Vahland

Das Meer ist uns nicht untertan

Die Ozeane erhitzen in diesem Sommer in ungeahntem Ausmass. Das trifft auch die Menschen. Was ihnen fehlt? Respekt vor der Urkraft, meinte ein Maler des 19. Jahrhunderts.

Von Kia Vahland, 01.08.2023

Vorgelesen von Regula Imboden
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Immer heisser wird der Sommer, Temperatur­rekorde überbieten einander im schnellen Takt. Der Juli war der heisseste Monat seit Beginn der Wetter­aufzeichnungen. Das liegt nicht nur allgemein am Klima­wandel, sondern auch am besonderen Zustand der Meere in diesem Jahr. Der Nord­atlantik und das Mittelmeer sind viel wärmer als im langjährigen Durchschnitt. Es werden die höchsten bekannten Oberflächen­temperaturen gemessen. Im Bund mit dem Wetter­phänomen El Niño und den Luft­strömen in der Atmosphäre, den Jetstreams, sorgt das für Extrem­wetter. Auch rund um die Antarktis bildet sich weniger Eis, weswegen weniger Sonnen­energie ins Weltall zurückstrahlen kann.

Die Meere speichern 90 Prozent jener Energie, die durch die menschen­verursachten Emissionen entsteht, und geben dann einen Teil an die Atmosphäre ab. Es ist also eine Warnung, wenn Nord- und Ostsee nun Badewannen­temperaturen haben, wenn vor der britischen Küste fünf Grad mehr gemessen werden als zu dieser Jahreszeit üblich, wenn der Sauerstoff­gehalt im Meer sinkt und das maritime Öko­system in Bedrängnis gerät.

Hitze­wellen in den Ozeanen ziehen Hitze­wellen an Land, Stürme und Starkregen nach sich. Auch deswegen brennen gerade vielerorts, etwa auf Rhodos, die Wälder, quälen sich Menschen in den Mittelmeer­ländern und in Kalifornien durch höllisch heisse Tage und Nächte, bieten selbst die Alpen kaum noch kühle Rückzugs­möglichkeiten, wenn es nicht gerade in Strömen regnet. Wir muten den Meeren zu viel zu; sie können uns nicht vor uns selbst retten.

Der Mensch und das Meer, das ist keine einfache Beziehung. Einerseits weiss die Wissenschaft viel über die Ozeane, kennt ihre Strömungen, gute Teile ihrer Flora und Fauna. Andererseits sind Menschen Land­tiere, die sich immer noch nur schwer vorstellen können, dass grosse Teile des Planeten für sie noch nie bewohnbar waren, da unter Wasser.

Zerstörbar hingegen ist das Meer sehr wohl. Man kann es mit Plastik verseuchen und mit Chemikalien, kann an ihm Raubbau betreiben, seine Lebewesen ausrotten. Oder eben Emissionen erzeugen, die zu seiner Erhitzung führen – die See braucht, wenn sie so heiss ist wie zurzeit, kühle Luft­massen, damit kaltes und warmes Wasser sich wieder mischen. Sie kann sich nicht selbst helfen.

Wohl aber konnte das Meer immer schon seinerseits eine Gefahr darstellen. Es sorgt für Überschwemmungen, reisst Schwimmerinnen in die Tiefe, wirbelt Schiffe herum und verschluckt sie. Der Mensch antwortet mit Mythen, mit Geschichten von dem Fremden, anderen, welches das Meer sein soll, tief und abgründig, Reservoir der Angst und der Geheimnisse. Die unheimliche Welt unter Wasser soll doch noch bezwungen werden. Auf sie projiziert sich die menschliche Hybris – weswegen ein Ereignis wie das tödliche Unglück der U-Boot-Fahrer auf dem Weg zum Titanic-Wrack im Juni solche Wellen schlagen konnte, während dieselbe Öffentlichkeit das von den Europäern mitverantwortete Sterben der Flüchtlinge im Mittel­meer lieber so weit wie möglich zu vergessen versucht.

Das mag an Schuld­gefühlen oder im Gegenteil an behäbiger Gleichgültigkeit liegen, sicher aber auch daran, dass der Durchschnitts­europäerin die Möglichkeit eines Schiff­bruchs kaum als reale Gefahr wahrnimmt, jedenfalls nicht für das scheinbar so abgesicherte eigene Leben. So fern wirkt das Schicksal der Ertrinkenden, als geschehe es gar nicht in derselben Zeit und auf demselben Kontinent wie die eigene Pauschal­reise nach Kreta oder der Strand­spaziergang in der Türkei. Das alte Seefahrer­prinzip, Schiff­brüchige stets aufzunehmen, wird täglich ignoriert.

Das Meer mit Entspannung, Entschleunigung und der Sehnsucht nach ein paar sorgenfreien Ferien­wochen zu assoziieren: Den Menschen der Vormoderne wäre das nicht eingefallen. Das Meer bot Chancen im Fischfang, Handel und Krieg, aber es barg auch immer das Risiko, in ihm unterzugehen. Erst um das Jahr 1800 herum kommt der Strand­urlaub langsam in Mode, viel später als die Sommer­frische in den Bergen.

Gustave Courbet malt das Meer der Normandie dutzendfach in den späten 1860er-Jahren, zu einer Zeit also, als die Leute dabei einerseits schon an Erholung dachten, andererseits aber die Furcht vor der Urkraft des Wassers noch nicht verloren hatten. Zwar betrachtet der französische Maler das Meer durch ein Zimmer­fenster im Ort Étretat in der Normandie, doch touristisch ist sein Blick nicht. In einer ganzen Serie von Gemälden schichtet er die Farben, verstreicht sie mit einem Palett­messer in groben Zügen, bis die Farbe zu einer dicken, klumpigen Masse wird.

Ihn interessiert die einzelne Woge, der Moment, kurz bevor sie sich überschlagen wird. In der Fassung von 1869, die heute in der Alten National­galerie in Berlin hängt, baut sich eine Welle hoch auf, bricht sich an einer Stelle schon tosend und verwandelt sich in hellen Schaum. Lange werden die beiden Steine am Strand nicht mehr trocken bleiben, und wir, die Betrachtenden, auch nicht. Der Himmel ist grau verhangen, die rundlichen Wolken verdichten sich zu einer bedrohlich düsteren Fläche. Trotzdem segeln Menschen unbekümmert am Horizont. Ihre Boote fallen kaum ins Auge, so klein wirken sie im Vergleich zu den gewaltigen Wasser- und Wolkenmassen.

Gustave Courbet: «Die Welle», 1869. Jörg P. Anders/Alte Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin.

Paul Cézanne staunte über diese Version, als er sie später in Berlin sah. «Eines der Wunder des Jahrhunderts» sei Courbets Werk, gemalt auch in giftigem Grün und schmutzigem Orange, schreibt Cézanne. Die «schaumige Gischt der Flut» komme «aus der Tiefe der Ewigkeit», lobte er, und: «Der ganze Saal riecht nach Wasserstaub.»

Archaisch wirkt die Brandung bei Courbet, ausgehend von einer Urkraft, mit der nicht zu spassen ist. Kurz zuvor, 1866, war ein Unterwasserkabel von Europa nach Amerika verlegt worden, auch die kommerzielle Dampfschiff­fahrt wurde immer weiter ausgebaut, die Schiffe wurden schneller und grösser. Und 1869/70 publizierte Jules Verne seine Unterwasser­vision «Vingt mille lieues sous les mers» – «20’000 Meilen unter den Meeren».

Das Meer schien nun nicht nur, wie es der Schriftsteller Charles Baudelaire noch 1857 sah, ein Sinnbild für menschliche Freiheit zu sein: «Homme libre, toujours tu chériras la mer!» (in der Übersetzung von Friedhelm Kemp: «Freier Mensch, immer wird das Meer dir lieb sein!»). Es barg nun auch das Versprechen, das Unbezwingbare, die Natur, doch noch technologisch beherrschen zu können. Diesen Wunsch aber vergisst schnell, wer vor Courbets Wellen­bildern steht: Das Meer hat am Ende die Macht, nicht der Mensch. Daran erinnert der Maler all jene, die schon glauben, auch die Ozeane könnten dem Menschen einmal untertan sein.

Der Respekt vor der Gewalt der Meere lässt auch anderthalb Jahrhunderte nach Courbets Wellen­bildern noch zu wünschen übrig. Wir lernen ihn gerade wieder neu, notgedrungen.

Illustration: Alex Solman

Zur Literatur:

David Abulafia: «Das unendliche Meer. Die grosse Weltgeschichte der Ozeane». Fischer, Frankfurt am Main 2021. 1168 S., ca. 90 Franken.

Klaus Herding/Max Hollein: «Courbet. Ein Traum von der Moderne». Hatje Cantz, Berlin 2010. 304 S., ca. 40 Franken. Dieser Titel ist momentan nur antiquarisch erhältlich.

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