Im Land, mit dem niemand glücklich ist

Kosovo ist seit zehn Jahren unabhängig. Mit Milliarden wollten die EU und die Schweiz das Land stabilisieren. Trotzdem haben jetzt wieder nationalistische Kräfte Auftrieb. Wie konnte das passieren?

Von Krsto Lazarević, Franziska Tschinderle (Text) und Martin Valentin Fuchs (Bilder), 16.02.2018

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Albin Kurti hält eine Rede vor seinen Parteianhängern. Als Ort hat die Partei, passend zu ihrer Farblinie, den «Roten Saal» gewählt. Er liegt in einem alten Betonbau aus Zeiten Jugoslawiens im Zentrum Pristinas.

Der Saal ist voll bis auf den letzten Platz. Am Boden ein roter Teppich, vor den Fenstern rote Vorhänge, auf der Bühne die Flagge Albaniens: ein schwarzer Adler auf – rotem Grund. In der Mitte ein Rednerpult, daran ein weisses Schild mit roten Lettern. Vetëvendosje steht da. Selbstbestimmung. Es ist der Name einer Partei, die es in wenigen Jahren geschafft hat, zur stimmenstärksten Kraft Kosovos aufzusteigen.

Nichts im Saal deutet darauf hin, dass man sich in Kosovo befindet. Die Leute, die sich hier in einem der brutalistischen Betonbauten in der Hauptstadt Pristina versammelt haben, lehnen die Flagge Kosovos ab. Sie ist nicht rot, sondern blau. Mit sechs weissen Sternen in einem leichten Bogen über den goldenen Umrissen des Staatsgebietes. Und jeder Stern steht für eine Gruppe im Land: Albaner, Bosniaken, Türken, Serben, Roma und ein Stern für die anderen Minderheiten. «Wir wurden nie gefragt, ob wir diese Flagge wollen», sagt ein Mann im Publikum, «sie kommt von der EU, nicht von den Menschen hier.» Ebenso wie die Hymne Kosovos.

Und so beginnt im «Roten Saal» die Nationalhymne des Nachbarlandes Albanien aus den Lautsprechern zu dröhnen. Rund dreihundert Menschen stehen gleichzeitig auf: Deutlich mehr Männer als Frauen sind darunter, das fällt sofort auf. Und: ein Überhang an jungen Menschen, manche noch im Studentenalter. Die Abgeordneten in der ersten Reihe tragen Anzug oder Kleid, der Rest trägt gewöhnliche Strassenkleidung.

Sie alle sind gekommen, um Albin Kurti reden zu hören, den Vorsitzenden und Spitzenkandidaten von Vetëvendosje. Kurti kann das, was er gleich sagen wird, auswendig. In den Neunzigern war er als Studentenanführer aktiv, später wurde er nach Serbien deportiert und nach dem Krieg auf Druck der Vereinten Nationen freigelassen. Heute wettert er gegen die, die sich damals für ihn eingesetzt haben. «Kosovo wird von der internationalen Gemeinschaft regiert, nicht von seinen eigenen Leuten!», ruft er in den Saal.

In den Händen anderer

Vetëvendosje. Selbstbestimmung. Bürgernah, bodenständig und antielitär will die Partei sein. Ein Gegenpol zur korrupten Elite, die das Land seit Ende des Krieges 1999 anführt und Kosovo gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft zum Protektorat gemacht hat. Das exakte Gegenteil von Selbstbestimmung. Ihren Erfolg verdankt Vetëvendosje nicht nur der schlechten Wirtschaftslage, sondern auch verletztem patriotischem Stolz. Ihre Anhänger haben das Gefühl, dass das Land, für das sie gekämpft haben, jetzt in den Händen anderer liegt.

Kosovo ist seit dem 17. Februar 2008 unabhängig, doch für die meisten seiner Bewohner gibt es nichts zu feiern. Für sie existiert der Staat mit 1,8 Millionen Einwohnern nur auf dem Papier. In ihren Köpfen ist er nie angekommen. Auf den Märkten bieten Händler kleine Souvenirs zum Verkauf an, die ein Land abbilden, das es nicht gibt, von dem sich viele Albaner in Kosovo aber wünschten, es existierte: Grossalbanien.

Ein solches Land gab es bereits zwischen 1941 und 1944 als Satellitenstaat unter Mussolini und Hitler. 1944 wurde die albanische Hauptstadt Tirana befreit. Kurz darauf trafen sich die Kommunistenführer Tito und Enver Hoxha und einigten sich auf die Vorkriegsgrenzen, in denen Albanien bis heute existiert. Doch über die Hälfte der albanischen Bevölkerung lebt ausserhalb der Grenzen Albaniens, die meisten davon in Kosovo. Hier stellen sie neunzig Prozent der Bevölkerung. Und Vetëvendosje will zurück in die Vergangenheit und den Zusammenschluss Kosovos mit Albanien.

Die EU im Plattenbau

Keine zehn Gehminuten vom «Roten Saal» entfernt, ist das spiegelverglaste Regierungsgebäude in eine überdimensional grosse Flagge Kosovos gehüllt. Es scheint, als müsste die Nationalflagge umso grösser sein, je gleichgültiger sie den Stadtbewohnern ist. In der Fussgängerzone von Pristina, der jüngsten Hauptstadt Europas, bereitet man sich auf den Unabhängigkeitstag vor: Der Boulevard ist gesäumt von Strassenlaternen mit blauen und gelben Scheinwerfern. Über die Stadt segeln Paragleiter mit surrenden Propellern, auf deren Segeln die Staatsfarben. Die Stadtverwaltung beginnt schon zehn Tage vorher, die Stadt zu schmücken, als könnte man es nicht erwarten.

Die USA geniessen hohes Ansehen in Kosovo. Zu Ehren des ehemaligen Präsidenten Bill Clinton, der 1999 die Nato-Bombardements befehligte, wurde sogar ein Boulevard benannt.
Seit Tagen laufen die Vorbereitungen für den zehnten Unabhängigkeitstag Kosovos am 17. Februar. Die Strassen werden mit Ballons und Bannern in den Nationalfarben geschmückt.

Einmal im Jahr verleiht der Unabhängigkeitstag der Stadt einen Glanz und ein paar Farbtupfer, die sich vom Ziegelrotbraun der Häuser und Dunkelgrau der Plattenbauten abheben. Zumindest im Zentrum. In den Randbezirken bleibt alles beim Alten: tief hängende Stromkabel, Schornsteine, aus denen der Rauch von verheizter Kohle hochsteigt, hier und da ein überquellender Mülleimer. Dazwischen immer wieder eines der schicken Hipster-Cafés. Es gibt Avocado-Sandwiches, Veggie-Burger und Tomaten-Gorgonzola-Salat. Die Kellner sprechen Englisch, weil hier ausländische Diplomatinnen, NGO-Mitarbeiter, Richter oder Staatsanwälte zu Mittag essen.

Pristina ist, Brüssel nicht mitgerechnet, die Stadt mit den meisten EU-Mitarbeitern der Welt. Das liegt an der Rechtsstaatsmission European Union Rule of Law Mission (Eulex), die nach Kosovo entsandt wurde, um beim Aufbau von Justiz, Verwaltung und Polizei zu helfen. Einquartiert ist die EU-Mission in einem Plattenbau gegenüber der Halle, in der Vetëvendosje ihre Versammlung abhält.

Kosovo als eigenständiger Staat existiert, weil die Nato es so wollte. Nach der Bombardierung Restjugoslawiens hat sie im Land rund 50’000 Soldaten stationiert. Kosovo gilt als Stabilitätsfaktor in einer Region, die in den Neunzigerjahren von blutigen Kriegen erschüttert wurde. Es kam zu Massakern, ethnischen Säuberungen, hunderttausend Toten und Millionen von Flüchtlingen. Damals, als das sozialistische Jugoslawien zerfiel, stand der Friede in ganz Europa auf dem Spiel. So deutlich wie nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Seitdem ist die EU die wichtigste Ordnungsmacht am Balkan und daran interessiert, Nationalismen und Provokationen, wie die Idee eines Grossalbaniens, möglichst kleinzuhalten.

Funktioniert hat das nicht. Der vielleicht grösste Effekt, den die Anwesenheit von Eulex ausgelöst hat, sind ausgelastete Luxushotels und eine Steigerung der Mietpreise im Zentrum Pristinas. Ein Rechtsstaat, der diesen Namen verdient, existiert immer noch nicht.

Wo sind die Milliarden?

Die Vereinten Nationen, die USA, die EU und zu einem kleineren Teil auch die Schweiz versuchten Kosovo aufzubauen – und scheiterten. Die Schweiz hatte 2005 mit der damaligen Aussenministerin Micheline Calmy-Rey als eines der ersten Länder die Unabhängigkeit Kosovos befürwortet. Nach der Unabhängigkeitserklärung 2008 besuchte Calmy-Rey als eine der ersten westlichen Politikerinnen überhaupt Pristina – zur Eröffnung der Schweizer Botschaft. Viele Bürger fragen sich heute, wo die Milliarden geblieben sind, die seit 1999 als Hilfsgelder in das Land flossen. Unsummen verschwanden in den Taschen korrupter Politiker und ihrer jeweiligen Klientel. Bei Transparency International rangiert Kosovo als korruptestes Land auf dem Balkan – und die Konkurrenz in der Region ist nicht gerade schwach.

Die Korruption grassiert dabei nicht nur bei den politischen Eliten Kosovos, sondern auch in den internationalen Organisationen und Missionen, die einst versprochen haben, das Land in eine bessere Zukunft zu führen. Eulex hätte Kosovo dabei helfen sollen, eine unabhängige Justiz aufzubauen. Heute, zehn Jahre nachdem die Mission ihre Arbeit aufgenommen hat, steht Eulex selbst in der Kritik, in Korruptionsfälle verwickelt zu sein. So beendete der britische Chefrichter Malcolm Simmons sein Engagement im November und erhob schwere Vorwürfe gegen die EU-Mission. Wenig später wurde bekannt, dass er selbst Subjekt von Korruptionsvorwürfen ist.

Agron Bajrami, Chefredaktor der grössten kosovarischen Tageszeitung «Koha Ditore», pflegt zu sagen: «Eigentlich sollte Eulex Kosovo europäisieren, stattdessen haben wir Eulex balkanisiert.»

Importierte Demokratie

Albin Kurti, der Gründer von Vetëvendosje, wurde in den letzten zehn Jahren nicht müde, das EU-Protektorat zu kritisieren. In den Neunzigern, als er Studentenproteste organisierte, trug er karierte Flanellhemden und hatte eine zottelige Mähne. Heute trägt Kurti Massanzüge und gibt sich staatsmännisch. Er will nächster Premierminister Kosovos werden und mit dem politischen Establishment und den Uno- und EU-Missionen aufräumen. Sein Büro liegt da, wo jene Leute zu Hause sind, die er kritisiert: im Diplomatenviertel der Stadt. Von seinem Balkon aus hat man ganz Pristina im Blick.

Kurti, 42, ein schlanker Mann mit glatt rasiertem, jungenhaftem Gesicht und dunklen, leicht grau melierten Haaren, steht am Fenster, die Hände in den Hosentaschen, und sagt: «Ich glaube nicht, dass man einen Staat von aussen aufbauen kann. Demokratie kann man nicht importieren.» Dann setzt er sich, schlägt die Beine übereinander und erzählt, warum der zehnte Unabhängigkeitstag für ihn kein Grund zum Feiern ist. «Drei Dinge haben sich seit 2008 nicht geändert», sagt er: «Erstens die grassierende Korruption im Land; zweitens die Tatsache, dass der Norden Kosovos von Belgrad kontrolliert wird; drittens die Arbeitslosigkeit.»

Albin Kurti in seinem Büro im Diplomatenviertel Pristinas. Lange Zeit widersetzte er sich dem politischen Dresscode, inzwischen gibt er sich staatsmännisch, trägt Anzug und Krawatte.

Kurti spricht pointiert, niemals kommt er ins Stammeln. Der Charismatiker ist ein linker Populist wie aus dem Handbuch. Wenn er vor Publikum spricht, wirkt es, als würde er mit jedem Einzelnen Blickkontakt suchen. Er weiss, wie man Journalisten beeindrucken kann, zitiert Judith Butler und Sigmund Freud, gibt sich als Intellektueller, als Denker. Er sagt Sätze wie: «Wir haben eine Sehnsucht nach einer Vergangenheit, die wir nie hatten.» Mit solchen Sprüchen, die sich vom technokratischen Einheitsbrei anderer Politiker abheben, beeindruckt Kurti seine Wählerinnen. Das ist die eine, sanfte und bedächtige Seite von ihm. Die andere ist die, dass Kurti immer wieder zu Protesten aufruft, die in Gewalt ausarten: demolierte Autos, Molotowcocktails, sogar Tränengas im Parlament. Junge Wähler hat das gleichermassen verschreckt wie angezogen.

In einem Land, in dem 65 Prozent der jungen Bevölkerung arbeitslos sind, ist Kurti der einzige Politiker, der grundlegende Reformen anstossen will. «Wir brauchen ein funktionierendes Gesundheitssystem und Sozialleistungen. Derzeit ist es die Diaspora, die uns am Leben hält», sagt er. Eine Bewegung, die mit linken Forderungen zu einer der führenden politischen Kräfte im Land aufsteigt – man fühlt sich an die Anti-Austeritäts-Proteste in Spanien und Griechenland erinnert, aus denen Podemos und Syriza als Parteien hervorgegangen sind. «Kosovos Parteienlandschaft ist davon geprägt, kein inhaltliches Programm vorlegen zu können. Vetëvendosje ist die Ausnahme, die als einzige ein Wirtschaftsprogramm anzubieten hat», sagt Florian Bieber vom Zentrum für Südosteuropastudien in Graz.

Visa-Freiheit gegen Geröll

Neben klassisch linken, sozialdemokratischen Themen bespielt Kurti aber auch die andere Seite des politischen Spektrums – die des Nationalismus. Seine Partei blockiert die Ratifizierung eines Grenzabkommens mit Montenegro. Sie behauptet, dass die Grenze zum Nachbarn falsch gezogen wurde und Kosovo dadurch Grund und Boden verloren gehen.

Um das Grenzabkommen zu verhindern, liessen die Parlamentarier von Vetëvendosje wiederholt Tränengasgranaten in Parlamentssitzungen hochgehen. Der Konflikt dreht sich um 8000 Hektaren hoch in den Bergen, in einer Region, in der niemand lebt und die selten von Menschen betreten wird. Für die EU ist das Gebiet ein Faustpfand: Sie hat in Aussicht gestellt, dass Kosovo die lang ersehnte Visa-Liberalisierung erhält, wenn es das Abkommen mit Montenegro endlich unterzeichnet. Aber Vetëvendosje gibt dem nicht nach. Das ist verwunderlich, weil die jungen Menschen, die Vetëvendosje wählen, von der Visa-Freiheit stärker profitieren würden als von Gestein und Geröll in den Bergen.

Auf Ausschreitungen reagiert die Polizei mit einem Grossaufgebot. Mit Schutzschildern ausgerüstete Polizisten hinderten Demonstranten daran, ins Parlament einzudringen.
Im Februar 2016 rief Vetëvendosje zu Protesten auf. Der Widerstand galt der Wahl des neuen Präsidenten Hashim Thaçi, den Vetëvendosje als machthungrig und korrupt kritisiert.
2016 zählten Gasmasken zur Grundausstattung von politischen Journalisten, die über Sitzungen im Parlament berichteten.
Vetëvendosje sorgte mit den Tränengas-Attacken im Parlament für internationales Aufsehen. Die Partei versuchte, damit Abstimmungen zu blockieren.

Vedran Džihić, Westbalkan-Experte des Österreichischen Instituts für Internationale Politik (Oiip), neigt als kritischer Wissenschaftler dazu, die Politik und die Politiker in der Region zu kritisieren. Doch Kurti ist für ihn eine Ausnahmeerscheinung: «Es gibt kaum eine Figur im gesamten südosteuropäischen Raum und in der westlichen Politik schon gar nicht, die in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren ein derart authentisches Kapital angehäuft hat wie Kurti. So etwas hat niemand sonst in der Region.»

Sein Erfolgsgeheimnis: Er vertritt seit zehn Jahren die gleichen Ansichten und spricht aus, was vielen EU-Bürokraten den Angstschweiss auf die Stirn treibt und die Wähler begeistert: «Solange die jetzige Regierung Kosovos schwach ist und keine konkreten Fortschritte erzielt, wird Vetëvendosje täglich Zuwachs bekommen.» Damit gefährdet Kurti gut bezahlte Jobs und Posten der Bürokraten in Kosovo. Er will die Privilegien beschneiden, die sie seit bald zwanzig Jahren geniessen. Andererseits ist der Nationalismus, für den seine Partei steht, eine Gefahr für den Balkan und für ganz Europa.

Wie die 68er

Viele seiner Anhänger wirken wie die antikolonialen Befreiungskämpfer aus den 1950er- und 1960er-Jahren. Sie empfinden sich nicht als Bürgerinnen einer Demokratie, sondern als Opfer – zunächst des serbischen Nachbarn und später der internationalen Gemeinschaft. Und wie bei anderen Befreiungsbewegungen scheint auch bei ihnen der Weg von sozialistischen Utopien zum reaktionären Nationalismus nicht weit.

Ihr eigenes Land wollen sie verändern, wie einst die Acht­und­sech­zi­ger die Gesellschaften Westeuropas veränderten. Auch ihre Rhetorik und ihr Auftreten erinnern an die Zeit vor fünfzig Jahren. Man gibt sich kämpferisch und plappert nach. Man glaubt, die einzig richtige Wahrheit gepachtet zu haben und geht keine Kompromisse ein.

Die etablierten Parteien in Kosovo sehen von einer grossalbanischen Rhetorik ab, weil sie auf die Unterstützung der USA und der EU angewiesen sind. Der Westen will einen Premierminister Kurti verhindern. Warum, erklärt Florian Bieber vom Zentrum für Südosteuropastudien: «Der Grundsatz westlicher Politik in den letzten Jahren war es, sicherzustellen, dass Serbien und Kosovo einen Dialog führen und die Grenzen bleiben, wie sie sind. Vetëvendosje stellt beides infrage und setzt es damit aufs Spiel».

Mit korrupten Ex-Warlords der albanischen Guerilla-Organisation UÇK, die ab 1997 gegen das serbische Regime in Kosovo kämpfte, hatte die internationale Gemeinschaft in Kosovo kein Problem, solange die für Stabilität sorgten. «Die Ausgrenzung von Vetëvendosje durch die internationale Gemeinschaft in Kosovo ist letztlich kontraproduktiv, weil sie die Partei als Alternative glaubwürdiger macht. Je mehr der Westen an Glaubwürdigkeit verliert, umso stärker wird Albin Kurti», sagt Bieber.

«Wer garantiert für meine Rechte?»

Wer den Erfolg von Vetëvendosje erklären will, der muss sich früher oder später auch mit der innenpolitischen Krise Kosovos auseinandersetzen. Das Land leidet nicht nur unter Korruption, sondern auch unter einem aufgeblähten Regierungsapparat.

Um zu verhindern, dass Vetëvendosje an die Macht kommt, hat sich ein breites Wahlbündnis aus 17 Parteien gebildet, angeführt von Premierminister Ramush Haradinaj, einem ehemaligen UÇK-Kommandanten. Seine Regierung besteht aus 23 Ministern, 70 Vizeministern und Hunderten Beratern. Eine der ersten Amtshandlungen von Haradinaj war es, sein Gehalt zu verdoppeln.

In den Seitenstrassen sieht man tief hängende Stromkabel. In den Häusern wird vor allem mit Kohle geheizt, was die Luftqualität in Pristina zu einer der schlechtesten der Welt macht.
Drei Anhänger von Vetëvendosje – Tinka Kurti, 29, Korab Muhadri, 19, und Nazlie Bala, 50.

«Das Minimumgehalt liegt in diesem Land bei 170 Euro», sagt Nazlie Bala, 50, eine Vetëvendosje-Aktivistin, «und unser Premierminister stockt sein Gehalt auf 3000 Euro auf, während seine Frau teure Louis-Vuitton-Taschen trägt.» Bala ist eine kleine Frau mit kurzen, schwarzen Haaren und fehlerfreiem Englisch. Sie sitzt mit zwei weiteren Aktivisten im Café «Kadare» in Pristina, benannt nach dem albanischen Schriftsteller und Essayisten Ismail Kadare.

Draussen prasselt der Regen gegen die Fenster, drinnen sitzen überwiegend junge Leute an kleinen Tischen zwischen Bücherregalen und Plattenspielern. Neben Bala sind noch zwei weitere Aktivisten gekommen: Tinka Kurti, 29, die nicht mit Albin Kurti verwandt ist, und Korab Muhadri, 19. «Es geht das Gerücht um, dass wir Serben unterdrücken werden, sobald wir an der Macht sind», sagt Bala. «Aber das stimmt nicht. Wir sind die einzige Partei, die die Integration von Serben wirklich ernst nimmt.» Wie das? «Ganz einfach», sagt Muhadri, «der Dialog mit Serbien muss aufhören, und ein innerer Dialog mit jenen, die hier leben, muss beginnen.»

Jene, mit denen Vetëvendosje in Dialog treten will, leben unter anderem im Norden des Landes, in dem Pristina nicht viel zu melden hat. Hier stellen Albaner die Minderheit und Serben die Mehrheit.

Nationale Sehnsucht in Cafés

Sinnbild für die Spaltung des Landes ist die Stadt Mitrovica, die bis heute in zwei Hälften gerissen ist: Albaner leben im Süden, Serben im Norden. Steht man auf der Brücke, die diese beiden Hälften miteinander verbindet, steht man zwischen zwei Welten. Im Süden: Moscheen. Im Norden: orthodoxe Kirchen. Im Süden: weht die albanische Flagge. Im Norden: die serbische.

Während sich der Süden auf den Unabhängigkeitstag vorbereitet, sitzt der 22-jährige Vasko Pantović in einem Café im Norden und erklärt, warum ihm Vetëvendosje nicht geheuer ist. Denn auch wenn die Parteifunktionäre es nicht öffentlich zugeben würden, funktioniert ihr albanischer Nationalismus nicht ohne antiserbische Ressentiments. Die Serben gelten ihnen auch achtzehn Jahre nach dem Krieg noch als Unterdrücker, und niemand kann dies so glaubwürdig formulieren wie Kurti, der während des Kosovokrieges von den Serben ins Gefängnis geworfen und dort geschlagen wurde.

Vasko, der junge Serbe aus Nord-Mitrovica, nimmt einen Schluck Kaffee und sagt: «Ich wünsche mir einen Autonomiestatus des Nordens innerhalb Kosovos – einen Verband serbischer Gemeinden, der zwar Teil des kosovarischen Staatsgebietes ist, aber unter serbischer Verwaltung steht.» Genau das lehnt Vetëvendosje strikt ab. Sie warnen vor einem Ministaat im Staat, ähnlich wie die Republika Srpska in Bosnien-Herzegowina. Vasko wiederum kann einen Anschluss an Albanien nicht akzeptieren: «Wer garantiert für meine Rechte? Was, wenn ich dann meine Identität aufgeben muss?» Er erzählt von einem neuen Ansiedelungsprojekt der serbischen Regierung, nicht weit von seinem Elternhaus entfernt. Der Name: Sunny Hills. Es sind günstige Wohnungen für junge, serbische Familien, die sich im Norden Kosovos niederlassen und dafür mit Steuervergünstigungen und Zuschüssen bei Strom und Wasser belohnt werden.

Vasko lebt im Norden der zwischen Albanern und Serben geteilten Stadt Mitrovica. Vasko hält eine serbische Autonomie innerhalb Kosovos für die beste Lösung des Konflikts.

Die drei Aktivisten von Vetëvendosje in Pristina werden wütend, wenn man sie nach diesem Projekt fragt. «Das ist ein neuer Kolonialismus», sagt Korab Muhadri, der 19-Jährige. «Serbien ist bis heute eine Hegemonialmacht, die ihren Einfluss ausdehnen will», legt Nazlie Bala nach.

Aber tut Vetëvendosje nicht dasselbe, wenn die Partei die Vereinigung mit Albanien anstrebt?

«Natürlich wollen wir die Menschen zuerst in einem Referendum fragen, ob sie eine solche Vereinigung wollen», sagt Fitore Pacolli. Die 36-Jährige ist eine von 32 Vetëvendosje-Abgeordneten im Parlament. Sie beschreibt die nationale Sehnsucht als Zusammentreffen mit der Familie: «Sich mit Albanien zu vereinigen, ist, wie nach Hause zu kommen und mit den Eltern Abend zu essen.» Pacolli lebte sechs Jahre lang in England und promoviert derzeit am Zentrum für Südosteuropastudien in Graz. In London ging sie gegen den konservativen David Cameron auf die Strasse. Sie wirkt eigentlich nicht wie ein Mensch, der sich nach nationaler Grösse sehnt.

Und was jetzt, EU, Schweiz?

Als Abgeordnete in Kosovo fordert sie, dass die Bürger Visa-Freiheit für die EU erhalten, damit die junge Bevölkerung Europa bereisen kann. Was sie gleichzeitig verhindert, weil sie jeden Kompromiss im Grenzstreit mit Montenegro ablehnt. «Wir können unser Land nicht einfach gegen die Visa-Freiheit eintauschen», sagt sie pathetisch, als ginge es um mehr als einen kleinen Streifen Geröllwüste. Die 8000 Hektaren als EU-Faustpfand – unfair! «Kein Land der Welt würde einen solchen Deal eingehen», sagt Pacolli.

Fitore Pacolli, 36, hat sechs Jahre in London gelebt und studiert, bevor sie nach Kosovo zurückgekehrt ist, um die Politik in ihrer Heimat zu verändern. Heute sitzt sie für Vetëvendosje im Parlament.

Diese nationalistischen Töne passen nicht zu ihrer sonst liberalen und linken Denkweise. Und doch kombiniert sie Nationalismus mit der Forderung nach Rechten für die LGBT-Community und träumt von einem Bildungssystem, das die Talente von Schülern früh erkennt und fördert. Auf die Frage, ob sich Vetëvendosje in letzter Zeit sanfter und pragmatischer gibt, um in die nächste Regierung zu kommen, antwortet sie: «In der letzten Zeit zeigt die internationale Gemeinschaft, etwa die amerikanische Botschaft, ein stärkeres Interesse an uns. Lange Zeit wurden wir nicht gleichbehandelt wie die restlichen Parteien. Aber jetzt, wo wir die Menschen auf unserer Seite haben, ändert sich das.»

Es ist sehr wahrscheinlich, dass Vetëvendosje weiter an Zustimmung gewinnt und Albin Kurti eines Tages Premierminister Kosovos wird. Auch wenn die Partei derzeit mit internen Kämpfen zu tun hat und zehn Abgeordnete bekannt gaben, die Partei verlassen zu wollen. Wenn Kurti sein Ziel erreicht, hätte der Westen gar keine andere Wahl mehr, als mit den Linksnationalisten zusammenzuarbeiten. Ist Albin Kurti bereit, Kompromisse einzugehen?

Kurti hat zu lange für die eine Sache gekämpft, als dass er jetzt kurz vor dem Ziel die Bereitschaft zu Kompromissen signalisiert. Das wird klar, als er eine Woche vor dem Unabhängigkeitstag letzten Samstag über den geschmückten Boulevard der Innenstadt geht, begleitet von seinem Fahrer und seinem Pressesprecher. Es nieselt, am Boden liegt Schneematsch. Als eine Windböe das in den Staatsfarben bedruckte Banner zu Boden zu reissen droht, lächelt er süffisant. Eines ist sicher: Er wird auch an diesem Samstag Kosovos Unabhängigkeit nicht feiern.

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