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Freud und die Psychoanalyse sind jetzt nicht mein Hauptinteressensgebiet, fand den Artikel als Newbie in diesem Bereich ganz interessant.

Aber an zwei Punkten habe ich mich dann doch gestossen.
Der erste Punkt ist die Aussage, das keine Wissenschaft dem Popperschen Ideal perfekt entspricht. Und diese Aussage wird dann verwendet, um zu suggerieren, dass die Abweichung von diesem Ideal in allen akademischen Disziplinen vergleichbar ausgeprägt wäre und auch per se kein Grund wäre eine Disziplin als unwissenschaftlich zu brandmarken. Dem ist aber sicherlich nicht so. Innerhalb der Wissenschaften und oft auch zwischen bestimmten Unterzweigen derselben Wissenschaft gibt es EXTREM grosse Unterschiede darin, wie stark die Abweichungen von diesem Ideal sind. Und wenn mich der Eindruck nicht täuscht, weicht die Psychoanalyse dann doch wesentlich stärker von diesem Ideal ab, als viele andere vergleichbar alte Wissenschaftszweige (z.B. die klassische Thermodynamik, die spezielle Relativitätstheorie oder die statistische Genetik). Manchmal sind diese Abweichungen dann auch so gross, dass sich die Frage stellt ob man eine bestimmte Disziplin überhaupt als Wissenschaft klassifizieren sollte.

Der zweite Punkt betrifft die Frage ob ein Mangel an Doppelblind-Studien ein grundsätzliches Problem für die Psychoanalyse darstellt. Hier wird darauf verwiesen das auch die Physik keine Doppelblind-Studien verwendet. Das Doppelblind-Studien in der Physik und Chemie nicht gängig sind, hat ja einen guten Grund. Das Kompressionsverhalten oder die Reaktionsgeschwindigkeit eines Gases oder ein Phasenübergang in einem Halbleiter wird ja nicht durch persönliche Beziehungen zwischen dem Forscher und dem Forschungsgegenstand beeinflusst. Und ein Molekül verhält sich ja nicht deswegen anders weil ich ihm "sage", dass es in einer Kontroll-Probe ist. Hingegen sind solche Effekte bei menschlichen Patienten sehr gut dokumentiert und Doppelblind-Studien sind dort ein sehr gutes Werkzeug um zu unterscheiden, ob ein beobachteter Effekt auf dem vermuteten Wirkmechanismus beruht oder vielleicht doch auf anderen Mechanismen (z.B. Placeboeffect und Co.).

Das soll jetzt aber sicherlich nicht heissen, dass alles was sich nicht dem Popperschen Ideal annähert und/oder Doppelblind-Studien verwendet als akademische Disziplin oder Therapieform wertlos wäre. Aber es gibt durchaus ein recht breites Spektrum der "Wissenschaftlichkeit" verschiedener menschlicher Aktivitäten. Und, es ist sehr wohl hilfreich sich bewusst zu sein wo eine bestimmte Aktivität in diesem Spektrum zu verordnen ist.

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Das Kompressionsverhalten oder die Reaktionsgeschwindigkeit eines Gases oder ein Phasenübergang in einem Halbleiter wird ja nicht durch persönliche Beziehungen zwischen dem Forscher und dem Forschungsgegenstand beeinflusst.

Kennen Sie Heisenberg? Hinweis: Unschärferelation

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Heisenberg kenne ich zwar nicht persönlich, aber inhaltlich ;-) zumindest in dem Umfang, der für diese Diskussion notwendig ist. Die Tatsache, dass sich der Zustand einzelner Quantenobjekte (sprich Atome oder subatomarer Teilchen) nicht messen lässt ohne diesen Zustand zu verändern bzw. das die Genauigkeit der Messung einer Eigenschaft auf Kosten der Genauigkeit in der Messung einer gekoppelten Eigenschaft (bekanntestes Beispiel: Impuls und Ort) geht ist mir bekannt. Die von mir angesprochenen Beispiele betreffen aber makrosskopische Objekte, und bei denen sind die Effekte, die durch die Unschärfenrelation verursacht werden, so verschwindend gering, dass sie wesentlich kleiner sind als die Messfehler, die man realistischerweise erreichen kann. Mit anderen Worten, sie sind irrelevant.

Eine quantenmechanische Messung würde ich auch nicht als den Aufbau einer "persönlichen Beziehung" einordnen. Kurzum, Placeboeffekt und die Heisenbergsche Unschärferelation haben rein gar nichts miteinander zu tun.

Wenn Sie mir nicht glauben, können Sie ja gerne einmal eine bestimmte Menge Gas auf das halbe Volumen komprimieren und dem Gas dabei einmal sagen, dass Sie eigentlich gar nichts machen, und beim zweiten mal, dass sie fest daran glauben, dass der zusätzliche Druck gut für es ist. Sie werden vermutlich beobachten, dass das Gas sich in beiden Fällen exakt gleich verhält und vielleicht auch, dass die Leute in Ihrer Umgebung Sie etwas komisch anschauen ...

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Sorry, aber dieser Beitrag ist mir inhaltlich zu wenig trennscharf.

Die Psychoanalyse ist

  • eine Theorie

  • eine Methode

  • eine Therapie

Das DSM (und des ICD - auf im Artikel überhaupt nicht eingegangen wird, obwohl es die Grundlage für jegliche Krankenkassen-Abrechnung nach Erbringung einer psychotherapeutischen oder psychiatrischen Leistung in der CH darstellt!) bildet den Versuch ab, psychische Krankheiten zu unterscheiden und beschreibbar zu machen.

Wie beispielsweise eine Depression pathogenetisch verstanden wird, ist gar nicht Sinn und Zweck eines solchen Klassifikationssystems. Genauso wenig die Frage, wie jemand mit Depression behandelt werden soll, kann oder muss.

Die Psychoanalyse als Therapiemethode kann auf diese beschriebenen Diagnosen ohne Weiteres angewendet werden. Das Aufarbeiten einer singulären Lebens­geschichte bleibt nach wie vor ein möglicher Bestandteil der Behandlung und es ist absurd, zu behaupten, dass durch die Entwicklung eines Klassifikationssystems eine "Lebens­geschichte für irrelevant erklärt wurde" und "der Psycho­analyse ihre Grundlage entzogen [wurde]".

Auch die Bemerkung, es habe das Credo gegolten "Hört endlich auf, mit den Patienten zu reden, lasst sie Pillen schlucken" wäre eine Diskussionsgrundlage dafür, ob man Patient:innen psychotherapeutisch oder pharmakologisch (was sich im Übrigen gar nicht ausschließt ...) behandeln soll, nicht aber dafür, ein rein diagnostisches Klassifikationssystem einer Behandlungsmethode gegenüber zu stellen.

Unter dem Strich ist diese Artikel für mich im Kontext der dargelegten Punkte sehr irreführend.

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Multifunktional
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Danke. Genauso sehe ich dies auch und habe ich versucht in meinem Kommentar zu formulieren!

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Antonia Bertschinger
Schreiben und Recherchieren
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"Die Symptome mussten rein beschreibend sein, es wurden keine Ursachen als Kriterium für eine Diagnose zugelassen. " Vielen Dank für diesen Satz. Ich verstehe jetzt endlich, warum ich mit psychiatrischen Diagnosen so nichts anfangen kann, von ADHS bis Hochsensibilität. Sie beschreiben und katalogisieren Verhaltensweisen, ohne das Geringste zu erklären.

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Biologin mit Diss in Virologie
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Hinweis: auch für alle anderen Krankheiten werden Diagnosen mit ‚beschreibenden’ Symptomen (zB Fieber) oder Manifestationen bzw. basierend auf Laboranalysen oder anderen Messwerten gestellt. Auf die Ursachen kann (im besten Fall) immer nur mit hoher oder an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit geschlossen werden. Die Medizin gehört nicht zu den exakten Naturwissenschaften, und oft genug arbeitet sie mit Trial and Error (aka Ausprobieren).

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Antonia Bertschinger
Schreiben und Recherchieren
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Das stimmt natürlich - aber wenn es wie beispielsweise bei ADHS wahrscheinlich eine physiologische Ursache gibt, dann sollte die doch wenigstens standardmässig abgeklärt werden? Oder, spezifisch bei Hochsensibilität, weil es mich selber betrifft. Da werden tausende Seiten geschrieben und publiziert, die beschreiben, worauf unsereins alles empfindlich ist. Begründet wird das Ganze, wenn überhaupt, mit einem Halbsatz irgendwo in der Einleitung: "Diese Menschen haben wahrscheinlich ein empfindlicheres Nervensystem". Ich suche seit Jahren Studien mit Hirnstrommessungen, Cortisolspiegelmessungen, Nervensignalmessungen etc. an hochsensiblen Personen, die das beweisen und quantifizieren würden.
Es geht mir hier nicht darum, unsereins irgendwie zu "heilen" oder mit Medikamenten anzupassen, ich will es einfach nur verstehen. Und es wäre dann einfacher, Aussenstehenden, beispielsweise Vorgesetzten, zu erklären, warum man das Grossraumbüro nicht verträgt und sich auch nicht daran gewöhnen kann.
Nur zu sagen "Ich bin halt empfindlich, und hier sind ein paar Bücher, in denen beschrieben ist, wie empfindlich ich bin", das nützt leider gar nichts.

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Multifunktional
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Eine Diagnose ist per se immer beschreibend. Sie nimmt den „Status Quo“ auf. Die Ursachenforschung ist dann der zweite Schritt im therapeutischen Prozess. Dank der Diagnose weiss man nun aber, in welche Richtung diese gehen muss. Würden Ursachen in die Diagnose verpackt, wären vorschnelle und oftmals falsche Schlussfolgerungen die Folge. Nehmen Sie z.B. eine posttraumatische Belastungsstörung als Beispiel. Symptome könnten z.B. sein Schlafstörungen, Herzklopfen, Nervosität usw. Die Ursachen dafür sind so vielfältig, wie es Menschen gibt und reichen von Inzest über Vergewaltigung, Krieg, Autounfall bis zu Überfall oder traumatischer Geburt. Die Liste könnte beliebig weitergeführt werden. All dies hat in einem Diagnose-Manual nichts verloren, ist hingegen dann in der Therapie sehr wohl wichtig und muss aufgearbeitet werden. Bei der Diagnosestellung ist die Ursache aber nicht als „Symptom“ erkennbar. Eine Vergewaltigung ist ja kein Symptom und kann als Auslöser auch zu ganz verschiedenen Krankheiten führen, welche dann alle wieder ganz unterschiedliche Symptome haben (z.B. Depression, selbstverletzendes Verhalten, Angststörung usw.)

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Ich bin keine Psychologin, also nicht vom Fach. Doch scheint mir als ehemaliger „Psychologie-Patientin“, dass hier verschiedene Ebenen durchmischt und auf eine Stufe gestellt werden.
Nach meinem Verständnis dient das Diagnosemanual DSM dem Finden und Stellen einer Diagnose. Eine Patientin kommt mit psychischen Beschwerden, die Ärztin analysiert die Symptome und stellt eine Diagnose. Schritt 1 abgeschlossen. Eine Diagnose ist ja noch keine Therapie! Die Psychoanalyse könnte nun in einem zweiten Schritt angewandt werden, um die Ursachen der Krankheit zu erkennen und somit ein Puzzlestein auf dem Weg zur Heilung sein. Gerade bei psychischen Störungen braucht es ja oftmals mehrere solcher „Heilungs-Puzzlesteine“, auf dem Weg zur psychischen Gesundheit. Medikamende, Psychoanalyse, Körperarbeit usw. sind somit keine Kontrahenten oder alleinige Heilmittel sondern unterstützen die Patientin gemeinsam.

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So wie ich Herrn Strassberg verstehe, besteht das Problem darin, die Patienten auf die DSM Einzeldiagnosen zu reduzieren, die dann mit Standard-Therapien gemäss Stand der Forschung zu den einzelnen Themen abgearbeitet werden, statt dass die Lebensgeschichte jedes Patienten und jeder Patientin im Vordergrund steht. Beispiel:
Ein Jugendlicher verliert seine Eltern, wird depressiv, entwickelt dann auch noch eine Zwangsstörung, greift zu Selbstmedikation mit Drogenkonsum, entwickelt weitere dissoziative Störungen etc.
Nach der DSM Methodik wird das alles fein säuberlich aufgelistet, und dann Checklisten-mässig separat, eventuell sogar mit verschiedenen Spezialisten und parallelen medikamentösen Behandlungen abgearbeitet und abgerechnet. Alles pseudowissenschaftlich untermauert mit dem besten Medikament und der besten Therapie für die jeweilige Störung.
Dass so etwas nicht zielführend sein kann, leuchtet mir ein.

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Ich habe Herrn Strassberg nicht so verstanden und kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass verantwortungsvolle Psychiaterinnen oder Psychologen so arbeiten. Meine Erfahrung als Patientin und Angehörige von Patientinnen ist eine andere.

Edit: ich habe diese Passagen von Strassberg nochmals gelesen und vielleicht haben Sie Recht, dass er dies so gemeint hat wie Sie in Ihrem Kommentar schreiben. Umso weniger bin ich mit ihm aber einverstanden, da eine solche Arbeitsweise weder das Ziel des DSM sein kann, noch dass so gearbeitet wird (meine Erfahrung).

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Ich weiss nicht so recht. So vieles geht mir durch den Kopf nach dem Lesen des Artikels und der Reaktionen. Irgendwann dominierten die Psychoanalytiker Diskussionen in allen möglichen Bereichen. Dann Neurologen, Anthropologen, Wissenschafter, Welterklärer, gute Vermarkter. Psychopharmaka waren immer wieder verschrien - aber wer möchte mit schweren psychischen Leiden in der Zeit der Arsenkuren und Elektroschocks leben? Wer möchte seine Eigenart obdachlos und ohne Einkommen auf den Strassen irgendeiner Grossstadt ausleben? Ist es heute schwieriger oder einfacher, "speziell" zu sein als z.B. vor 50 Jahren? Ich möchte jedenfalls die Erkenntnisse zum Unbewussten und wie es jeden Einzelnen, jede Einzelne beeinflusst, nicht missen.

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Wow !
Das soll bitte nicht als 'schnöde' verstanden werden; aber ich bin echt überrascht und erfreut über diesen differenzierten und klar(sichtig)en Artikel - danke Herr Strassberg !

Jetzt wäre es vielleicht angezeigt, diese Wissenschafts-Fortschritts-Kritik auf die Medizin - besonders zu Pandemie-Zeiten - anzuwenden. Leider würden dann vielleicht ca. 2/3 der REPUBLIK-Artikel der letzten 2 1/2 Jahre ihren pseudo-wissenschaftlichen Halt verlieren.

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Können Sie uns diese Beiträge auflisten? Bin interessiert daran, bei welchen Beiträgen Sie „pseudo-wissenschaftlichen Halt“ identifiziert haben.

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P. H.! Schon wieder ein Abo abgeschlossen, nachdem Sie in zwei jüngsten Kommentaren Ihre Kündigung angekündigt haben?

Herzlich willkommen in der Verlegerschaft der Republik.

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Ich frage mich jedes Mal erneut ob ich ihre Rubrik kommentieren soll oder nicht.

Ich möchte nicht auf die Kritik am DSM eingehen, ausser auf den Schluss den sie daraus ziehen. Nur weil die Pharmaindustrie erfolgreich ihre Interessen durchsetzt, heisst das nicht, dass sich daraus folgern lässt, dass die Kritik an der Psychoanalyse deswegen nicht gerechtfertigt sei.

Irvin Yalom, ein eher bekannter Psychoanalytiker beschreibt in seinen Büchern immer wieder, dass es durchaus Probleme in der Psychoanalyse gibt und gab. Nämlich genau die zwei ersten Punkte. Nämlich die Deutungshoheit und auch die Distanz/Nähe gerade von männlichen Psychotherapeuten und weiblichen Patientinnen.

Es gibt allerdings jedoch einige Punkte die wirklich einfach nur einen Ausschnitt der Realität abbilden. Sie schreiben sehr absolut:

«Für eine Arbeit zur Psycho­analyse bekommt heute niemand Geld gesprochen»
Dabei gibt es zum Beispiel die International Psychoanalytic University (IPU) in Berlin.

«auf eine Stelle im Fach Psychologie braucht sich eine Psycho­analytikerin gar nicht erst zu bewerben»
Jain. Zumindest wenn es zur Therapie kommt stimmt dies nicht. Bis vor kurzem waren in Deutschland nur zwei Therapieformen anerkannt von Krankenkassen: Verhaltenstherapie und Psychoanalyse. Die systemische Therapie wird erst seit 2008 als wissenschaftlich anerkannt.

Das heisst auch, dass ihre Schlussfolgerung «Die Entscheidung, dass die Psycho­analyse nicht wissenschaftlich und nicht auf der Höhe der Zeit ist, wird mit anderen Worten gefällt, bevor die Forschung überhaupt begonnen hat.» nicht haltbar ist.

Sie haben meines Wissens schon in einem früheren Kommentar bemängelt, dass Sexualität weitgehend eliminiert wurde und führen das auf die Gesellschaft in der USA zurück. Das mag ein Teil sein. Der andere, weitaus wichtigere: Die Sexualität wurde als Basis der Theorie entfernt, weil es deutlich bessere Erklärungsmechanismen gibt.

Wem man wirklich keine Freud-Feindlichkeit nachsagen kann, ist Erich Fromm. Er hat sich bis zum Schluss als Freudianer bezeichnet. Er schreibt im Vorwort zur der Seele des Menschen:

«Neben der Behandlung dieser Probleme möchte ich in diesem Buch das Verhältnis meiner psychoanalytischen Vorstellungen zu Freuds Theorien klarstellen. Ich war nie einverstanden, wenn man mich einer neuen „Schule“ der Psychoanalyse zuordnete, mag man sie nun als „kulturelle Schule“ oder als „Neo-Freudianismus“ bezeichnen. Ich bin der Überzeugung, dass viele dieser neuen Schulen zwar wertvolle Einsichten entwickelt, aber auch viele der wichtigsten Entdeckungen Freuds dabei wieder verdeckt haben.

Ganz gewiss bin ich kein „orthodoxer Freudianer“. Tatsächlich ist ja eine jede Theorie, die sich innerhalb von sechzig Jahren nicht ändert, aus eben diesem Grund nicht mehr die ursprüngliche Theorie des Meisters; sie ist eine versteinerte Wiederholung, und als Wiederholung ist sie dann in Wirklichkeit eine Entstellung.

Freud hat seine grundlegenden Entdeckungen in einem ganz bestimmten philosophischen Bezugssystem konzipiert, nämlich dem des mechanistischen Materialismus, zu dem sich die meisten Naturwissenschaftler zu Beginn unseres Jahrhunderts bekannten. Meiner Meinung nach erfordert die Weiterentwicklung von Freuds Gedanken ein anderes philosophisches Bezugssystem, nämlich das des dialektischen Humanismus. Ich versuche, in diesem Buch zu zeigen, dass Freuds weltanschauliche Prämissen seiner größten Entdeckungen, Ödipuskomplex, Narzissmus und Todestrieb im Wege standen und dass diese Entdeckungen, wenn man sie davon befreit und in einen neuen Bezugsrahmen herüber nimmt überzeugender und bedeutungsvoller werden.

Ich glaube, dass das Bezugssystem des Humanismus mit seiner paradoxen Mischung aus schonungsloser Kritik, kompromisslosem Realismus und rationalem Glauben eine fruchtbare Weiterentwicklung des Werks ermöglichen wird, zu dem Freud die Fundamente gelegt hat.»

Weitere wissenschaftliche Kritik und Weiterentwicklung Freuds Arbeit gibt es in seinen Büchern «Jenseits der Illusion» und «Sigmund Freuds Psychoanalyse - Größe und Grenzen».

Seine Konzepte werden auch weiter wissenschaftlich erforscht, u.a. gibt es eine Fromm-Professur an der IPU. Auch in der Wissenschaft weit rezipiert wird weiterhin der Autoritäre Charakter, welcher oft fälschlicherweise Adorno zugeschrieben wird, aber eigentlich von Fromm als Teil des Gesellschaftscharakter zuerst veröffentlicht wurde. Dieser gründet auf dem Konzept der Charakterlehre Freuds, obwohl natürlich einige notwendige Aktualisierungen durchgeführt wurden.

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Zur Beruhigung erhitzter Gemüter bei der Frage, ob Psychoanalyse, Verhaltenstherapie (oder eine andere Richtung) "die wissenschaftlich gesehen einzig wirksame Methode" sei, kann ich auf die ausserordentlich umfangreiche Metastudie von Bruce E. Wampold et al. hinweisen, nachzulesen im Buch: "Die Psychotherapiedebatte; Was Psychotherapie wirksam macht" (Eine Übersetzung aus dem Amerikanischen; hogrefe Verlag, Bern, 2015). Diese Meta-Untersuchung von Studien über einen Zeitraum von fast 50 Jahren hat gezeigt, dass die untersuchten Richtungen der Psychotherapie, nämlich psychoanalytische Therapie, Verhaltenstherapie und humanistische Therapie gleich wirksam sind. Alle drei Richtungen sind 'absolut' wirksam, d.h. sie sind besser wirksam als wenn keine Therapie gemacht wird. 'Relativ' ist punkto Wirksamkeit keine der drei Richtungen den andern überlegen. Was macht denn die Therapie überhaupt wirksam, wenn nicht die ihr zugrunde liegende Methode? Die seit den 60er Jahren bestehende Forschung auf diesem Gebiet glaubte lange, dass es gelungen sei, den Nachweis zu erbringen, dass die Verhaltenstherapie den anderen Richtungen überlegen und die einzige sei, deren Wirksamkeit belegt werden könne. Dies hat sich - was schon lange unter Therapeut:innen bezweifelt wurde - zumindest aufgrund dieser sehr umfangreichen Metaanalyse als nicht stichhaltig erwiesen.
Für die Wirksamkeit von Bedeutung haben sich die folgenden Parameter herausgestellt: Kompetenz der Therapeut:in in einer Methode, Plausibilität ihrer Handlungsanweisungen resp. ihrer Deutungen für den Patienten/die Patientin, Aufbau einer vertrauensvollen zwischenmenschlichen Beziehung und die Überzeugung der Patient:in, dass ihm/ihr geholfen wird. Ich glaube diese umfangreiche Gemeinschaftsarbeit von amerikanischen, deutschen und schweizerischen Forschern kann helfen, die alten Glaubenssätze für oder gegen eine der Therapieformen zu überwinden und jeder der hochentwickelten Richtungen ihren Platz in der Psychotherapie zuzugestehen. Das wird m.E. auch für neuere Methoden ihre Gültigkeit haben. Man soll die Studie nicht missverstehen: es geht nicht darum, dass man/frau als Therapeut:in irgendetwas tun kann; nur fachlich kompetente Therapeut:innen sind wirksam.
Ich kann der Hauptaussage von Strassbergs Kolumne nur beipflichten: dass die Behauptung, Psychoanalyse sei 'veraltet', meist bloss verrät, dass der Denunziant von der Methode wenig (oder keine) Ahnung hat, geschweige denn, dass er/sie Freud substantiell gelesen hätte.

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Wie wird die Dauer der Therapie beurteilt? Kosten sind ja heute nicht zu vernachlässigen (wenn auch ich sehe, dass verglichen mit anderen Medizingebieten die Psychiatrie/Psychotherapie ein Mauerblümchen Dasein führt).

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Dazu nimmt der Forschungsbericht keine Stellung. Dies hat wahrscheinlich damit zu tun, dass die meisten der untersuchten Studien (es sind je nach Fragestellung über 500, teilw. über 1000 Studien berücksichtigt worden) über sehr unterschiedliche Zeiträume geführt wurden. Kommt hinzu, dass jede einzelne Studie bezüglich der Studiendauer therapiefremde Kriterien formuliert; d.h. man untersucht die Ergebnisse bezüglich einzelner Symptome nach 3,6 oder 12 Monaten unabhängig davon, ob der/die Patient:in noch länger in der Therapie verweilen möchte oder nicht.
Da allgemein zur Therapiedauer keine anerkannten Forschungsergebnisse vorliegen, legen die Kassen in der Schweiz die Therapiedauer selber fest. Im Normalfall wird nicht mehr als eine Stunde pro Woche bezahlt. Die Psychiater:innen haben nach 12 Monaten dem Vertrauensarzt Bericht zu erstatten und um eine Verlängerung der Therapie nachzusuchen. Wie häufig einer Verlängerung der Therapie stattgegeben wird, entzieht sich meiner Kenntnis.
Die Verhaltenstherapie hatte sich ursprünglich zum Ziel gesetzt, in wenigen Sitzungen, deren Zahl (z.B. 6 oder 12) zum voraus festgelegt wurde, bestimmte Therapieziele zu erreichen. Da diese Ziele meistens rein symptomenbezogen definiert wurden, wurde auf die Frage, ob der Patient punkto Ich-Stärke, Lebensqualität, soziale Einbindung, Zufriedenheit, etc. eine Besserung zeigt, gar nicht eingegangen. Schon bald zeigte es sich, dass die nach wenigen Sitzungen gebesserten Symptome (wie z.B. Angst) nicht nachhaltig gebessert wurden, wenn man nicht auf ihren Zusammenhang im Leben des Patienten hin untersucht und therapiert hatte. Dass dieser Therapieansatz mehr Zeit in Anspruch nimmt, scheint inzwischen unbestritten zu sein.

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Danke für diesen Beitrag. Wieviele Kinder werden mittels des DSM-III mit Diagnose und Medikamenten versehen!

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Multifunktional
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Diagnose und Therapie sind zwei Dinge. Niemand wird mittels DSM-III mit Medikamenten versehen. Die Diagnose ist nur der Startpunkt, auf den es eine Vielzahl an möglichen Reaktionen gibt. Medikamente sind nur eine Möglichkeit von vielen und gehen keineswegs zwingend aus einer Diagnose auf Basis des DSM hervor.

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Leserin
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Dieser Beitrag lässt mich etwa so zurück wie eine Fahrt im Pendolino: Mit einem mulmigen Gefühl. Tatsächlich wäre die Rolle, die das DSM III, bzw. unterdessen das DSM V, spielt, dessen Entstehung und die Konstruktion von mental health, sowie die Profitströme, die Generierung von Forschung und Supportsystemen, Berufs- und Funktionsprofilen, z.B. im Bildungssystem, eine Geschichte, die ich mir schon länger wünsche -- in der Republik oder überhaupt in der öffentlichen Diskussion in der Schweiz.
Interessant dazu ist z.B. die Arbeit von James Davies.
Dass das DSM III (und eben mit keinem Wort die Verbindlichkeit, die Kritik der WHO beispielsweise und die Komplizität des Bundes, das Ausmass selbst in globalen Zusammenhängen, ganz zu schweigen von der kollateralen Produktion von Armut) hier beiläufig der Rehabilitation von Sigmund Freud und der Psychoanalyse dienstbar gemacht wird, ist -- sentimental?
Die Perspektive der Psychoanalyse hätte wahrscheinlich tatsächlich einiges zu bieten -- dazu wäre aber etwas mehr nötig als ein Zitat von Kant und wehmütiges Beschwören der Aufklärung.,

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Biologin mit Diss in Virologie
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Leider nur zu wahr, was Strassberg zum Thema Leben als Forscher:in schreibt. Es ist knallhart, und wird wegen zunehmender Finanzierung der Unis durch die Privatwirtschaft immer weniger unabhängig. Das war meine grosse Desillusionierung während der Diss: dass Wissenschaft viel weniger objektiv ist, als ich geglaubt hatte. Und dass alles mess- und zählbar werden muss: siehe Apple-Watch etc…

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Hatte ähnliche Erlebnisse, bei mir äussertem sie sich dahingehend, dass Geld für die Diss und andere Forschungsprojekte im Laufe der Diss (Papers) nicht zu finden war und ich schlussendlich aus Ermangelung an Finanzierung den Bettel hinschmeissen musste. Geforscht wird, was genehm, und nicht, was interessant ist. Mehrere Profs haben nämlich Interesse an meinem Forschungsthema bekundet, doch die Finanzierung ist halt eine andere Frage. Wäre sogar an Konferenzen eingeladen gewesen mit Papers, doch wollte das niemand bezahlen. Meine Sicht auf Wissenschaft wurde so völlig deillusioniert.

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Biologin mit Diss in Virologie
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Meine Freundin forscht über Leptospirose. Eine Zoonose, die in einigen Ländern des globalen Südens weit verbreitet ist und bei Mensch und Tier eine bedeutende Krankheitslast verursacht. Finanzierung für solche Studien finden sich kaum, es interessiert einfach kaum jemanden. Ich bin damals ausgestiegen, und habs nicht bereut.

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Aus Neugier: Wie empfanden Sie in den letzten zwei Jahren die mediale Hetzkampagne gegen Menschen, welche die Objektivität "der" Wissenschaft in Frage stellten?

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Biologin mit Diss in Virologie
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Eine gute Frage. Hab eine allfällige Hetzkampagne sicher nur am Rand mitbekommen, weil ich kein TV habe und nicht die üblichen Blätter lese. Wie Anonym 4 weiter oben schreibt, gibt es nicht DIE Wissenschaft. Ich zitiere: „Aber an zwei Punkten habe ich mich dann doch gestossen.
Der erste Punkt ist die Aussage, das keine Wissenschaft dem Popperschen Ideal perfekt entspricht. Und diese Aussage wird dann verwendet, um zu suggerieren, dass die Abweichung von diesem Ideal in allen akademischen Disziplinen vergleichbar ausgeprägt wäre und auch per se kein Grund wäre eine Disziplin als unwissenschaftlich zu brandmarken. Dem ist aber sicherlich nicht so. Innerhalb der Wissenschaften und oft auch zwischen bestimmten Unterzweigen derselben Wissenschaft gibt es EXTREM grosse Unterschiede darin, wie stark die Abweichungen von diesem Ideal sind.“
Es ist richtig, dass die Richtung, in die Wissenschaft forscht, stark politisch-gesellschaftlich und in den letzten Jahren verstärkt auch von der Wirtschaft (Pharma, Banken, Agrarindustrie) beeinflusst wurde (darum gibts so wenig Medikamente spezifisch für Kinder oder seltene Krankheiten). Dies und die Tatsache, dass nicht jedes Studienresultat wirklich ‚nachgekocht‘, sprich überprüft und diskutiert wird, hat zu einem Verfall der Glaubwürdigkeit geführt. Man kann heute für fast jede Aussage eine (wie auch immer getürkte) Studie finden. Die Essenz der Wissenschaft wäre aber, dass alle, die forschen, offen sind für eine Diskussion, und dass - zumindest in den Naturwissenschaften - Thesen mit Experimenten untermauert oder vertieft oder widerlegt werden. In der Coronapandemie blieb für diesen Prozess kaum Zeit, und man musste oft mit ungeprüften Resultaten politisch entscheiden. Das kann man zurecht kritisieren. Basierend auf der Erfahrung mit der ersten SARS-Krise 2003, in der weltweit die Barrieren von Konkurrenz und Kampf um Forschungsgelder sprunghaft für eine gewisse Zeit sanken (auch sichtbar in der Solidaritätswelle in der CH zu Beginn der Pandemie) schliesse ich, dass die Mehrheit der Wissenschaftler in Krisenzeiten mit viel gutem Willen zusammenarbeiten und informieren (Ausnahmen gibt es natürlich immer).
Ich persönlich hatte darum Mühe mit Behauptungen, der PCR-Test sei zu sensitiv (hab selber unzählige gemacht und weiss worauf es ankommt). Es blieb bei Behauptungen, es wurde keine korrekte Studie dazu gemacht. Was für mich keine Rechtfertigung ist, solche Leute zu „bashen“. Darum: auch wenns in der Wissenschaft oft nicht perfekt läuft, und viel Mist und Unwesentliches publiziert wird, haben wir dazu, sofern wir uns darauf einigen, dass die Ratio für uns als Menschheit wichtig ist, keine wirklich gute Alternative (ich zum Beispiel leide häufig an schwerer Migräne, und mein Mann hatte kürzlich Krebs - doch dank „der Wissenschaft“ gibt es heutzutage gute Medikamente dagegen).

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Also ich machte vor 40 Jahren eine Psychoanalyse und ich profitiere noch heute davon und denke, wenn mehr Lehrerinnen ebenfalls eine solche Therapie machen würden, gäbe es wahrscheinlich weniger Burn-Outs. Wäre in der Ausbildung zu integrieren. Auch für Politikerinnen wäre es von Vorteil, denn dann merkten sie, was ihrem Ego geschuldet und was wirklich nützlich fürs Gemeinwohl. Oder für CEOs. Dito. Ergo, weniger Klimawandel und Erdenraubbau zwecks sinnlosen Profiten.

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Von oben verordnete Psychoanalyse bringt rein gar nichts. Damit man sich darauf einlassen kann, braucht es intrinsische Motivation und wohl auch etwas Leidensdruck. Im Verborgenen des eigenen Bewusstseins zu grübeln und Verdrängtes hochzuholen ist nicht unbedingt angenehm.

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Sagen wir - wenn gewisse Blutwerte erreicht werden können,
a) durch (lange, monate-, jahrelange) Gespräche oder durch die Einnahme (evtl. lebenslang) einer Pille, was sagt dies aus über denjenigen, der die Pille oder das Gespräch vorzieht?
Und was sagt dies aus über die Gesellschaft, wo die Wissenschaft, die die Pille erfindet, eines der Teile ist, die im Dienst dieser Gesellschaft arbeitet?
Könnte es sein, dass der Blutwert zwar gleich ist, aber das Darum-Herum (die vielen anderen Themen, die ebenfalls erörtert und bearbeitet wurden während dieser langen Gesprächen) nicht im entferntesten gleich?

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Multifunktional
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Warum immer „entweder oder“? Was wäre wenn die Pille in Kombination mit Gesprächen zum Erfolg führen würde? Aber warum „würde“, ist es doch wohl (meine Meinung) die heutzutage weitverbreiteste Vorgehensweise. Das eine tun, das andere nicht lassen…

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Vielleicht, weil es bei gewissen Sachen eben entweder/oder ist und nicht, wie modernerweise gerne erwünscht, man eine Omelette ohne das Ei zu beschädigen und die Pfanne zu verschmutzen machen kann? Der direkte Weg führt nicht immer zum "Ziel". Dass man Wege gehen muss, evtl. Blasen kriegt, schwitzt, von einem Sanglier angefallen wird, ist durch eine Pille nicht auf gleicher Ebene ersetzbar. Vielleicht deshalb?

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Leserin
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Danke Herr Strassberg! Es gibt nicht viele Stimmen, die so unangepasst und klar sind wie die Ihre.
Auch Ihre Analyse des Begriffs „burn out“ hat mich sehr beeindruckt: Ich habe die letzten Abschnitte für meine Freundin in Kroatien übersetzt, was ihr geholfen hat, ihre jetzige Arbeitssituation besser zu verstehen.

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Leser, Biotech, Jazz, Sport
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Vielleicht ist vieles an der Psychoanalyse irrelevant und unwissenschaftlich. Wenn wir uns aber z.B. auf die spannende naturwissenschaftliche (what else) Forschung schwerer psychischer Traumata fokussieren (Traumata, die in unserem Epigenom und jenen unserer Kinder und vielleicht sogar Enkelkinder Spuren hinterlassen, siehe etwa Isabelle Mansuy et al.), hätten wir ein starkes Fundament dafür, der Psychoanalyse neuen Auftrieb zu geben (vorausgesetzt, wir überlassen Termini wie „Seele“ den Theologen…).

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Es gibt inzwischen in den Biowissenschaften sehr viele Forscher, die den Arbeiten zur transgenerationalen epigenetischen Vererbung (darum geht es meist wenn "umgangssprachlich" von "Epigenetik" gesprochen wird) sehr kritisch gegenüber stehen. Gerade was solche Effekte im Bereich der Verhaltens- bzw. Traumaforschung betrifft. Als diese epigenetischen Effekte ursprünglich beschrieben wurden war das alles sehr aufregend und "high profile". Der Hype war zum grossen Teil darauf gegründet, dass viele Biowissenschaftler hofften, dass man über diese Effekte neue biologische Mechanismen entdecken könnte, die man dann für die Forschung, molekulare Diagnose oder biotechnologische Anwendungen nutzen könnte. Diese Hoffnung wurde stark durch den Erfolg dieses Ansatzes bei RNAi und CRISPR/Cas befeuert, wo man auch durch das zurückverfolgen von zunächst unerklärlichen Effekten ganz neue, inzwischen gut verstandene und technologisch sehr wertvolle Mechanismen entdeckt hat. Leider ist das Feld der transgenerationalen epigenetischen Vererbung weiterhin darauf beschränkt immer neue phänotypische Effekte zu beschreiben, die angeblich epigentisch vererbt werden. Bzgl. der zugrunde liegenden Mechanismen hat sich über die letzen 15 Jahre (abgesehen von den frühen Forschungen an den sogenannten Agouti-Mäusen) aber so gut wie nichts getan. Böse Zungen würden vielleicht behaupten, dass in diesem Sinne die transgenerationale epigenetische Vererbung der Psychoanalyse vielleicht doch recht nahe steht ;-)

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annakatharina lobsiger sørensen
Freischaffende Künstlerin in Frankreich
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Danke für diesen Beitrag

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Ganz nebenbei behauptet der Autor, "dass auch die empirischen Wissenschaften interesse­geleitet sind und damit jeder Erkenntnis­fortschritt auch ein Ausdruck veränderter Macht­verhältnisse ist". Diese postmoderne Vorstellung passt zwar zur Überzeugung, dass akademische Arbeit wesentlich aus dem Reproduzieren der dominanten Erzählungen besteht, ist aber in seiner Absolutheit doch ziemlich offensichtlich falsch. Oder inwiefern ist die Korrektur der Eisenwerke im Spinat ein Ausdruck veränderter Machtverhältnisse?

Ohne den Glauben an eine objektive Wirklichkeit und der Überzeugung, dass wir uns ihr auch ohne die Vermittlung durch die Herrschenden nähern können, ist Aufklärung und eine liberale Gesellschaft nicht möglich.

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«Eisenwerke im Spinat» - schöner freudscher Verschreiber ;)

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Die Diskrepanz zwischen Theorie und Therapie bei der Psychoanalyse scheinen mir (weiterhin) das Problem zu sein. Als psychoanalytischer Laie muss ich feststellen, dass oft das «mit dem Patienten reden» ein Reden des Patienten ist und keine Rückmeldung durch die Analytiker:in erfolgt. Und das über sehr lange Zeit (ausser die Patient:innen haben den Mut, zu rebellieren - was nicht einfach ist, weil sich eine Abhängigkeit ergeben kann). Ich nehme an, dass auch in der freudschen Psychoanalyse sehr verschiedene Wege begangen werden. Mehr dazu von Herrn Strassberg wäre interessant. Ein schönes Therapie-Beispiel ist meiner Ansicht nach die in der ARTE-Serie «In Therapie» dargestellte - nach Lacan, wohl auch nicht «rein».

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Da kann ich nur zustimmen. Therapeuten gibt es viele, aber „die richtige“ Therapeutin zu finden, die einem helfen kann, ist oftmals wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen.

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Da Psychotherapie auf der Basis einer guten, vertrauensvollen Beziehung beruht, in der man nach einer gewissen Zeit zu einer gegenseitig verständlichen, gemeinsamen Sprache findet, ist es nur logisch, dass nicht jedes Patient-Ärztin Gespann das erfüllen wird. Am ehesten von Erfolg ist, dass man-frau mit mehreren Therapeut:innen Vorgespräche führt und dann den Bauch entscheiden lässt, bei wem man sich in Therapie begibt. Es kann sein, dass man-frau von einer Methode überzeugt ist, was die Wahl manchmal vereinfachen kann. Dennoch: erst nach einiger Zeit in der Therapie lässt sich beurteilen, ob man das Gefühl entwickeln konnte, verstanden zu werden und Vertrauen zur Therapeutin aufbauen kann. Sollte dem nicht so sein, muss man-frau es zur Sprache bringen oder den Therapeuten wechseln. Gewisse Enttäuschungen und Irritationen sind auch in einer letztlich erfolgreichen Therapie fast immer vorhanden und Teil des gesamten Prozesses. Ihrer gewahr zu werden, ist Aufgabe der Therapie, denn sie stehen meistens mit den Lebensproblemen der Patien:in in Zusammenhang.

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Die angesprochene Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis ist sämtlichen Psychotherapien inhärent und kein Spezifikum der psychoanalytischen Therapie. Keine Theorie vermag eine Antwort auf das Einzelschicksal der Patient:innen und auf die Individualität des Therapeuten zu geben. Die Psychotherapie hat nicht ‚zu reden‘ mit dem Patienten. Sie kann nur auf die Rede des Patienten eingehen und Deutungsvorschläge resp. Verhaltensvorschläge machen. Sofern die Patientin einem Deutungsvorschlag zustimmt, kann versucht werden, Handlungsoptionen und weitere Verknüpfungen zu entwerfen. Natürlich scheint es Analytiker:innen zu geben, die lange zuwarten, bevor sie eine Deutung in den Raum stellen, was angesichts der Erwartung des Patienten, der Analytiker müsse ‚wissen‘, was zu tun sei, zu einer Enttäuschung führen kann. Die Analytiker:in ‚weiss‘ es eben auch nicht; jede Therapie geht von der Illusion aus, der Anlytiker ‚wisse wie es geht’ und muss den Patienten darin grundsätzlich ent-täuschen, damit er/sie beginnt, selber nach Lösungen zu suchen. Wenn schon, kann nur die Patient:in ‚wissen‘ und die Analytikerin fungiert als Geburtshelferin für Lösungsversuche, über die der Patient verfügt.
Wenn Patient:innen die Enttäuschung formulieren, der Analytiker sage so wenig, soll man sie ermuntern, ihre Enttäuschung dem Analytiker gegenüber direkt zu formulieren. Erst dann hat die Analytikerin eine Chance, darauf einzugehen.

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Hausarzt im Ruhestand
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Lieber Herr Strassberg,
Vielen herzlichen Dank für diesen aus meiner Sicht sehr wichtigen Text. Vieles hat mir aus dem Herzen gesprochen! Ich war 25 Jahre als Hausarzt tätig und habe mich immer für die Lebensgeschichte der Patient:innen interessiert, die mich aufsuchten. Da nicht psychiatrisch ausgebildet, waren für mich DSM-III-Dignosen nicht sehr wesentlich, es ging mir viel eher darum, mir immer wieder klar zu machen, ob ich bei der Betreuung einer Person mit ihrer Lebensgeschichte der Situation noch gewachsen war, also immer noch dieser Person im Hinblick auf den Umgang mit ihrer Lebensgeschichte etwas bieten konnte, oder ob ich sie einer Fachperson weiterweisen musste. Im Rückblick stelle ich fest, dass ich häufig mit Pschiater:innen zusammenarbeitete, die ein analytisches Vorgehen bevorzugten. Ich fuhr damit meistens gut (und die Reaktionen meiner Patient:innen bestätigten dieses Gefühl oft); es ist sehr schön, dank Ihren Ausführungen viele meiner Vermutungen bestätigt zu sehen und besser zu verstehen.

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Johanna Wunderle
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Lieber Herr S., Ihr Kommentar hat mir ausgesprochen gefreut. Wertschätzung für die Art und Weise wie Sie Ihre Patient:innen betreut haben.

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Johanna Wunderle
NL
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Zu den Artikel kann ich keine Stellung nehmen, da ich ihn schlichtweg nicht verstehe.
Wohl aber zu Freud.
Vor 55 Jahren habe ich eine Freudsche Analyse gemacht, die teilweise hilfreich war. Ich halte auch heute noch die Entdeckung von Freud, dass das Unbewusste in hohem Masse Denken und Fühlen beeinflusst, für sehr wichtig.
Vielleicht war die Analyse das Sprungbrett für spätere Entdeckungen von Techniken, die schnell und effizient waren. Die Klarsicht, Zuversicht, Funktionsfähigkeit und Well-Being brachten. Die zwei Letzteren haben mich, soweit ich das sehe, nicht überangepasst gemacht Herr Strassberg. Herzlicher Gruss. JW

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die Geschichte der Repression (Fortschritt als Repression) tönt spannend, dazu hätte ich gerne mehr gelesen. Andererseits ist es ja noch spannender, wie wir davon wegkommen.

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Ueber die sog. "Objektivität" der Forschung, des Forschers oder der multiplen Abhängigkeiten, die im Prozess der Forschung die Hand und das Auge und das Herz führen, möchte ich mich nicht mehr äussern. Zu evident scheinen mir die Verstrickungen.
Tipp an alle, die daran zweifeln und sich von einer Koryphäe die Sache erläutern lassen wollen: Paul Feyerabend - "Wider den Methodenzwang".
"Auch der einfachste Sinneseindruck enthält stets einen Bestandteil, dem die physiologische Reaktion des wahrnehmenden Organismus, aber nichts Objektives entspricht." - also subjektiv ist). Zitat aus obigem Buch, S. 86.

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Na das scheint mir aber eine recht "steile" Interpretation von Paul Feyerabends Werk. Anstatt aus diesem Zitat schlusszufolgern, dass Wissenschaft generell in einem Netz von Subjektivitäten und Abhängikeiten gefangen ist aus dem man sich unmöglich befreien kann, würde man Feyerabend wohl eher gerecht, wenn man sich den Einflusse subjektiver und sozialer Faktoren auf die wissenschafliche Praxis vor Augen führt , diesen zu verstehen sucht und dann seine Experimente / Studien so anlegt, dass diese subjektive Komponenten die Resultate nicht unnötig verzerrt. Feyerabend war weit davon entfernt ein Wissenschaftkritiker zu sein, er hat aber recht klar gemacht, dass der wissenschaftliche Prozess in der Praxis sich dann eben doch recht deutlich von dem Popperschen Ideal unterscheidet und dass dies auch durchaus dem wissenschaftlichen Fortschritt dienlich sein kann.

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Ich lese Spinozas ETHIK (sein Hauptwerk) Ich finde es erstaunlich, wie er im 17Jhdt seine Idee von den Affekten niederschreibt… dass es nämlich darum gehe, dass wir unsere Affekte kennen lernen, und dass wir unsern Verstand einsetzen, um mit diesen Affekten einen adaequaten Umgang zu finden. Diese Überlegungen, bei denen es natürlich um das Zwischenmenschliche geht, führen direkt in ein ethisches, respektvolles Verhalten hinein. Man nennt es auch 'Sozialisierung'. C.G. Jung hat ein Konzept geschaffen, das er TYPOLOGIE nennt, und zu welchem er sich meinem Gefühl nach von Spinoza inspirieren liess.. In der Einführung zum Buch schreibt Jung : wir wollen uns nicht nach unserem Affektverhalten beurteilen lassen! Wer weiss — vielleicht gäbe es weniger Krieg zwischen den Menschen, würde ein jeder nach Spinozas, respektive C.G.Jungs Affektverhalten leben!

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Ich denke, ich habe wohl einen Anstoss zu diesem Artikel gegeben mit meinem letzten Kommentar. Doch es geht nicht um "Entweder-Oder". Mir jedenfalls nicht. Weiterentwicklungen bedeuten nicht, dass das Vorherige als ungültig verworfen wird. Sondern sie legen sich wie eine weitere Zwiebelschale um das Bisherige herum, erweitern und und integrieren es.

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Bravo und danke! Lasst uns jetzt über das "Menschenbild" und sprechen. Genügt uns der Homo oeconomicus wirklich, als Garant der humanitas?

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in diesem Fall ohne Rolle
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Lieber Herr Strassberg, Ihre Texte lese ich in der Regel nur, wenn ich genügend Zeit habe, um mir im Anschluss darüber klar zu werden, warum genau ich mich wahlweise über den Text aufrege, ägere oder den Kopf schüttele. Der Text heute ist anders. Einigem kann ich zustimmen, anderem überhaupt nicht und insgesamt werde ich mit andauernder Lektüre immer ratloser, was der Text wirklich aussagen will. Der Schlussabschnitt allerdings löst schlicht und einfach Mitgefühl aus. Wenn permanent gebasht wird, was mir wichtig ist, reisst irgendwann verständlicherweise der Geduldsfaden. In diesem Sinne einen hoffentlich schönen Abend Ihnen, AB.

Edit: Präzisierung einer Formulierung.

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Leser
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Gut gebrüllt Löwe!

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Sehr wertvoller Beitrag. In der akademischen Psychologie wird das Forschungsfeld effektiv massiv reduziert auf Zähl- und Messbares. Die Ergebnisse sind daher oft ziemlich realitätsfremd, manchmal auch einfach banal. In der Praxisforschung gibt es diese Einschränkungen nicht. Der Erkenntnisgewinn der praxisnahen Forschung ist beachtlich. In der akademischen Forschung sind Anerkennung und Interesse dafür allerdings gering.

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Fausta Borsani
Geschäftsführerin
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Ich würde einen konziseren, einfacheren Text dazu vorziehen. Ein wichtiges Thema, aber viel zu lang, zu unstrukturiert und zu kompliziert geschrieben.

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