Challenge Accepted

Würden Sie in ein Flugzeug steigen, das mit einer Wahrscheinlichkeit von 10 Prozent abstürzt?

Wir steuern auf Punkte zu, an denen die Folgen des Klimawandels unaufhaltsam werden. Was genau sind diese sogenannten Kipppunkte? Und warum fällt es uns so schwer, ihre Auswirkungen zu fassen? Klima- und Meeresforscher Stefan Rahmstorf erklärt es so, dass es alle verstehen.

Von David Bauer, Sabrina Weiss (Redaktion), Bilder & Freunde (Realisation) und Lisa Rock (Illustration), 29.03.2024

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Video-Transkript

Stefan Rahmstorf: «Ich bin der Meinung, wenn die Atlantik­strömung kippt, dass die Folgen derart verheerend wären, dass das noch mal eine ganz neue Dimension grösser als der Klimawandel ohnehin schon wird.»

Nils Heiligtag: «Hallo, ich bin Nils. Ich bin zehn Jahre alt und ich lese gerne und lebe auf einem Bauernhof.»

Rahmstorf: «Ich bin Stefan und bin Klimaforscher. Wir wollen über Klima und Kipppunkte reden. Weisst du denn, was ein Kipppunkt ist?»

Heiligtag: «Nein.»

Rahmstorf: «Kippelst du in der Schule manchmal auf deinem Stuhl, oder einer deiner Klassen­kameraden und ist der schon mal umgefallen?»

Heiligtag: «Ja.»

Rahmstorf: «Das ist also auch ein Kipppunkt. Wenn ich jetzt hier auf meinem Stuhl kipple, dann muss ich erst drücken. Und wenn ich loslasse, kippt er wieder gerade. Aber wenn ich das zu weit mache, dann kommt eben der Punkt, da muss ich nicht mehr weiter drücken, sondern ab da fällt er einfach von selber um. Das ist genau ein Kipp­punkt, und solche Punkte, wo Sachen einfach von alleine weitergehen und nicht mehr aufzuhalten sind, gibt es eben leider auch in unserem Klimasystem, so ganz grosse Eismassen oder Meeres­strömungen, die umkippen. So etwas kann auch im Klima­system passieren.»

Heiligtag: «Okay. Kann man so etwas aufhalten?»

Rahmstorf: «Wenn man einmal über den Kipppunkt drüber ist, kann man es nicht mehr aufhalten. Man muss vorsorglich handeln. Also man muss es jetzt möglichst verhindern, dass wir über diese Kipppunkte drüberkommen, indem wir die Erderwärmung stoppen.»

Aline von Moos: «Hallo, mein Name ist Aline von Moos. Ich bin 15 Jahre alt und wohne in Winterthur.»

Rahmstorf: «Ja, hallo, ich bin Stefan Rahmstorf, Klima- und Meeresforscher. Ich erforsche also Kipppunkte, wie die Eismassen, und was ihre Bedeutung ist für die Menschheit und den Meeresspiegel.»

von Moos: «Okay, und was ist ihre Bedeutung?»

Rahmstorf: «Ja, vor allem sind es so riesige Eismassen, dass wenn die alle abschmelzen würden, würde der Meeresspiegel weltweit um 65 Meter
ansteigen. Die Schmelze hat schon begonnen durch die globale Erwärmung, die ja inzwischen schon etwa 1,3 Grad beträgt seit dem 19. Jahrhundert.»

von Moos: «Ach so, und wenn jetzt dieser Eisberg quasi schmilzt, dann gibt es einfach mega grosse Überschwemmungen. Also geht die Welt unter?»

Rahmstorf: «Also das Grönlandeis, das ist etwa 3000 Meter dick und das ist genug Eis für 7 Meter globalen Meeresspiegel­anstieg. Das kann zum Glück nicht sehr schnell passieren, also nicht in 100 oder 200 Jahren, sondern es dauert sehr lange, bis es komplett abgeschmolzen ist. Aber begonnen hat der Prozess schon. Er trägt schon zum Meeresspiegel­anstieg bei und es gibt eben einen Punkt, ab dem wird das zu einem unaufhaltsamen Selbstläufer.

Selbst wenn wir kein CO2 oder andere Treibhausgase mehr ausstossen, das ist dann unaufhaltsam, dass der gesamte grönländische Eispanzer verschwinden wird im Laufe der nächsten Jahrhunderte. Und dass damit eben viele der grossen Küsten­städte untergehen werden.»

von Moos: «Und welche Städte oder welche Inseln würde das denn betreffen?»

Rahmstorf: «Bei einem Meeresspiegel­anstieg um mehrere Meter würden ganze Insel­staaten von der Erdoberfläche verschwinden oder zumindest unbewohnbar werden, und eben auch viele Küsten­städte, also von New York über Kapstadt bis Jakarta.»

Patricia Helpap: «Hallo, mein Name ist Patricia Helpap. Ich bin 22 Jahre alt und Master­studentin an der Universität Bern mit Fokus auf atmosphärische Dynamik und Erdsystem­dynamik. Kann man denn überhaupt von einem Kipppunkt sprechen, wenn alles so miteinander vernetzt ist?»

Rahmstorf: «Wir nennen diese Teilsysteme, die kippen können, eigentlich Kippelemente. Also das Grönlandeis ist ein Kippelement. Die Nordatlantik­strömung ist ein Kippelement. Der Amazonas­wald hat seinen eigenen Kipppunkt, und wenn sich die tropischen Niederschlags­gürtel verschieben, kann zumindest der nördliche Teil des Amazonas dadurch über seinen Kipppunkt kommen, der in dem Fall bedeutet, es wird einfach zu trocken. Es wird eine grosse Dürre geben und der Wald dann im Zweifel sogar abbrennen.»

Helpap: «Anfang Februar wurde ja ein Paper veröffentlicht über neue Erkenntnisse über die Atlantik-Meeres­strömungen. Ich habe mir das tatsächlich auch durchgelesen und einigermassen gut verstanden, denke ich. Aber es wurde ja eigentlich nur modelliert, wie ein Klimasystem auf Veränderungen reagieren könnte. Wie nah an der Realität ist das zu interpretieren?»

Rahmstorf: «Das Ziel dieses Papers, dieser Studie war eigentlich zweierlei. Erstens zu gucken, findet man in diesem Modell so einen klassischen Kipppunkt. Und dazu muss man praktisch die Gleichgewichts­zustände in dem Modell der Atlantik­strömung nachzeichnen, in Abhängigkeit von der Süsswasser­menge, die in den Atlantik geht.

Und die haben dann, als sie den Kipppunkt gefunden haben, versucht zu gucken, findet man irgendwelche Vorzeichen, was man schon messen könnte im realen Ozean, bevor dieser Kipppunkt erreicht wird. Sie haben sich dann Beobachtungs­daten aus dem südlichen Atlantik angeschaut, um zu gucken, ob die darauf hinweisen, dass ein Kipppunkt nahe ist.

Wenn diese Strömung weniger salziges Wasser raustransportiert, als reinkommt, wird praktisch damit Süsswasser weggeschafft aus dem Atlantik. Das Süsswasser, das vorher durch Regenfälle und Flüsse und Eisschmelze in den Atlantik landet, wird dann da unten rausgeschafft. Das bedeutet, wenn es so funktioniert, dann ist man relativ nahe am Kipppunkt, weil das dann bedeutet, wenn wir jetzt die Strömung verlangsamen, wird auch weniger Süsswasser rausgeschafft und das verstärkt dann noch mal wieder, dass sich Süsswasser ansammelt, das Meerwasser verdünnt, die Strömung wieder bremst, dann wird es noch langsamer. Und das ist dieser Rückkopplungs­effekt, der irgendwann zum Selbstläufer wird, sodass dann das Versiegen dieser Strömung unaufhaltsam wird.»

Helpap: «Was ist Ihre Einschätzung, was der Einfluss dieses Versiegens der Meeres­strömungen ist, der jetzt doch irgendwie greifbar geworden ist, auf andere Klima­elemente oder sogar andere Kipppunkte? Ich glaube, in dem Paper wurde auch erwähnt, dass die Regen- und Trocken­zeiten über dem Amazonas sich ändern könnten. Was hat das mit der atlantischen Meeres­strömung zu tun?»

Rahmstorf: «Ja, das ist eine ganz spannende Sache. Diese Atlantik­strömung transportiert ja riesige Wärme­mengen nach Norden, und zwar über den Äquator hinweg. Die meisten Leute glauben, nur aus den Tropen würde Wärme in den hohen Norden, wo es kalt ist, in die Arktis transportiert. Aber das stimmt gar nicht, sondern es wird auch im Südatlantik Wärme nach Norden transportiert, also auf den Äquator zu vom Südpolarmeer, was sehr ungewöhnlich ist, weil alle anderen Meeres­becken Wärme weg vom Äquator transportieren.

Warmes Oberflächen­wasser strömt nach Norden, kaltes Tiefen­wasser strömt in 2000 bis 3000 Meter zurück nach Süden. Man hat diesen riesigen Wärme­transport nach Norden, und der ist der Hauptgrund, weil er eben über den Äquator hinweggeht, dass die Nordhalbkugel wärmer ist als die Südhalbkugel.

Wenn also die tropischen Niederschlags­gürtel jetzt nördlich des Äquators sind, und jetzt bricht aber die Atlantik­strömung zusammen, verschieben die sich nach Süden, weil dann quasi beide Halbkugeln etwa gleich warm werden. Und dann heisst es, die typischen tropischen Niederschläge sind halt nicht mehr da, wo der tropische Regenwald ist. Und das bedeutet, dass es dann in manchen Regionen viel mehr regnet, wo man es gar nicht gewohnt ist, und Überschwemmungen bedeutet. In anderen Regionen, wo es bisher immer zuverlässig geregnet hat und Regenwälder sind, bleibt der Regen dann aus.»

Jan Wintgens: «Mein Name ist Jan Wintgens. Ich bin als Aktivist tätig bei Renovate Switzerland. Meine erste Frage wäre: Wie versuchen Sie das Risiko zu kommunizieren?»

Rahmstorf: «Ich bin der Meinung, dass, wenn die Atlantik­strömung kippt, die Folgen derart verheerend wären, dass das noch mal eine ganz neue Dimension wird, grösser als der Klimawandel ohnehin schon, sodass tatsächlich der Fortbestand unserer Zivilisation dadurch gefährdet würde. Von ganzen Ökosystemen ganz zu schweigen. Sodass das ein Risiko ist, was man eigentlich mit 99,9-prozentiger Wahrscheinlichkeit mindestens ausschliessen möchte. Alles andere wäre fahrlässig.»

Wintgens: «Die Politik denkt eher kurzfristig. Was würden Sie sagen, ist das Risiko in den nächsten 15 Jahren?»

Rahmstorf: «In den nächsten 15 Jahren würde man nicht komplett ausschliessen, dass der Kipppunkt überschritten ist. Dann würden wir uns aber darüber streiten, ob das der Fall ist oder nicht, weil man es eben gar nicht gleich merkt. Es gibt ja Systeme, die reagieren ja auch dann, wenn der Kipppunkt überschritten ist, auf ihren eigenen typischen Zeitskalen. Bei den kontinentalen Eisschilden reden wir da von Jahrhunderten, bei den Meeres­strömungen von Jahrzehnten, sodass man wahrscheinlich erst mal noch irgendwie 20 Jahre warten müsste, bis die Wissenschaft sich einig ist, dass der Kipppunkt eigentlich schon längst überschritten ist.

Zum Beispiel bei der Westantarktis oder beim Grönlandeis ist es bereits umstritten, ob wir über den Kipppunkt schon rüber sind oder eben noch nicht.»

Wintgens: «Wir haben gesehen, das Jahr 2023 war heisser als vorhergesagt. Wir haben jetzt gehört, dass die Atlantik­strömung AMOC vielleicht schneller kippt als erwartet. Ist die Klimawissenschaft zu konservativ gewesen in den Berechnungen?»

Rahmstorf: «Es gibt solche Punkte, wo das Problem früher tatsächlich unterschätzt wurde. Das eigentlich bekannteste klassische Beispiel ist der Anstieg des Meeres­spiegels, wo der Weltklimarat IPCC das Problem in seinem dritten Bericht damals deutlich unterschätzt hat. Aber inzwischen hat der IPCC sich in weiteren Berichten mehrfach korrigieren müssen, nach oben leider beim Meeresspiegel­anstieg, der erwartet wird, weil die Messdaten den vorhergesagten Anstieg überholt haben.»

Wintgens: «Wir sprechen viel über den IPCC, was diese Dinge angeht und als Benchmark gilt. Wenn dieser nach oben korrigiert, könnte es sein, dass die Gefahr der Nachricht vielleicht nicht richtig bei der Politik ankommt?»

Rahmstorf: «Die Fakten liegen eigentlich seit Jahrzehnten klar auf dem Tisch, und deswegen wurde ja schon 1992 beim Erdgipfel in Rio von allen Staaten gemeinsam beschlossen, einen gefährlichen Klimawandel zu verhindern. Aber es ist durch Beharrungs- und Lobbykräfte bislang eben nicht entscheidend gehandelt worden. Das liegt, glaube ich, nicht am mangelnden Wissen oder an mangelnder Kommunikation des Wissens.»

Wintgens: «Wie würden Sie sagen, gelingt es, dass diese grosse Gefahr, die auch wir verhindern müssen, bei der breiten Bevölkerung ankommt?»

Rahmstorf: «Das ist in der Tat ein schwieriges Problem, weil es ist eben nicht das Wahrscheinlichste. Es ist ein Risiko, und eben das zu kommunizieren, was ich gerade versucht habe zu erklären, dass auch 10 Prozent Eintritts­wahrscheinlichkeit viel zu hoch ist für ein Risiko dieser Grössen­ordnung, ist den Menschen schwer zu vermitteln, vor allem wenn man sich die IPCC-Berichte anschaut. Da werden 10 Prozent ja in Worte gefasst, und das heisst dann ‹sehr unwahrscheinlich›. Dann sagt der IPCC-Bericht, dass das in diesem Jahrhundert passiert, ist sehr unwahrscheinlich. Und da versteht natürlich jeder Laie, der das hört: ‹Aha, Entwarnung. Es ist sehr unwahrscheinlich.› Aber dass ‹sehr unwahrscheinlich› eben ‹kleiner als 10 Prozent› bedeutet und der IPCC bewusst nicht sagt ‹extrem unwahrscheinlich›, das wissen die Leute nicht.

Von daher finde ich, dass diese Aussage: ‹Es ist sehr unwahrscheinlich› so falsch beruhigend und eine schlechte Kommunikation ist. Ich finde es eben besser, wenn man versucht, so Analogien zu machen wie zum Beispiel: ‹Würden Sie in ein Flugzeug steigen, wenn Ihnen gesagt wird, die Wahrscheinlichkeit, dass es abstürzt, ist kleiner als 10 Prozent?›

Viele Leute denken: ‹Ach, wenn es unsicher ist, da brauche ich mich nicht drum zu kümmern.› Aber Unsicherheit ist eben nicht unser Freund, sondern Unsicherheit in dem Fall bedeutet eine drohende Gefahr.»

Über Bilder & Freunde

Bilder & Freunde ist eine Filmproduktions­firma und Kreativ­agentur aus Zürich. Seit 2018 haben sie sich auf die Produktion und Vermittlung von journalistischen Inhalten und Geschichten für Web und TV spezialisiert. Für SRF, NZZ, Swisscom, die TX Group und CH Media haben sie bereits Formate und Konzepte erarbeitet und umgesetzt.