt. Im Kanton Zürich erhält man erst nach einem monatelangen Hürdenlauf Zugang.

Von Dominique Strebel, 04.04.2018

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Ort: Zürich
Zeit: 21. Dezember 2017 bis 28. März 2018
Fall-Nr.: STAZL B-6 STR 2017 10034343, 10036353 und 10040203
Thema: Strafbefehle

Der Fall von Erwin Küng* ist ein Rätsel. Und er muss es vorerst bleiben.

Innert zweier Monate hat die Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat Erwin Küng dreimal wegen Hausfriedensbruchs bestraft. Der 70-jährige Schweizer wird also durchschnittlich alle zwei bis drei Wochen verurteilt, stets wegen des gleichen Delikts. Warum? Das kann die Öffentlichkeit nur nach einem Hürdenlauf erfahren. Denn trotz vieler Telefonate und zweier Besuche bei der zuständigen Staatsanwaltschaft ist es monatelang nicht möglich, die Strafurteile in seinem Fall einzusehen. Damit verletzen die Zürcher Strafverfolger die Bundesverfassung, Art. 30 Abs. 3: Urteile und Strafbefehle müssen öffentlich zugänglich sein. Doch die Verfassung wird nicht nur im Fall von Erwin Küng verletzt, das Zürcher System ist grundsätzlich verfassungswidrig. Es grenzt an Schikane.

Das zeigt das Protokoll eines Hürdenlaufs in fünf Etappen: mit drei Anläufen, einer Aufwärm- und einer Dehnphase. Und einem Prolog.

Prolog

Mehr als 98 Prozent der Strafurteile fällen in der Schweiz nicht Richter, sondern Staatsanwälte. Die Strafverfolger dürfen Freiheitsstrafen bis sechs Monate und Geldstrafen bis 180 Tagessätze aussprechen, ohne dass ein Richter sich deren annehmen müsste. Einsam in ihrem Büro vor dem Computer. Ihre Urteile heissen Strafbefehle. So haben im Jahr 2016 die Staatsanwaltschaften Zürich-Sihl und Zürich-Limmat 463 Anklagen vor Gericht erhoben, im gleichen Zeitraum aber 6059 Strafbefehle gefällt und 6412 Strafverfahren eingestellt oder sistiert.

Immerhin: Diese Strafbefehle müssen wie Urteile öffentlich verkündigt werden, damit keine Geheimjustiz entsteht. Bürgerinnen und Bürger sollen kontrollieren können, ob alles mit rechten Dingen zugeht, wenn der Staat jemandem eine Strafe aufbrummt. Das wollen Bundesverfassung, Strafprozessordnung und Bundesgericht so. Doch wer den Staatsanwälten im Kanton Zürich auf die Finger schauen will, muss viele Hürden überwinden.

Aufwärmen: Dezember 2017 und Januar 2018

Leicht gekürzter Mailwechsel mit Corinne Bouvard, Mediensprecherin der Oberstaatsanwaltschaft Zürich:

Republik: Ich möchte im Januar 2018 die Strafbefehle des Kantons Zürich anschauen. Wie gehe ich genau vor?
Bouvard: Die Strafbefehle liegen jeweils bei den Amtsstellen auf, Sie müssten sich telefonisch kurz anmelden, und dann können Sie Einsicht in die entsprechenden Listen nehmen.
Republik: Wo genau findet ein Bürger im Internet diese Informationen?
Bouvard: Fragen – welcher Natur auch immer – können an jede Amtsstelle, welche über ein entsprechendes Kontaktmail verfügt (ersichtlich auf der Homepage), gerichtet werden. Ansonsten sind auch die Wosta aufgeschaltet, welche für vieles Antworten liefern.

Wer die «Wosta» sucht, findet sie schliesslich. Es sind die Weisungen der Oberstaatsanwaltschaft für das Vorverfahren – ausgebreitet auf 279 Seiten. Bürgernähe sieht anders aus.

Erster Anlauf: 1. Februar 2018

Der Sitz der Staatsanwaltschaften Zürich-Limmat und Zürich-Sihl an der Stauffacherstrasse ragt mächtig auf. Alter Sandstein aussen, hohe Gänge und Stuckatur innen. Man schreitet durch Türstürze aus schwarzem Marmor, rosarot ummalt. Hier wird über die Straftaten in Zürich gerichtet.

Der Gerichtssaal? Ein Amtsschalter in Zimmer 72, Parterre, mit Schild «Archiv». Und die öffentliche Verkündigung hat das Gesicht eines Archivars. Er schiebt zehn eng bedruckte Seiten unter dem Schalterfenster durch: die Liste der 724 Strafbefehle, die in der Stadt Zürich zwischen dem 15. Dezember 2017 und dem 31. Januar 2018 rechtskräftig wurden. Der hilfreiche Archivar verabschiedet sich: «Ich mues jetzt go vernichte. Schöne Tag no.» Er meint damit die Akten, die älter als fünfzehn Jahre sind und die er im Keller schreddert, um Platz für neue zu schaffen.

Eingeklemmt zwischen Eingangstür und Schalter, auf einem Ablagebrett von einem Quadratmeter, darf die Öffentlichkeit die Liste der Strafbefehle studieren. Aufgeführt sind Strafbefehlsnummer, Name des Verurteilten, Geburtsdatum und Bezeichnung des Delikts. Aber kein Wort, was sich da dereinst zugetragen hat und wie der Staatsanwalt sein Urteil begründet. Kontrolle der Justiz? Nur schwerlich möglich.

Lässt sich vielleicht wenigstens auswerten, welche Delikte in der Stadt Zürich die häufigsten sind?

«Wir können die Computerliste nicht nach Tatbeständen durchsuchen», sagt ein zweiter Archivar hinter dem Schalter, während der erste im Keller Akten schreddert. Der zweite – grauer Wollpullover über kariertem Hemd – hat es beim Chef (Leiter Abteilung Geschäftskontrolle) extra abgeklärt und zuckt mitfühlend die Schultern. So zählt denn die Öffentlichkeit von Hand die einzelnen Verurteilungen – auf dem Holzbrett im engen Raum zwischen Schalterfenster und Tür.

Die zwei Stunden dauernde Auswertung ergibt für die Stadt Zürich ein völlig anderes Bild der Alltagskriminalität als zum Beispiel für das ländliche Sursee. Die meisten Namen auf der Zürcher Liste sind ausländisch (in Sursee waren kaum welche dabei). Kein Wunder: Ein Drittel aller Verurteilungen betrifft Ausländer, die sich illegal in der Schweiz aufhalten und am Hauptbahnhof Zürich gestrandet sind (243 von 724 Strafbefehlen). Es folgen Delikte wie Diebstahl (113), grobe Verletzung der Verkehrsregeln (42) und Fahren in fahrunfähigem Zustand (33). Wegen Pornografie (6) und Exhibitionismus (4) wurden nur Leute mit Schweizer Namen verurteilt.

Und eben auffällig: Ein Erwin Küng, geb. 19.11.1947, wird innert zweier Monate dreimal wegen Hausfriedensbruchs bestraft. Am 24. Oktober, am 20. November und am 21. Dezember 2017. Was hat dieser Mann für ein Problem?

Die Öffentlichkeit kann einzelne Strafbefehle im Wortlaut bestellen, indem sie diese auf der Liste der 724 ankreuzt. Der Archivar holt das Dokument aber nicht sofort, er schickt es mitsamt allen Akten zuerst an den leitenden Staatsanwalt. Der prüft, ob die Öffentlichkeit den Strafbefehl einsehen darf. Nach knapp einer Woche folgt ein Anruf des Archivars, muss ein zweiter Termin vereinbart werden, reist man erneut an, um die Strafbefehle einzusehen.

Zweiter Anlauf: 8. Februar 2018

Wieder Zimmer 72, Parterre, im mächtigen Bau mit schwarz-rosaroten Türstürzen. Wieder der Archivar im grauen Wollpullover. Man kennt sich mittlerweile am Schalter. Er schiebt 13 der 18 bestellten Strafbefehle durchs Fenster. «5 kann ich Ihnen noch nicht geben, weil die Akten samt Strafbefehl von einer Amtsstelle zurzeit benötigt werden.» Das sei etwa der Fall, wenn eine Geld- in eine Freiheitsstrafe umgewandelt oder jemand erneut straffällig geworden sei. Ist es denn nicht möglich, Kopien der rechtskräftigen Strafbefehle einzusehen? «Nein», sagt der Archivar. Warum, weiss er nicht. Er lächelt entschuldigend.

Unter den 5 unter Verschluss gehaltenen Strafbefehlen sind die 3 des Erwin Küng, 19.11.1947, der innert zweier Monate dreimal wegen Hausfriedensbruchs verurteilt wurde. Es wird also ein dritter Termin nötig, um diese Strafbefehle einzusehen. Und wer weiss, wenn der 70-jährige Erwin Küng weiterhin ohne Einwilligung in fremde Wohnungen, durch umzäunte Gärten oder Gebäude schreitet, sind die Strafbefehle möglicherweise nie einsehbar, weil sie dauernd für ein Nachverfahren benötigt werden.

Dritter Anlauf: 22. Februar 2018

Ein Telefonat mit dem Archivar ergibt: Die Strafbefehle des Erwin Küng sind noch immer nicht im Archiv eingetroffen. Der Archivar verspricht zurückzurufen, sobald sie da sind. Was bis zum Redaktionsschluss am 28. März nicht geschehen ist.

Dehnen: 22. Februar bis 28. März 2018

Im Kanton Zürich braucht es mehrere Telefonate, sicher zwei, mitunter sogar drei Besuche vor Ort und mehr als zwei Monate, um Strafbefehle einzusehen. Kaum jemand nimmt das auf sich. In den letzten eineinhalb Jahren – seit der einzige freischaffende Zürcher Gerichtsreporter gestorben ist – hat niemand im Archiv Einsicht genommen. Das hürdenreiche Prozedere verletzt das verfassungsmässige Gebot der Justizöffentlichkeit, weil es den Zugang zu Strafbefehlen faktisch aushebelt.

Im Kanton St. Gallen können Journalistinnen Strafbefehle zu Hause am Computer einsehen. Sie erhalten zuerst per Mail die Liste der rechtskräftigen Entscheide, wählen die Strafbefehle aus, die sie interessieren, und erhalten die Dokumente als PDF innert Stunden zugeschickt. Wieso ist das in Zürich so kompliziert?

Für die Mediensprecherin der Zürcher Oberstaatsanwaltschaft ist es «nachvollziehbar, dass Journalisten, die am Recherchieren sind, möglichst zeitnah Einsicht nehmen wollen». Darum bemühe sich die Staatsanwaltschaft Zürich, diesem Anliegen «im Rahmen des Möglichen» Rechnung zu tragen. Aber mailen wie in St. Gallen könne man Listen und Strafbefehle nicht, weil es sich um «besonders schützenswerte Personendaten» handle. Man halte sich an die Empfehlungen der Schweizerischen Staatsanwälte-Konferenz, «welche festhalten, dass die Einsichtnahme auf der Amtsstelle erfolgt». Dabei irrt die Mediensprecherin. Die Empfehlungen sehen nicht vor, dass die Einsicht vor Ort geschehen muss, sie legen nur fest, dass es «unter der Aufsicht der Kanzleien der Staatsanwaltschaften» geschehen soll. Wie auch immer: Solche Empfehlungen legitimieren eine Verfassungsverletzung aber nicht.

Und wann kann die Öffentlichkeit die 3 Strafbefehle gegen Erwin Küng, geb. 19.11.1947, endlich einsehen? Corinne Bouvard verweist an Daniel Kloiber, den leitenden Staatsanwalt Zürich-Sihl. Der ruft umgehend zurück, verspricht die 3 Strafbefehle – als PDF per Mail. Ausnahmsweise.

PS: Die 3 eingeforderten Strafbefehle trafen nach Redaktionsschluss ein. Sie werden Thema sein von Dominique Strebels nächster Kolumne.

* Name geändert

Illustration Friederike Hantel

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