Was bleibt, wenn die Zerstörung nicht mehr rückgängig gemacht werden kann?

Eine Verteidigung des Kompromisses

Fundamentale Konflikte lassen sich so gut wie nie ohne Kompromisse lösen. Oft sind die jedoch «faul» – das prägt auch die Debatte um den Krieg gegen die Ukraine.

Ein Essay von Volker M. Heins (Text) und Erli Grünzweil (Bild), 27.04.2023

Vorgelesen von Miriam Japp
0:00 / 23:14

Journalismus, der Ihnen hilft, Entscheidungen zu treffen. Und der das Gemeinsame stärkt: die Freiheit, den Rechtsstaat, die Demokratie. Lernen Sie uns jetzt 21 Tage lang kostenlos und unverbindlich kennen:

«Die Geschichte der Deutschen ist eine Geschichte der Extreme. Sie enthält alles ausser Mässigung.» So beginnt das 1945 erschienene Buch «The Course of German History» des englischen Historikers A. J. P. Taylor. In Deutschland, dem Land im Zentrum Europas, sei nichts so unbeliebt wie die friedliche Einigung in der Mitte – der Kompromiss.

Ganz anders in der Schweiz – jedenfalls der Schweiz, die vor langer Zeit von Teilen der deutschen Linken idealisiert wurde. Taylor erinnert an Kurt Eisner, den glücklosen ersten Minister­präsidenten des Freistaats Bayern, und an andere sozial­demokratische Politiker, die nach dem Ersten Weltkrieg die demokratische und föderalistische Schweiz als politisches Gegen­modell zum Deutschen Reich empfahlen.

Diesseits des Ärmel­kanals blies der links­katholische Publizist Walter Dirks in dasselbe Horn wie Taylor. «Es gibt faule Kompromisse, aber bei den Deutschen stehen auch die guten in schlechtem Geruch», schrieb er 1946 in einem Aufsatz mit dem Titel «Die Zweite Republik» für die erste Ausgabe der «Frankfurter Hefte».

Heute tendiert der Zeitgeist nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Schweiz und andernorts dazu, gegen den Kompromiss zu sein – ganz egal, wie er riecht. In der Werbung und der Popkultur ist Kompromiss­losigkeit eine Auszeichnung und ein Haltungs­ideal. In der Politik gilt zur Schau getragene Kompromiss­losigkeit als Ausweis moralischer Prinzipien­festigkeit. Von allen Seiten wird uns eingebläut, dass wir ja nicht nachgeben, nicht einknicken dürfen, gegenüber wem auch immer. Die öffentliche Debatte verwandelt sich in ein mentales Bootcamp, in dem alle dauernd zeigen müssen, wie fest sie an ihre Werte glauben und wie fest sie zusammen­stehen.

Das zeigen auch die Auseinander­setzungen um den russischen Krieg gegen die Ukraine. Bei diesem Krieg handelt es sich um einen völkerrechts­widrigen Angriffs­krieg, den die Uno-General­versammlung am 2. März 2022 und daraufhin grosse Teile der Weltöffentlichkeit eindeutig verurteilt haben. Der Einsatz des ukrainischen Militärs ist damit völker­rechtlich legitimiert, ebenso wie die militärische Unter­stützung der Ukraine durch Staaten, die darauf achten, nicht selbst als Kriegspartei in Kampf­handlungen verwickelt zu werden.

Dass die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock im vergangenen Mai vor Kriegsmüdigkeit warnte («Wir haben einen Moment der Fatigue erreicht»), war dennoch problematisch. Schon deshalb, weil Europäerinnen ausserhalb der Ukraine wenig erpicht darauf sind, selbst in den Krieg zu ziehen. Wir sind kriegsmüde, und das ist auch gut so. Nur weil wir das ganz grund­sätzlich sind, empört uns der russische Angriffskrieg.

Und natürlich wünschen wir uns, dass die Ukraine durchhält und Russland zuerst müde wird, damit der Krieg aufhört. Aber dass eine der beiden Seiten sämtliche ihrer Kriegs­ziele vollends durchsetzen kann, wird inzwischen weithin bezweifelt. Das Resultat wird Kriegs­müdigkeit sein, die wiederum zur Suche nach einer Verhandlungs­lösung führen wird.

Das Wort, das keiner hören will, lautet «Kompromiss». Es ist höchste Zeit, die politische Idee des Kompromisses richtig zu verstehen – und zu verteidigen.

Die Suche nach erträglichen Kompromissen

Jürgen Habermas ist für seinen Essay «Ein Plädoyer für Verhandlungen» von rechts und links teilweise scharf kritisiert worden. Er hatte die Frage gestellt, ob es nicht angesichts der vielen Toten und Verwundeten eine Anstrengung wert sei, in dem Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, «nach einer Kompromiss­lösung zu suchen».

Da war es, das Reizwort «Kompromiss­lösung». Für viele klang es verdächtig nach der Bereitschaft, den Krieg durch einseitige Zugeständnisse an den Aggressor Russland zu beenden. Davon ist in dem Text jedoch gar nicht die Rede. Vielmehr plädiert Habermas für «ein öffentliches Nachdenken über den schwierigen Weg zu Verhandlungen» sowie für die Suche nach «erträglichen Kompromissen» zur Beendigung des russisch-ukrainischen Krieges. Damit plädiert er für etwas, was in Thinktanks oder in den grossen aussen­politischen Zeitschriften der USA ohnehin längst stattfindet.

Die interessante Frage ist, welcher Kompromiss für wen erträglich ist. Und ist das Erträgliche auch fair? Mit dem Kriegs­verlauf ändert sich die Perspektive der Kriegs­parteien auf die erste dieser Fragen. Die zweite Frage, ob Kompromisse fair sind, ist auch einer distanzierten Betrachtung zugänglich.

Es ist vielleicht kein Zufall, dass die derzeit wohl wichtigste philosophische Abhandlung zum Thema Kompromisse von einer gebürtigen Schweizerin stammt – von Véronique Zanetti. In ihrem Buch «Spielarten des Kompromisses» analysiert die Philosophin, die heute an der Universität Bielefeld lehrt, den scheinbar paradoxen Charakter des Kompromisses. Ein Kompromiss entsteht, wenn Feinde oder Konkurrentinnen nach Verhandlungen eine Entscheidung akzeptieren, die sie eigentlich nicht akzeptabel finden. Warum lassen sie sich auf einen Kompromiss ein? Weil sie das Ergebnis, das sie sich ursprünglich gewünscht haben, mangels ausreichender Macht nicht durchsetzen können.

Zanetti geht noch einen Schritt weiter, wenn sie am Beispiel der süd­afrikanischen Wahrheits- und Versöhnungs­kommission zeigt, dass gute, wünschens­werte Kompromisse nicht einmal in jedem Fall fair sein müssen. Unter bestimmten Umständen kann es geboten sein, zum Beispiel Polizisten oder Widerstands­kämpferinnen, die für Verbrechen verantwortlich sind, straf­frei ausgehen zu lassen. Wenn die Alternative ein endloser Krieg ist oder der Kollaps der Gesellschaft, ist es vielleicht klug, auch einen aus der jeweils eigenen Perspektive unfairen Kompromiss zu akzeptieren.

Der Kompromiss ist dann das kleinere Übel. Eine zweitbeste Lösung angesichts der unmöglichen Verwirklichung der besten Lösung. Einen Kompromiss finden heisst, im Schatten festgefahrener Macht­verhältnisse die Grenzen des für alle Beteiligten Erträglichen auszuloten.

Die Diskussion um den Habermas-Text zeigt jedoch, wie schnell die Suche nach dem Kompromiss als Zeichen von Willens­schwäche oder mangelnder Prinzipien­treue verdächtigt wird. Das ist bedauerlich. In multiethnischen Gesellschaften und in einer multi­polaren Welt generell wird es immer unwahrscheinlicher, dass sich in allen Konflikten jeweils eine einzige Gruppe oder Grossmacht auf ganzer Linie durchsetzen kann. Dadurch erhöht sich die Notwendigkeit, Kompromisse zu suchen. Ohne diese Kultur­technik, von der Zanetti sagt, sie sei in der Schweiz zu einer politischen Kunst­form hoch­gezüchtet worden, wird die Zukunft blutrot.

Ukraine undenkbar als «amputierte Nation»

Kompromisse sind prinzipiell immer dann möglich, wenn das Streit­objekt teilbar ist. Einkommen, Ressourcen und Posten lassen sich messen oder zählen. Also kann man sie nach bestimmten Schlüsseln verteilen und umverteilen. In all diesen Fällen sind Kompromisse leicht denkbar.

Dasselbe könnte im Grunde auch für staatliche Territorien gelten, deren geografisches Substrat immer begrenzte Land- und Wasser­flächen sind. In der Realität jedoch werden seit dem Aufstieg des modernen Nationalismus staatliche Territorien mit Körper­metaphern belegt. Besonders beliebt waren im 19. Jahrhundert Sinnbilder der Nation als weiblicher Körper, dessen Ehre von wehrhaften Männern zu beschützen sei. Diese kollektive Männer­fantasie bewirkte, dass ein teilbares Territorium als unteilbar imaginiert wurde. Lebende Körper kann man nicht zerteilen, ohne sie zu verstümmeln oder zu töten. Wer sich Nationen wie Körper vorstellt, für den sind Kompromisse in Form territorialer Zugeständnisse tabu.

Erstaunlicherweise geistert die Vorstellung von Nationen als Körpern auch durch die Ukraine-Debatte. In einer Replik auf Habermas haben die Publizisten Daniel Cohn-Bendit und Claus Leggewie darauf bestanden, dass eine Annexion der Krim oder Gelände­gewinne der russischen Armee im Donbass um keinen Preis der Welt hinzunehmen seien. Die Ukraine sei «undenkbar als amputierte Nation».

Die beiden Autoren sind eigentlich über jeden Verdacht des Nationalismus erhaben. Umso bemerkens­werter ist es, dass sie sich gleichwohl einer Bildsprache aus dem Repertoire national­konservativer Rhetorik bedienen. Das Bild einer Nation als verwundbare, körper­ähnliche Einheit verwendete beispiels­weise der ehemalige bayerische Minister­präsident Edmund Stoiber in einer Rede am 3. Oktober 1996. Deutschland, so Stoiber, sei bis zur Wieder­vereinigung eine «amputierte Nation» gewesen.

Diese orthopädische Metaphorik ist auch deswegen problematisch, weil sie sich spiegel­bildlich verhält zur Selbst­wahrnehmung Russlands. Auch diese Nation fühlt sich ohne die Ukraine amputiert. Russische Politiker wie Michail Gorbatschow oder Literatur­nobel­preisträger wie Joseph Brodsky und Alexander Solschenizyn zeigten sich nach der Ausrufung der Unabhängigkeit der Ukraine im August 1991 zutiefst geschockt. Für sie war die russische Nation «ohne Ukrainer unvollständig».

Die Idee, dass nationale Territorien unvollständig oder amputiert seien, wenn ein Teil von ihnen wegbricht, ist brand­gefährlich. Es gibt keine natürlichen Grenzen eines Staates. Alle Grenzen sind ausgedacht und Menschen­werk. Tatsächlich sind sie auch in Europa immer wieder verändert und durch Plebiszite legitimiert worden. Legitim werden Grenz­verschiebungen allerdings nur durch international überwachte Volks­abstimmungen, nicht durch die Art von Pseudo­plebisziten, wie wir sie in jüngster Zeit in den russisch kontrollierten Gebieten im Osten der Ukraine erlebt haben.

Dennoch: Nichts ist prinzipiell falsch an Grenz­verschiebungen, da Grenzen keine natürlichen, sondern soziale Tatsachen sind. Oder wer will im Ernst behaupten, dass Dänemark eine amputierte Nation sei, nur weil es nach dem Deutsch-Dänischen Krieg 1864 die Herzog­tümer Schleswig und Holstein verloren hat?

Faule Kompromisse

Natürlich sind kompromisslose Forderungen nach Kompromissen ebenso falsch. Denn die faulen Kompromisse gibt es ja auch. Kompromiss­losigkeit ist dann tatsächlich viel mehr als Kult und Pose, nämlich ganz und gar gerechtfertigt, notwendig oder sogar bewunderns­wert. Winston Churchills leidenschaftlicher Aufruf zum kompromisslosen Kampf gegen Nazi­deutschland, geäussert während einer Rede am 29. Oktober 1941 an seiner alten Schule in Harrow nahe London, bewegt uns noch heute – egal, welcher Nation wir angehören: «Never give in, never give in, never, never, never, never-in nothing, great or small, large or petty.»

Auch sonst ist es manchmal geboten, keinen Millimeter nachzugeben und Kompromisse zu verweigern. Das gilt besonders bei Konflikten, bei denen die Würde des Menschen oder die Menschen­rechte auf dem Spiel stehen. Menschen­rechte kann man nicht aufteilen. Schif­fbrüchige im Mittelmeer müssen gerettet, niemand darf gefoltert werden, Rassismus ist illegal. Es wäre grausam und absurd, sich in solchen Fragen auf Kompromisse einzulassen.

Faul sind Kompromisse auf dem Gebiet der Menschen­rechte, weil die Leidtragenden ihnen niemals zustimmen könnten. Faule Kompromisse erkennt man daran, so Zanetti, dass sie wissentlich «Dritte ohne ihre Zustimmung oder ihre Beteiligung schwer benachteiligen».

Hat Habermas einen faulen Kompromiss im Sinn, wenn er dazu aufruft, nach einem Ausweg aus dem Ukraine-Krieg zu suchen? Dazu müsste sich erweisen, dass er sich einen Kompromiss vorstellt, der Unbeteiligte, die von der Kompromiss­bildung ausgeschlossen sind, schwer benachteiligt. Er betont aber ausdrücklich, dass «ein für beide Seiten gesichts­wahrender Kompromiss gefunden» werden müsse. Man kann also nicht behaupten, Habermas wolle eine Lösung, die über die Köpfe der Ukrainerinnen hinweg beschlossen würde.

Die provokative Spitze seiner Intervention liegt woanders. Sein Text appelliert an den residualen Pazifismus des Publikums, also an eine grosse europäische Bewegung, die inzwischen von vielen Seiten gründlich lächerlich gemacht worden ist. Der Kern des Pazifismus besteht – sagen wir seit Lew Tolstoi – in der Einsicht, dass selbst Kriege, in denen die eine Seite ganz und gar im Recht und die andere Seite eindeutig im Unrecht ist, zur Verrohung und Verdummung beider Seiten führen. Der Krieg macht etwas mit denen, die ihn zu «führen» glauben, während sie längst von ihm mitgerissen werden. Das ist die «Eigen­dynamik» des Krieges, von der Habermas spricht. Eine Eigen­dynamik, die immer stärker wird, je länger Kriege andauern und ganze Gesellschaften zermalmen.

«In Kriegen hat sich mit dem Wunsch nach der Überwindung des Gegners immer auch der Wunsch nach dem Ende von Tod und Zerstörung verbunden», schreibt Habermas. Kritiker des Pazifismus behaupten, dass diese beiden Wünsche identisch seien: Nur der Sieg über den skrupel­losen Aggressor bringe das Ende von Tod und Zerstörung. Aber das darf man bezweifeln. Auf dem Weg zum Sieg kann die Gesellschaft, die den Krieg ausficht, vollends zerstört, entvölkert und seelisch vergiftet werden. Deswegen, so Habermas, wird jeder Krieg begleitet von dem Wunsch, dass er «aufhören» möge, und zwar «so schnell wie möglich».

Dies ist vielleicht nicht immer der Wunsch des Medien­publikums, das den Krieg aus sicherer Distanz betrachtet, aber vermutlich der Wunsch der unmittelbar Betroffenen einschliesslich der Soldaten auf beiden Seiten, die seit jeher meistens nur in der Literatur zu Wort kommen. Während er verwundet am Boden liegt und im Schmerz die tanzenden Schneeflocken über sich sieht, denkt der Soldat Nikolai Rostow in Tolstois «Krieg und Frieden» vor allem eines: «Und wann hört das alles auf?»

«Appeasement» in der Kritik

In seinen 1814 erschienenen «Politischen Flugblättern» schrieb der Schrift­steller, Verleger und Diplomat August von Kotzebue, dass ihm der Verlauf der Grenze zu Frankreich weniger wichtig sei als der Frieden an Deutschlands West­grenze: «Ob ein paar Provinzen mehr oder weniger zu Deutschland gezählt werden sollen, darauf kommt es nicht an, wenn wir nur in nachbarlicher Ruhe zusammen leben.» Diese Haltung bezeichnet man heute gerne mit dem gedankenlosen Schimpfwort der «Appeasement»-Politik, also dem Vorwurf, aus Kurzsichtigkeit oder Lust an der Unter­werfung einen Aggressor durch Zugeständnisse beschwichtigen zu wollen.

In der Tat kann ein Krokodil, das mit immer mehr Kaninchen gefüttert wird, irgendwann unersättlich werden und sich gegen den Menschen richten, der es füttert. Aber in der Ukraine-Debatte geht der Appeasement-Vorwurf, der zum modischen Kult der Kompromiss­losigkeit gehört, an der Sache vorbei. Denn er klingt, als seien wir völlig frei, Kompromisse einzugehen oder zu verweigern.

Es geht nicht darum, einen Aggressor zu beschwichtigen, indem man ihm ohne Not einen Kompromiss anbietet. Vielmehr geht es darum, sich auf eine mögliche Situation vorzubereiten, in der der Ukraine und ihren Unter­stützern durch die Lage auf dem Schlachtfeld über kurz oder lang ein Kompromiss aufgezwungen wird – so wie selbst­verständlich auch Russland ein Kompromiss mit Waffen­gewalt aufgezwungen werden muss.

In einer Kritik am inflationären Appeasement-Vorwurf hat der Historiker Paul Kennedy gezeigt, dass westliche Mächte in der Vergangenheit immer wieder zurück­gewichen sind und Gegner oder deren mögliche Verbündete beschwichtigt haben, um einen aussichts­losen Konflikt nicht weiter eskalieren zu lassen. So haben die USA der Teilung Koreas ebenso zugestimmt wie der Teilung Deutschlands, natürlich nur zähne­knirschend und unter dem Druck der Verhältnisse. Sie haben gemeinsam mit der Sowjetunion die Kuba-Krise durch einen Kompromiss entschärft und tun heute einiges dafür, den Streit mit China auf einen Handels­krieg zu beschränken.

Der Grund liegt darin, dass die USA berechtigte Sorgen haben, in zu viele, zu kostspielige und schwer lösbare Konflikte verwickelt zu werden. Appeasement kann angesichts dieser Lage eine voraus­schauende und kluge Strategie sein, auch wenn die unmittelbar in einen Krieg verwickelten Parteien das anders sehen mögen.

Seinen Schlachtruf «Gebt niemals nach!» hat Churchill übrigens nicht umsonst mit einer kleinen, aber bedeutsamen Einschränkung versehen: Gebt niemals nach – «except to convictions of honour and good sense», «ausser den Überzeugungen von Ehre und Vernunft».

Dass die praktische Vernunft den Krieg möglicher­weise mit einem Kompromiss enden lässt, heisst nicht, dass sich an der Verwerflichkeit der russischen Aggression gegen die Ukraine irgendetwas ändert. Die Philosophin Zanetti hat völlig recht, wenn sie betont: Kompromiss­bereitschaft bedeutet nicht, dass die Konflikt­parteien ihre moralischen Überzeugungen aufgeben müssen. Sie lassen sich auf einen Kompromiss nur deshalb ein, weil sie ihre Überzeugungen in einer wider­spenstigen Wirklichkeit nicht vollständig durchsetzen können und Schlimmeres verhindern wollen.

Zugeständnisse auf beiden Seiten

Der von Russland angezettelte Krieg gegen die Ukraine erinnert an das Handeln einer Räuber­bande, die in ein Haus eindringt, ein paar Räume besetzt und von dort aus auf die Bewohner der anderen Räume schiesst oder diese Räume unbewohnbar macht, indem sie die Versorgungs­leitungen kappt. Es ist nicht nur ungerecht, wie die Philosophie sagt, sondern furchtbar, wenn daraufhin viele Bewohnerinnen mit ihren Kindern in Nachbar­häuser fliehen müssen und die Verbliebenen zu Opfern von Verbrechern und zu Geiseln des Aggressors werden.

Zugleich ist es ausser­ordentlich wohlfeil, wenn in dieser Situation Zuschauer, die das Geschehen aus der Ferne verfolgen und emotional auf der Seite der Geiseln oder der Geisel­befreier stehen, um keinen Preis verhandeln wollen und Churchill zitieren.

Es versteht sich von selbst, dass man Geisel­nehmern nicht einfach nachgeben darf. Die öffentlichkeits­wirksam inszenierte Kompromiss­losigkeit von Politikerinnen oder Polizei­präsidenten, die laut verkünden, dass sie niemals mit Geisel­nehmern oder Terroristen verhandeln würden, hat ihre Berechtigung – sofern sie im Ernstfall doch bereit sind, durch Verhandlungen und notfalls auch durch Zugeständnisse Schaden von Unschuldigen abzuwenden.

Das Bild vom Ukraine-Krieg als Raubzug mit Geisel­nahme hat zuletzt der prominente amerikanische Russland-Historiker Stephen Kotkin in einem Interview mit dem «New Yorker» verwendet. Wie viele andere glaubt Kotkin, dass der Krieg letztlich «unangenehme Zugeständnisse» auf beiden Seiten erzwingen wird. Wo es für keine der beiden Seiten einen vollständigen Sieg oder eine totale Niederlage gibt, wird sich der Druck erhöhen, eine Kompromiss­lösung zu finden.

Kotkins Kompromiss-Szenario sieht wie folgt aus: Russland wird das ursprüngliche Ziel, die Ukraine als souveränen Staat zu vernichten und in ein wiederher­gestelltes Imperium zu integrieren, nicht erreichen. Umgekehrt wird die Ukraine die russischen Streitkräfte und die einheimischen Separatisten nicht vollständig besiegen und aus dem Osten und Süden des Landes verdrängen können.

Der Sieg der Ukraine wird unter diesen Bedingungen vielleicht so aussehen wie der «Sieg» der USA im Koreakrieg, der im Juli 1953 mit einem dauerhaften Waffen­stillstand ohne Friedens­vertrag beendet wurde. Die Ukraine wird nicht verlieren, wenn sie ein zentrales Kriegsziel erreicht: ein souveräner Staat zu bleiben und zu einem Teil des Westens zu werden – und irgendwann vielleicht zu einer zwar territorial «amputierten», aber prosperierenden Demokratie. Ein bisschen wie das moderne Südkorea.

Zum Autor

Volker Michael Heins ist Sozial­wissenschaftler und Buchautor, zurzeit Co-Leiter einer Forschungs­gruppe am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld. Für die Republik schrieb er zuletzt über die Situation geflüchteter Rohingya an der burmesisch-thailändischen Grenze.

Rund 27’000 Menschen machen die Republik heute schon möglich. Lernen Sie uns jetzt auch kennen – 21 Tage lang, kostenlos und unverbindlich: