Das grosse Banken-Stockholm-Syndrom
Im Nachgang zur CS-Krise muss die Bankenregulierung radikal verschärft werden. Oder sagen wir: müsste.
Von Daniel Binswanger, 20.04.2024
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Das Zürcher Sechseläuten war ein einmaliger Tiefpunkt – und nein, ich rede nicht vom diesjährigen Böögg, sondern vom Sechseläuten 2023. Erinnern sie sich noch? Vor einem Jahr brannte der «Negativrekord-Böögg» so langsam – es dauerte 57 Minuten, bis er endlich explodierte –, dass er eine historische Schlechtest-Marke setzte. Und dieses Jahr? Toppen wir das locker. Wegen heftiger Windböen wurde der Böögg erst gar nicht angezündet.
Die Eidgenossenschaft hat sicherlich ernstere Probleme als Vollzugspannen bei der Scheiterhaufen-Folklore. Doch eine gewisse Symbolkraft sollte man dem fröhlich eskalierenden Totalversagen nicht absprechen.
Vor einem Jahr lag über den Zürcher Feierlichkeiten der schwere Schatten des CS-Untergangs. Pünktlich zum diesjährigen Kostümfest der Bankenstadt Zürich legte der Bundesrat seinen «Bericht zur Bankenstabilität» und zur dornenreichen Frage vor, welche Lehren nun zu ziehen seien aus dem Grossbanken-Desaster und welche Massnahmen ergriffen werden müssen, damit es sich nicht wiederholt. Der Versuch, die Regulierung systemrelevanter Grossbanken endlich in den Griff zu bekommen, nimmt jetzt einen kaum überraschenden Verlauf: eskalierendes Totalversagen.
Man kann es auch anders formulieren. Die Schweiz hat sich mit dem Bankenkoloss UBS, der seit der CS-Übernahme noch viel, viel grösser, systemrelevanter und bedrohlicher geworden ist für die Stabilität des Schweizer Finanzsystems, ein Problem eingehandelt, das sie schwerlich lösen wird. Man macht jetzt halt Kompromisse, beschwichtigt, so gut es geht, wurstelt ein bisschen weiter. Zwei Mal – 2008 und 2023 – stand die Schweizer Volkswirtschaft am Abgrund, aber mit viel Glück und viel Staatshilfe ist es beide Male gut gegangen. Wenn nicht radikale Massnahmen getroffen werden, kommt der Tag, an dem es nicht mehr gut gehen dürfte, an dem der Steuerzahler einspringen muss, mit sehr viel Kapital, das vernichtet werden wird. So wie es 2008 zum Beispiel in Irland und in Island geschah.
Was die Debatte seit dem CS-Debakel im März des letzten Jahres immer wieder deutlich gemacht hat und was der Bundesratsbericht jetzt quasi offiziell besiegelt: Diese Massnahmen werden nicht getroffen.
Die grosse UBS-Krise dürfte eines Tages kommen, die Frage ist nur, wann. Die heutigen Verantwortungsträgerinnen scheinen de facto darauf zu setzen, dass es dauern wird. Katastrophen, die man nicht verhindern will, sollen wenigstens später stattfinden.
Im Wesentlichen gäbe es drei effiziente Massnahmen, um das Schweizer Too-big-to-fail-Problem tatsächlich aus der Welt zu schaffen.
Erstens: Die gesetzliche Festschreibung einer viel höheren Leverage Ratio beziehungsweise einer ungewichteten Eigenmittelquote. Wenn die systemrelevanten Banken signifikant grössere Eigenmittelpolster hätten, als dies heute der Fall ist, würde das Risiko einer Vertrauenskrise der Einleger deutlich kleiner, sodass auch die Gefahr eines bank run deutlich kleiner würde. Der CS-Fall hat gezeigt, dass die heutigen Regulierungen ungenügend sind, um Vertrauenskrisen zu verhindern, die eine Grossbank innert kürzester Zeit zerstören können.
Das Problem mit dieser Massnahme: Zusätzliches Eigenkapital müsste erst aufgebracht werden. Wenn die UBS diesen Effort unternähme, würde sie auf lange Jahre deutlich geringere Gewinne ausschütten als ihre internationalen Konkurrentinnen und sich einen massiven Wettbewerbsnachteil einhandeln. Eine effiziente Regulierung systemrelevanter Banken müsste im globalen Massstab vollzogen werden, aber das wird nicht geschehen. Im Nachgang zur Finanzkrise hat sich die Staatengemeinschaft auf Basel III geeinigt – ein Regulierungsabkommen, das erst noch stufenweise implementiert werden muss und von dem schon heute niemand mehr glaubt, dass es künftige Systemkrisen verhindern wird.
Die Schweiz ist mit einem simplen Dilemma konfrontiert. Wenn die Eigenmittelquote nicht erhöht wird, bleibt das Too-big-to-fail-Problem ungelöst – und kann der Eidgenossenschaft jederzeit grösste Schwierigkeiten bereiten. Wenn die Eigenmittelquote erhöht wird, ist die UBS auf dem internationalen Markt nicht mehr konkurrenzfähig. Weder das eine noch das andere ist für die Landesregierung eine attraktive Option.
Zweiter Lösungsansatz: Die UBS wird eine langweilige Bank. Sie zieht sich aus dem Investmentbanking und dem Asset-Management weitgehend zurück, konzentriert sich auf das Schweizer Kerngeschäft und die Vermögensverwaltung. Auch diese Risikoverminderung würde die UBS aus der ersten Liga der internationalen Grossbanken ausscheiden lassen, die Gewinnmargen stark reduzieren, das Geschäftsmodell auf den Kopf stellen. Schon ein bescheidener Ansatz in Richtung der Trennung von Retail- und Investmentbanking – die Abtrennung des Inlandgeschäfts der CS – wurde zwar in einer ersten Phase lautstark eingefordert von der Politik, dann aber stillschweigend wieder kassiert. Die UBS will nicht langweilig werden: kä Luscht! Die Schweizer Bevölkerung verbleibt in der Geiselhaft ihrer Risikostrategien. Wenn es darauf ankommt, hat die UBS allemal den politischen leverage, um dafür zu sorgen, dass der Bundesrat und das Parlament kuschen.
Dritte Variante: Die UBS verlegt ihren Hauptsitz und ist nicht mehr länger eine Schweizer Bank. Es wäre vermutlich die sauberste Lösung: Dass die Schweizer Wirtschaft auf eine internationale Grossbank nicht verzichten kann, ist Humbug. Viele erfolgreiche Volkswirtschaften – die skandinavischen Länder, Österreich – haben keine nationalen Grossbanken. Dass es für eine kleine Volkswirtschaft wie die Schweiz enorm riskant ist, die Bilanzrisiken einer internationalen Investmentbank mitzutragen, wird sich vermutlich nicht ändern lassen. Die UBS soll ihren Hauptsitz nach New York verlegen. Dann kann sie im Krisenfall bei der US-Zentralbank Fed anklopfen gehen. Eine grosse Schweizer Tochtergesellschaft darf dann gerne weiterhin die Schweizer Wirtschaft mit Krediten versorgen. Gewichtige Expertenstimmen haben sehr klar gesagt, dass das eigentlich die beste Lösung wäre.
Aber natürlich wird auch das nicht geschehen. Man stelle sich Bundesrätin Karin Keller-Sutter vor, die kühl rechnend und frei von allen politischen Rücksichten die Fakten zur Kenntnis nimmt und Massnahmen ergreift, die zwar zu grossen Steuer- und Arbeitsplatzverlusten führen würden, aber für die langfristige Absicherung der Schweizer Volkswirtschaft am sinnvollsten wären. Das würde Weitsicht, Rückgrat und Prinzipienfestigkeit erfordern. Keller-Sutter hat sich für einen anderen Weg entschieden und tut wieder einmal, was sie am besten kann: äusserst kunstvoll kommunizieren. Vorstellen darf man es sich ja trotzdem.
Geschehen wird etwas anderes. Zur Debatte steht jetzt ein grosser Katalog von kleinen Kompromissen. Eine Erhöhung der Eigenmittel, aber nur zur Unterlegung von Beteiligungen an Auslandgesellschaften, und das heisst: in einem Mass (15 bis 25 Milliarden Franken), das zwar bereits den Börsenkurs der UBS belastet, im Krisenfall aber kaum ein Gamechanger sein wird. Keine Bonusbeschränkungen (auch auf dem Personalmarkt muss die UBS international konkurrenzfähig bleiben), aber verschärfte Clawback-Regulierungen und verlängerte Sperrfristen auf Bonusaktien, das heisst verbesserte Möglichkeiten, fehlbare Manager zur Kasse zu bitten. Gibt es in der ganzen Bundesverwaltung auch nur eine einzige Person, die im Ernst daran glaubt, dass die blosse Verlängerung von Bonus-Sperrfristen zu einem neuen, risikoadversen Verhalten des UBS-Managements führen wird?
Schliesslich soll auch die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht erweiterte Aufsichtskompetenzen bekommen, aber das Recht, auch Bussen zu verhängen, soll erst einmal bloss «geprüft» werden. Verschärfen möchte man ja – aber wehtun darf es nicht.
Es wird nun ein grosses Tauziehen um alle diese Neuregulierungen losgehen. Einiges dürfte daran hängen, wie weit der Gesetzgeber in den Einzelbestimmungen tatsächlich gehen wird. Aber auch die meisten Fachleute glauben nicht daran, dass diese Massnahmen die Eidgenossenschaft von ihren faktischen Haftungsrisiken befreien werden.
Der Schweizer Finanzplatz lebt inzwischen mit verblüffenden intellektuellen Dissonanzen, einem finanzwissenschaftlichen Stockholm-Syndrom. Man nehme zum Beispiel Jürg Müller, den amtierenden Direktor von Avenir Suisse. Der Thinktank wurde im Jahr 2000 gegründet, massgeblich auch auf Initiative von Walter Kielholz, dem Banker, der wie kaum ein anderer den Zürcher Finanzplatz und die Credit Suisse personifiziert. Und was sagt heute Jürg Müller? «Pflästerli» könnten im Ernstfall nicht halten. Die systemischen Risiken im Bankwesen, die dazu führten, dass letztlich immer wieder der Staat einspringen müsse, könnten nur durch einen radikalen Systemwechsel behoben werden.
Das sind radikale Positionen, so könnte man meinen. Doch der Finanzprofessor Urs Birchler, der an der Schweizer Too-big-to-fail-Regulierung massgeblich mitgewirkt hat, schreibt zu Müllers Positionen: «Die Argumentation wirkt geradlinig.» Auch der Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann spendet Müller höchstes Lob für ein Buch, das dieser gemeinsam mit einem Schweizer Investmentbanker geschrieben hat, der anonym bleiben will. Allerdings gibt es einen entscheidenden Vorbehalt: Auf «ungeteilte Zustimmung» werde dieser Vorschlag gewiss nicht stossen.
Anders formuliert: Wir wissen, dass das heutige Finanzsystem mit unvernünftigen Risiken behaftet ist, dass die gigantischen Gewinne und Boni auf einer impliziten, kaum aufkündbaren Staatsgarantie beruhen und dass der Schweizer Steuerzahler mit hoher Wahrscheinlichkeit eines Tages brutalst zur Kasse gebeten werden wird. Wir wissen es – aber dieses Wissen ist quasi irrelevant. Denn konsequente Massnahmen werden ohnehin nicht ergriffen.
Man darf gespannt sein auf die kommenden Parlamentsdebatten – auch wenn der Ausgang eigentlich schon feststeht. Ob eine konsequente Grossbankenregulierung schliesslich einer Volksinitiative überlassen bleibt?
Illustration: Alex Solman