Ein gefährlicher Plan

Im Kampf gegen Mindestlöhne hat der Gastroverband erfolgreich die bürgerliche Mehrheit eingespannt – und auch im Bundesrat und im Wirtschafts­departement willfährige Helfer gefunden, die bereit sind, an den Grund­pfeilern der Schweizer Demokratie zu rütteln.

Von Philipp Albrecht, Priscilla Imboden (Text) und Golden Cosmos (Illustration), 08.03.2024

Vorgelesen von Jonas Gygax
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Es ist ein höchst wunderlicher Vorgang: Die Landes­regierung schlägt eine Gesetzes­änderung vor, sagt aber gleichzeitig, das Parlament solle dazu Nein sagen; denn sie verstosse «gegen mehrere Grund­prinzipien der Schweizer Rechts­ordnung». Gegen die Verfassung. Gegen den Föderalismus. Und gegen die direkte Demokratie.

Wie ist so etwas möglich?

Diese Geschichte handelt vom Versuch, Armut in der Schweiz zu bekämpfen. Und von Kräften, die diesen Kampf mit fragwürdigen Mitteln behindern. Wir haben den Weg eines problematischen Vorstosses nachgezeichnet.

Erstaunliche Entscheide in beiden Räten

Im Dezember 2020 reicht der Obwaldner Mitte-Ständerat Erich Ettlin eine Motion ein mit dem Titel «Sozial­partnerschaft vor umstrittenen Eingriffen schützen». Ettlins Ziel ist eine Gesetzes­änderung: Er will, dass ein national gültiger Gesamt­arbeitsvertrag (GAV) nicht mehr von einem kantonalen Gesetz ausgehebelt werden kann. Genauer: Immer dann, wenn der Bundesrat einen GAV als allgemein­verbindlich erklärt und dieser somit künftig für alle Unternehmen in einer spezifischen Branche gilt, soll dieser GAV über kantonalem Recht stehen.

Die Einführung von Mindest­löhnen in den Kantonen Neuenburg und Genf habe zu einem «Missstand» geführt, argumentiert Ettlin. Landesweite GAV würden durch kantonale Bestimmungen «ausgehebelt». Das sei «eine schwere Belastungs­probe für die bewährte Sozial­partnerschaft in der Schweiz». Er fürchtet: «Weitere Kantone könnten diesen Beispielen folgen.»

Doch die Sache hat einen Haken: Der Bundesrat kann nicht einfach per Gesetz kantonales Recht aushebeln, wo es ihm gerade passt. Ganz besonders nicht in der Sozialpolitik, die eine Angelegenheit der Kantone und Gemeinden ist.

Darauf verweist auch Wirtschafts­minister Guy Parmelin in der Ständerats­debatte zu Ettlins Vorstoss im Juni 2022. Er sagt, die Bestimmungen eines allgemein­verbindlich erklärten GAV dürften dem zwingenden Recht des Bundes und der Kantone nicht widersprechen. Ettlins Motion sei eine weitreichende Intervention, die «unter dem Gesichtspunkt der Demokratie und des Föderalismus problematisch wäre».

Der Ständerat nimmt die Motion trotzdem an, mit 28 zu 16 Stimmen. Es ist ein erstaunlicher Entscheid, denn die Kantons­vertreter stellen sich damit gegen die kantonale Souveränität.

Noch erstaunlicher verhält sich die bürgerliche Mehrheit im Nationalrat ein halbes Jahr später. Die vorberatende Kommission empfiehlt die Vorlage knapp mit 11 zu 10 Stimmen zur Annahme. Die Minderheit, bestehend aus Politikerinnen der SP, der Grünen und der SVP, lehnt die Motion ab. Sie argumentiert, es handle sich um einen Eingriff in die Souveränität der Kantone und es sei problematisch, Entscheide der kantonalen Stimm­bevölkerung zu überstimmen. Von der SVP zählen Magdalena Martullo-Blocher, Mauro Tuena und Thomas Aeschi zu dieser Minderheit.

Doch wenige Wochen später haben Aeschi und Tuena ihre Meinung offensichtlich geändert. Sie nehmen die Motion Ettlin im Parlament an. Martullo-Blocher fehlt bei der Abstimmung. Mit einer Ausnahme stimmen alle SVP-Nationalräte für den Vorstoss, drei enthalten sich. Mit 95 zu 93 Stimmen kommt das Anliegen knapp durch. Der Föderalismus, den die Partei stets hochhält, spielt auf einmal keine Rolle mehr.

Wie das rechtliche Gewissen der Verwaltung einknickte

Mit der Annahme der Motion in beiden Räten erteilt das Parlament dem Bundesrat den Auftrag, das Anliegen umzusetzen – möge dies verfassungs­rechtlich noch so fragwürdig sein. Das Staats­sekretariat für Wirtschaft (Seco) des Wirtschafts­departements ist dafür zuständig, die Details auszuarbeiten.

Was tut die Bundes­verwaltung in einer solchen Situation? Und wie verhält sich das Bundesamt für Justiz? Es ist das rechtliche Gewissen in der Bundes­verwaltung und bei Bundes­gesetzen die einzige Instanz, die juristisch kompetent über die Einhaltung der Verfassung wacht, da die Schweiz kein Verfassungs­gericht kennt.

Antworten darauf bietet die Korrespondenz zwischen dem Seco und dem Bundesamt für Justiz, die die Republik via Öffentlichkeits­gesetz eingefordert hat.

Der E-Mail-Austausch erstreckt sich über gut zehn Monate im vergangenen Jahr. Bei der Lektüre zeigt sich: Das Seco war sich von Anfang an bewusst, dass es schwierig ist, die Motion Ettlin auf eine rechts­konforme Weise umzusetzen. In seiner ersten E-Mail ans Bundesamt für Justiz hält es im Februar 2023 fest, dass das Anliegen «für die Demokratie und den Föderalismus problematisch ist und auch der Bundes­verfassung widerspricht». Und es fragt das Bundesamt direkt: «Wie ist es möglich, diese Motion umzusetzen unter Berücksichtigung der Bundes­verfassung und des Föderalismus?»

Gar nicht, lautet die Antwort der Bundes­juristen. Der Bundesrat habe bereits deutlich zum Ausdruck gebracht, dass die Regelung von Mindest­löhnen in der verfassungs­rechtlichen Kompetenz der Kantone liege: «Vor diesem Hintergrund scheint uns klar, dass es keine Möglichkeit gibt, die Motion verfassungs­rechtlich korrekt umzusetzen.»

Die Hüter der Rechts­ordnung raten dem Seco, dem Parlament zu beantragen, die Motion abzuschreiben. Zusätzlich schlagen sie aber noch eine Alternative vor: Es sei auch möglich, eine «verfassungs­widrige» Gesetzes­änderung vorzulegen, mit Antrag auf Ablehnung. Dafür entscheidet sich das Seco, «aufgrund des politischen Willens», wie es erklärt.

Mit der Zeit kommen offenbar bei den Bundes­juristinnen immer grössere Zweifel auf. Ende Oktober 2023 halten sie in einer E-Mail erneut fest, dass das Vorhaben «ernsthafte Schwierigkeiten» mit sich bringe, was die Verfassungs­mässigkeit angehe, und machen einen neuen Vorschlag: eine Anpassung des Artikels 110 der Bundes­verfassung, der die Zuständigkeiten des Bundes im Arbeitsrecht regelt. Das sei «die einzige Option, die es erlaubt, die Motion unter Einhaltung der Rechts­ordnung umzusetzen».

Das Seco antwortet zwei Wochen später: Der Bundesrat wolle keine Verfassungs­änderung, weil diese «grosse und grund­sätzliche Auswirkungen hätte auf die Kompetenzen der Kantone und der Sozialpartner in der Wirtschafts- und Sozialpolitik». Das Staats­sekretariat für Wirtschaft gehe aber davon aus, dass der Bundesrat die Problematik als wichtig erachte: «Die Einführung kantonaler Mindest­löhne ist in der Praxis problematisch. Die kantonalen Gesetze machen Verhandlungen komplizierter. In einigen Branchen, wie etwa dem Gastgewerbe, verhandeln die Sozial­partner seither keine GAV mehr.»

Diese Argumentation entspricht jener von Gastro Suisse und den anderen Arbeitgeber­verbänden, die die Mindest­löhne bekämpfen.

Das Bundesamt für Justiz widerspricht ein letztes Mal – und wird ebenfalls politisch: «Wir haben Zweifel an Ihrer Aussage, dass die Gesetze über kantonale Mindestlöhne die Verhandlungen zwischen den Sozial­partnern erschweren», antwortet es dem Seco. Am Ende dieser Mail gibt es klein bei. Es besteht lediglich darauf, dass der Bundesrat festhält, dass «nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Justiz zum Schluss kommt, dass das kantonale Recht gilt».

Das ganze Hin und Her zeigt: Das Seco ist bereit, eine verfassungs­widrige und demokratie­politisch höchst fragwürdige Gesetzes­änderung vorzuschlagen, weil es das politische Ziel der Motion teilt, nämlich staatliche Mindest­löhne zu bekämpfen. Und das Bundesamt für Justiz wehrt sich nur halbherzig dagegen.

Markus Schefer, Professor für Staats- und Verwaltungs­recht an der Universität Basel, findet das bedenklich. Das Bundesamt für Justiz sei in einer solchen Situation letztlich zu schwach. «Das Seco setzt sich über dessen Einschätzung hinweg. Mangels Verfassungs­gerichtsbarkeit wäre es sinnvoll, die Position des Bundesamts für Justiz bei der Prüfung der Verfassungs­konformität von Vorlagen zu stärken.»

Doch solange dies nicht der Fall ist, liegt die Verantwortung beim Bundesrat. Und wenn von vornherein klar sei, dass ein Anliegen verfassungs­widrig sei, dürfe die Regierung es nicht einfach auf die Gerichte abschieben, das festzustellen, sagt Schefer. «Der Bundesrat hätte beantragen sollen, die Motion abzuschreiben.»

Der Hotelier hinter dem Vorstoss

Was für einen zweifelhaften Prozess er da angestossen hat, scheint inzwischen auch Mitte-Ständerat Erich Ettlin zu dämmern. Am Telefon reagiert er höchst defensiv: «Ich finde die Diskussion wichtig und bin gespannt auf die Debatte. Die Lösung muss aber verfassungs­mässig sein.»

Weshalb er die Motion einreichte? Vertreter der Gastro- und Coiffeur­branche seien auf ihn zugekommen, berichtet der Obwaldner Ständerat.

Das führt uns zu dem Mann, der im Hintergrund die Fäden zieht. Die Motion Ettlin hätte nämlich ebenso gut Motion Platzer heissen können – nach Casimir Platzer, Hotelier in Kandersteg und Präsident des Verbands Gastro Suisse, der in dieser Rolle während der Pandemie nationale Bekanntheit als lauter Massnahmen­kritiker erlangte.

Einen beträchtlichen Teil seiner inzwischen zehnjährigen Amtszeit hat Casimir Platzer dafür aufgewendet, mit einer beispiellosen Vehemenz kantonale Mindest­löhne zu bekämpfen. Unter seiner Führung versuchten Arbeitgeber­verbände deren Einführung in Neuenburg und Genf mit Einsprachen zu verhindern. Er wirft den Gewerkschaften vor, die Sozial­partnerschaft mit Mindest­löhnen zu torpedieren. Deshalb blockiert er seit fünf Jahren Verhandlungen für einen neuen GAV im Gastgewerbe.

Seine Schlacht gegen kantonale Mindest­löhne gleicht einer Achterbahn­fahrt. Im Jahr 2014 lehnte das Schweizer Stimmvolk die Initiative für einen gesetzlichen Mindestlohn mit einem Nein-Anteil von 76 Prozent ab. Doch zehn Tage nach der Abstimmung beschloss das Parlament des Kantons Neuenburg, einen kantonalen Mindestlohn einzuführen. Es kam damit dem Auftrag des Neuenburger Stimmvolks nach, das drei Jahre zuvor darüber abgestimmt hatte.

Der Rekurs von Platzer und anderen Arbeitgeber­verbänden gegen den Neuenburger Mindest­lohn scheiterte 2017 vor Bundesgericht. Es kam zum Schluss: «Die sozialpolitisch motivierte Massnahme, mit der insbesondere dem Problem von ‹working poor› begegnet werden soll, ist mit dem verfassungs­mässig garantierten Grundsatz der Wirtschafts­freiheit und mit dem Bundesrecht vereinbar.»

Das Urteil des obersten Schweizer Gerichts war für Platzer und die Verbände ein harter Schlag. Für die Gewerkschaften war es eine wichtige Bestätigung. Sie begannen daraufhin auch in Genf Unterschriften zu sammeln. «Laut Verfassung liegt die sozial­politische Kompetenz klar bei den Kantonen. Sie haben die Souveränität in der Armuts­bekämpfung», sagt Luca Cirigliano, Jurist und Zentral­sekretär beim Schweizerischen Gewerkschafts­bund. «Der kantonale gesetzliche Mindestlohn ist ein sozial­politisches Instrument zur Bekämpfung von working poor. Und es liegt im öffentlichen Interesse, working poor zu vermeiden.»

Platzer sah das anders. Er nahm das Urteil zum Anlass, einen neuen Weg einzuschlagen. Dazu reichte der Urner CVP-Ständerat Isidor Baumann 2018 in der kleinen Kammer eine Motion ein, die praktisch gleich lautete wie die Motion Ettlin zwei Jahre später. Doch der Ständerat stellte sich klar hinter den Föderalismus und versenkte den Vorstoss im Dezember 2019.

Parallel zur Entwicklung in Neuenburg und Genf wurden auch in anderen Kantonen Mindest­löhne eingeführt oder via Unterschriften­sammlungen angestossen. Im Jura, Tessin und auch in Basel-Stadt fallen sie aber weniger umfassend aus als in Neuenburg. Sie gelten nämlich nicht in Branchen mit einem vom Bundesrat als allgemein­verbindlich erklärten GAV. Genau so, wie Platzer es auch auf nationaler Ebene gerne hätte.

Doch im September 2020 stimmte die Bevölkerung in Genf für den schweizweit höchsten Mindestlohn (damals 23 Franken), der für alle gilt. Auch die Städte Zürich und Winterthur nahmen in Volks­abstimmungen für alle gültige Mindest­löhne an. Auch da versuchte die Gegenseite deren Einführung mit Rekursen zu blockieren.

Seither wurden weitere Vorstösse eingereicht: Abstimmungen stehen in den Kantonen Freiburg, Solothurn, Baselland, Wallis und Waadt sowie in der Stadt Luzern an. Pläne gibt es zudem für die Städte Bern und Schaffhausen.

Ein Posten für Aeschi

Wie absolut diese kantonalen und kommunalen Mindestlöhne künftig gelten werden, hängt nicht zuletzt davon ab, was mit der Motion Ettlin geschieht. Aber wie ist es Platzer gelungen, Parlamentarierinnen umzustimmen, die zuvor noch die Motion Baumann abgelehnt hatten? Und wie zog er die SVP-Nationalräte auf seine Seite, nachdem sich die Partei­vertreterinnen in der Kommission wenige Wochen zuvor noch gegen sein Anliegen ausgesprochen hatten?

Von Gewerkschafts­seite heisst es, Arbeitgeber­verbände hätten im Parlament vor den Abstimmungen Druck ausgeübt. Beweisen lässt sich das nicht. Klar ist, dass sich bereits 2019 eine «Allianz zur Stärkung der Sozial­partnerschaft» mit 29 Verbänden gebildet hatte – mit dem einzigen Ziel, kantonale Mindest­löhne zu bekämpfen. Die Allianz war mit ihren Vertretern in Bundesbern sehr aktiv.

Klar ist auch: Der Nationalrat stimmte zehn Monate vor den nationalen Wahlen über den Vorstoss ab – also in einer Phase, in der es sich kein bürgerlicher Politiker mit den Arbeitgeber­verbänden verscherzen will.

Einer davon ist SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi. In einem Telefon­gespräch mit der Republik bestreitet er zunächst, dass das Ziel der Motion Ettlin gegen die Verfassung verstosse. Später ändert er seine Meinung und verweist per E-Mail darauf, dass er «zuerst den ausformulierten Gesetzes­entwurf abwarten wollte, um dann die Verfassungs­mässigkeit beurteilen zu können». Auf die Rückfrage der Republik, was seinen Meinungs­umschwung herbei­geführt habe, antwortet Aeschi erneut schriftlich: «Solche Unter­stellungen weise ich entschieden zurück. Bitte kontaktieren Sie mich nicht mehr. Ihre Nummer habe ich blockiert und Ihre E-Mail-Adresse dem Spam-Folder hinzugefügt.»

Aeschis Parteikollege Mauro Tuena, der die Motion Ettlin in der Kommission ebenfalls noch ablehnte und später im Parlament seine Meinung wechselte, reagierte nicht auf eine Anfrage zur Stellungnahme.

Was bei Aeschi besonders interessant ist: Wenige Monate nachdem er bei der Abstimmung im Nationalrat auf den Kurs von Casimir Platzer geschwenkt war, hat der studierte Wirtschafts­wissenschaftler im Beirat von Gastro Suisse Einsitz genommen. Für vier Sitzungen pro Jahr erhalten da Parlamentarier rund 10’000 Franken, wie der Walliser Mitte-Nationalrat Philipp Matthias Bregy letztes Jahr offengelegt hat. Auf die Frage an Thomas Aeschi, was seine Tätigkeiten in diesem Amt seien, sagt er noch vor dem Kontakt­abbruch: «Fragen Sie Casimir Platzer.»

Das tun wir. Wir wollen vom Gastro-Suisse-Präsidenten aber vor allem wissen, wieso er auf eine Gesetzes­änderung pocht, die gegen die Verfassung verstösst.

In zwei Telefongesprächen äussert sich Platzer dazu und stellt infrage, ob die Juristen des Bundes richtigliegen. Er nimmt auch zu Thomas Aeschi und dem Beirat von Gastro Suisse Stellung, zieht dann aber vor der Publikation seine Zitate zurück.

Die Kantone wehren sich

Möglicherweise hat der umtriebige Hotelier die Rechnung ohne die Wirte gemacht.

Die Kantone rüsten zum Kampf. In einem Schreiben, das der Republik vorliegt, warnt die Konferenz der kantonalen Volkswirtschafts­direktoren (VDK) die Ratsmitglieder vor der Parlaments­debatte vor einem «bedeutenden Eingriff in die kantonale Souveränität». Das Vorhaben gefährde «das Funktionieren unserer Institutionen». Momentan bereitet die VDK ihre Antwort auf den bundes­rätlichen Vorschlag vor und äussert sich deshalb noch nicht dazu. Delphine Bachmann von der Mitte-Partei, Volkswirtschafts­direktorin des Kantons Genf, stellt bereits klar: «Der Genfer Regierungsrat verteidigt die Volks­abstimmung zu den Mindest­löhnen aus Respekt für die Demokratie. 58 Prozent der Genfer Stimm­bevölkerung haben die Mindest­löhne angenommen, es besteht kein Zweifel an der Legitimität dieses Entscheides.»

Der Genfer Mindestlohn hat die Situation von vielen Angestellten in Tieflohn­branchen verbessert: So verdienten die Hälfte der Coiffeure, 40 Prozent der Angestellten in der Textil­reinigung und 30 Prozent der Gastro- und Hotel­angestellten im Kanton Genf vor der Einführung des Mindestlohnes weniger als 23 Franken pro Stunde. Ihnen würde bei einer Umsetzung der Motion eine erneute Lohn­reduktion drohen.

In Neuenburg, dem zweiten Kanton, der direkt betroffen wäre, erklärt SP-Regierungs­rätin Florence Nater: «Wir gehen davon aus, dass bei einer Umsetzung der Motion Ettlin rund 1500 Personen, die heute zum Mindestlohn von 21.09 Franken pro Stunde arbeiten, die Löhne gekürzt würden.»

Noch ist es nicht so weit. Der Bundesrat sammelt nun in der Vernehmlassung bis zum 1. Mai Reaktionen von Parteien, Verbänden und Kantonen zu der vorgeschlagenen Gesetzes­revision. Erst danach legt er dem Parlament einen definitiven Vorschlag vor.

So oder so zeigt die Episode: Die Mehrheit im Parlament ist offensichtlich bereit, an den Grund­pfeilern der Schweizer Demokratie zu rütteln, wenn ihr eine politische Entwicklung im Land missfällt. Der Bundesrat und die Verwaltung wehren sich höchstens halbherzig dagegen – und spielen ein gefährliches Spiel mit dem Feuer.

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