Klassenkampf im Anthropozän
Die moderne Wirtschaft ist eine Maschine des Erschliessens und Maximierens. Dabei bräuchte es heute eine lustvolle Politik der Nutzlosigkeit.
Von Daniel Binswanger, 06.04.2024
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Umweltpolitik ist die grosse Schicksalsfrage unserer Zeit, aber sie wird von so massiven Widersprüchen geprägt, dass es manchmal fast erscheinen mag, als gäbe es nur noch drei mögliche Reaktionen: intellektuelle Paralyse, bittere Verzweiflung oder kämpferische Radikalisierung.
Um nur die alleroffensichtlichsten Paradoxien zu nennen: Es ist nicht so, als ob nicht sehr massive Transformationsprozesse im Gang wären und als ob nicht zumindest in den Industrieländern substanzielle Fortschritte gemacht würden bei der Anstrengung, den CO2-Ausstoss zu senken. Dessen ungeachtet steigen die globalen Kohlenstoffemissionen aber weiterhin an. Davon, die Klimaziele zu erfüllen, ist die Weltgemeinschaft meilenweit entfernt.
Es ist auch nicht so, als wäre inzwischen nicht von einer deutlichen Mehrheit akzeptiert worden, dass der Klimawandel menschengemacht und eine ernst zu nehmende Bedrohung ist. Dennoch stossen die Möglichkeiten zur Umsetzung von Klimapolitik immer wieder an Grenzen.
Rasch werden Massnahmen zugunsten der Umwelt zu einem verteilungspolitischen Problem: Wer trägt die Opferlasten? Wer erleidet aufgrund von schonenderem Ressourcenverbrauch einen Einkommensverlust? Die Segnungen der freien Marktwirtschaft beruhen auf ihrem Wachstumsversprechen. Auf diese Ansage berufen sich auch die Bemühungen um grünes Wachstum, um eine Wirtschaft, die nachhaltig ist und trotzdem expandiert. Aber wie glaubwürdig sind diese Konzepte?
Es brechen Klassengegensätze auf. In der Regel sind es die untersten Einkommensschichten, die an umweltpolitischen Massnahmen finanziell am schwersten tragen – und die sich deshalb mehrheitlich dagegen wehren. Zurückgesetzt fühlen sich auch die Schwellenländer, da sie nun auf schnelle Wachstumsgewinne verzichten sollen, die im Globalen Norden längst realisiert worden sind. Wir brauchen zweifelsohne einen Green New Deal. Aber seine konkrete Umsetzung ist politisch anspruchsvoll.
Vor diesem Hintergrund ist es eine Wohltat, den eben erschienenen Essay des in Basel lehrenden Soziologen Simon Schaupp zu lesen. Er nennt sich «Stoffwechselpolitik. Arbeit, Natur und die Zukunft des Planeten» und ist ein grosser theoretischer Wurf. Schaupp hat einen neue Perspektiven eröffnenden, in seinem Grundimpetus stark von Marx geprägten Ansatz. Er stellt seine Theorie ökologischer Politik auf die Grundlage einer «historisch-geografischen Soziologie der Arbeit». Und er schafft es, die Widersprüche und Blockaden der heutigen Umweltdebatte mindestens perspektivisch zu überwinden.
«Arbeit», schreibt Schaupp, «kann mit Karl Marx verstanden werden als der gesellschaftliche Stoffwechsel mit der Natur. Arbeit und Natur stehen in einem Verhältnis unauflöslicher Wechselwirkung zueinander. Damit wird die Arbeit zu einem zentralen Ort für die Entstehung der ökologischen Krise – und möglicherweise auch für ihre Überwindung.»
Im Minimum ist dieser Ansatz eine interessante intellektuelle Provokation. Wo findet gemäss Schaupp die ökologische, sogenannt postmaterialistische Linke die Antworten auf ihre fundamentalsten Fragen: in den Grundbegriffen des historischen Materialismus.
Der Mensch setzt seine Arbeit ein zur Nutzbarmachung der Natur. Er hat diese im Lauf der Zivilisationsgeschichte geprägt, gestaltet und zunehmend auch verunstaltet. Aber die «Wechselwirkung» von Natur und Arbeit ist viel dialektischer, als dies gemeinhin anerkannt wird. Naturprozesse entziehen sich der Planbarkeit und Verfügbarkeit und haben immer wieder vollkommen unvorhergesehene Folgen, die auf die Entwicklung der Arbeit einwirken. Die Natur verfügt gemäss Schaupp über eine «relative Autonomie». Aber die Natur wird auch massiv geprägt von der konfliktbeladenen Evolution der Wirtschaftsformen – von der Arbeit.
In einer faszinierenden Geschichte der historischen Entwicklung von Produktionsprozessen – und des damit engstens verknüpften Umgangs mit Ressourcen – legt Schaupp das Grundprinzip der Stoffwechselpolitik dar: «Je stärker der Mensch die Natur im Lauf seiner Geschichte geprägt hat, desto intensiver wirkt die Natur auf sein Leben zurück.»
Allerdings hat aus diesem Blickwinkel nicht nur die Natur ihre Autonomie, sondern auch die Arbeit beziehungsweise die Arbeitskräfte haben ihren «Eigensinn». Es ist nämlich nicht so, dass die Gesellschaft als geschlossene Einheit der Natur gegenüberstünde, wie Schaupp zu Recht moniert. Arbeitsprozesse sind das gesellschaftliche Konfliktfeld par excellence, weshalb sich die Rückkopplungen zwischen Natur und Arbeitsentwicklung ständig überlagern mit den sozialen Emanzipationsbewegungen und Verteilungskämpfen. Schaupp erzählt die Zivilisationsgeschichte der Ökologie als die Geschichte der Sklavenaufstände zu Zeiten des Kolonialismus und der Arbeiterbewegungen in den verschiedenen Phasen der Industrialisierung. Es ist eine bestechende Erzählung.
So zeichnet Schaupp im Anschluss an Theoretiker wie Immanuel Wallerstein und Mike Davis ein Bild der Entwicklungsgeschichte des Kapitalismus, das den Durchbruch zu industriellen Produktionsformen mit der «differenziellen Nutzbarmachung» von natürlichen Ressourcen, will sagen mit der Geschichte des Kolonialismus, verbindet. Es war die kostengünstige «Vernutzung» natürlicher Ressourcen – etwa Zuckerrohr und Baumwolle – und als natürliche Ressource behandelter Arbeitskraft – Sklaverei –, die auch in Europa das Wirtschaftssystem transformierte.
Schaupp betont jedoch, dass es ökologische Effekte, das heisst die Autonomie der Natur, gewesen sind, die dazu führten, dass auch in den Kolonien Emanzipationsprozesse in Gang kamen und die Arbeitskräfte in den Überseeterritorien sich vom Joch der Sklaverei befreien konnten. Machtpolitisch waren für die Sklavenaufstände in der Karibik und die historisch so wichtige Abschaffung der Sklaverei im heutigen Haiti zwei ökologische beziehungsweise epidemiologische Faktoren entscheidend: Malaria und Gelbfieber.
Diese Infektionskrankheiten, die ihren Ursprung auf dem afrikanischen Kontinent haben und überhaupt erst durch den Sklavenhandel in die Karibik eingeschleppt wurden, waren im 18. und 19. Jahrhundert für die europäischen Kolonialisten extrem ansteckend und meistens tödlich. Sie führten dazu, dass in den Überseegebieten ganze Expeditionskorps durch Epidemien dezimiert wurden. Die aus Afrika stammenden Sklavinnen hatten viel bessere Abwehrkräfte gegen die Erreger – einer der Gründe, weshalb sie zu Beginn der kolonialen Expansion in immer grösseren Zahlen in die Karibik «importiert» wurden.
Ihre überlegene Immunität war aber auch die Voraussetzung der Emanzipation: Die Seuchen wurden zu ihren effektivsten Verbündeten, um die Übermacht der Kolonialisten zu brechen. Die sich durchsetzenden Formen der Arbeitsteilung, so argumentiert Schaupp im Anschluss an den Historiker William Hardy McNeill, wurden schon immer ganz wesentlich bestimmt durch Krankheitserreger.
Auch beim Übergang von feudalistischer zu kapitalistischer Wirtschaft – unter anderem exemplifiziert an der Geschichte der deutsch-dänischen Unternehmerdynastie der von Schimmelmanns, die im 18. Jahrhundert aufgrund ihrer Stellung im Kolonialhandel und im sich entwickelnden europäischen Fabrikwesen zu einer der reichsten Familien Europas aufstiegen – zeigt sich die enge Verzahnung von Ressourcenausbeutung und sozialen Konflikten. So wurde ein erster Schub der Industrialisierung nicht durch die Steinkohle als Energieressource, sondern durch die Wasserkraft ausgelöst.
Die frühen Fabriken entstanden als dezentralisierte Siedlungseinheiten entlang von Flussläufen. Wasserkraft war lange Zeit viel billiger als Dampfmaschinen auf der Basis von Kohle. Allerdings waren die sozialen Bedingungen in den urbanen Zentren viel günstiger für die Entwicklung der Industriearbeit. In der Anfangsphase war es dieser soziale Faktor, der dazu führte, dass sich die fossile Energie durchsetzte.
Weitere faszinierende Kapitel widmet Schaupp der Entstehung der Fliessbandarbeit in den Schlachthöfen von Chicago, die zur industriellen Fleischproduktion führte und den generalisierten Fleischkonsum zu einem zentralen Element des sozialen Ausgleichs machte. Er analysiert die Automobilindustrie im Amerika der Zwischenkriegszeit und im Europa der Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg, die zur Säule eines «fossilen Klassenkompromisses» wurde. Und er beschreibt die fatale Dialektik von «Finanzialisierung und Beton», das heisst die Ausgleichszwänge in einem Wirtschaftssystem, das strukturell zu Kapitalüberakkumulation führt und die damit einhergehenden konjunkturellen Schwankungen nur kompensieren kann, indem es in immer grössere Infrastrukturprojekte – und das heisst in immer grösseren Betonverbrauch – investiert.
Immer hat Schaupp die Dialektik einer doppelten Nutzbarmachung im Blick: die Nutzbarmachung der natürlichen Ressourcen und die Nutzbarmachung der Arbeit. Dabei sind weder die Natur, die durch mannigfache Rückwirkungen den Prozess der Ausbeutung immer wieder in neue Richtungen lenkt, noch die Arbeitskräfte, die immer den Willen und tausend Strategien hatten, um ihren Eigensinn und minimale Freiheiten zu bewahren, nur die passiven Subjekte der Entwicklung. Im historischen Prozess haben sich ständig wieder Umbrüche ereignet und Handlungsspielräume eröffnet. Die gilt es zu nutzen.
Wie soll das gehen? Schaupp analysiert im letzten Kapitel seines Buches die «Politiken der Nutzlosigkeit». Sie sind alternativlos, zerfallen aber in zwei konträre Kategorien: die Politiken der Preisgabe und die Politiken der Transformation. Die Politiken der Preisgabe halten fest an der expansiven Nutzbarmachung der Natur – auch wenn schon lange klar ist, dass die zerstörerischen Effekte überwiegen und die vermeintliche Nutzbarmachung im Grunde nutzlos geworden ist. Dass dann Küstengebiete aufgegeben werden müssen, Landschaften veröden, Migrationsströme immer unbeherrschbarer werden. Die Politik der Transformation hingegen gibt die Nutzbarmachung selbst preis: Sie bekennt sich zur Nichtnutzung, zur affirmativen Ungenutztheit.
Ein Feld, in dem dieses Konzept unmittelbar einleuchtet, ist natürlich die Energiepolitik. Die Reserven fossiler Brennstoffe müssen möglichst weitgehend im Boden, also nutzlos bleiben. Ein anderes Feld, wo Handeln nicht weniger angezeigt wäre, ist die Nichtnutzung von Arbeitsressourcen. Nichts könnte ökologisch sinnvoller sein, als eine drastische Senkung der Lebensarbeitszeit. Produktivitätsgewinne sollten nicht in umweltbelastenden Konsum, sondern in zusätzliche Freizeit investiert werden. Es wäre nicht nur umwelt-, sondern auch sozial-, gleichstellungs- und gesundheitspolitisch unendlich viel sinnvoller.
Bis Anfang der 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts führte die Wirtschaftsentwicklung zu einem ständigen Absinken der Arbeitszeiten: Wohlstand wurde ausbezahlt als freie Zeit. Doch simultan mit der sich manifestierenden Notwendigkeit der Senkung des CO2-Fussabdrucks ist diese Entwicklung seltsamerweise an ein abruptes Ende gekommen. Was könnte aus ökologischer Perspektive grotesker sein, als dass heute im Namen der finanziellen «Nachhaltigkeit» eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit gefordert wird?
Schaupp kommt zu einem schwer abzuweisenden Plädoyer: «Wenn Arbeit der Ort des gesellschaftlichen Stoffwechsels mit der Natur ist, dann bedeutet eine sozialökologische Transformation notwendigerweise eine Transformation der Arbeitswelt. Der Schlüssel dazu ist die Überwindung der expansiven Nutzbarmachung.» Damit ist klar, dass organisierte Arbeitnehmervertreter, also die Gewerkschaften, dabei eine Schlüsselrolle spielen müssen. Allerdings will Schaupp die Schwierigkeiten dieses Vorhabens keinesfalls kleinreden: «Ob sich der konsumbasierte (fossile) Klassenkompromiss auf einer grünen Basis erneuern lässt, ist bislang mehr als fraglich.»
Damit ein neuer Klassenkompromiss gelingen kann, braucht die postindustrielle Gesellschaft eine «lustvolle Politik der Nutzlosigkeit». Es muss vermittelbar werden, «dass das Ende der expansiven Nutzbarmachung keine weitere Sparmassnahme ist, sondern dass es einen Gewinn an Lebensqualität bedeuten wird».
Schaupp beschreibt nicht nur konkrete Anknüpfungspunkte fürs ökologische Handeln. Er entreisst das akute Bewusstsein für die Wechselwirkungen zwischen Zivilisationsentwicklung und Ökologie einem Diskurs der Schonung und Bewahrung, der leicht in romantische Naturmystik kippen kann. Und er lässt nicht den geringsten Zweifel daran, dass die eigentliche Arena der ökologischen Transformation der Kampf um soziale Gerechtigkeit ist.
Eine Theorie des Klassenkampfs im Anthropozän: So liesse sich das Buch zusammenfassen. Lustvoll ist es allemal.
Illustration: Alex Solman