So schön! Und was tun Sie, damit die Lebenswelt von Tieren nicht bedroht ist und sie überleben können? Corey Arnold

Tierisches Unbehagen

Die Liebe zu den anderen Tieren ist ein Grundwert. Und doch hindert sie uns nicht, ihre Lebens­räume und ihre Lebens­qualität zu zerstören. Gedanken zur Koexistenz mit dem Rest der Welt.

Ein Essay von Henry Mance (Text) und Bernhard Schmid (Übersetzung), 22.05.2021

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Es hätte uns Menschen nicht besser gehen können als vor der Pandemie. Wir lebten länger, führten weniger Kriege, hatten mehr Möglichkeiten als je zuvor. Nun hoffen wir auf eine baldige Rückkehr in diese Welt.

Doch was ist mit den anderen Tieren?

Nun: Denen hätte es all die Jahre kaum schlechter gehen können. Ein nicht zur Gattung Mensch gehörendes Säugetier lebt im 21. Jahr­hundert mit weit grösserer Wahrscheinlichkeit als seine Vorfahren in einem Massen­tierbetrieb. Ein Vogel ist aller Wahrscheinlichkeit nach ein Huhn. In der Regel ist es überzüchtet, auf engstem Raum eingesperrt und zu schwer für sein zartes Knochen­gerüst.

Wären Sie willkürlich weggesperrt, wären Sie mit zwanzig­mal höherer Wahrscheinlichkeit ein Huhn als ein Hund.

Nehmen wir dagegen ein beliebiges Wildtier (einen Löwen etwa, einen Papageien­taucher, einen Tabak­käfer), so sind dessen Chancen grösser denn je, sich vom unaufhaltsamen Expansions­drang des Menschen von der Erde verdrängt zu sehen. Wenn wir Menschen unseren bisher eingeschlagenen Weg fortsetzen, werden in ein oder zwei Jahr­hunderten Kühe die grössten Land­tiere sein. Dieses Auseinander­gehen unserer Schicksale wäre durchaus verständlich, läge uns Menschen nichts an anderen Tieren. Sähen wir sie – wie etwa der Philosoph Descartes – als Automaten, die nicht dazu fähig sind, Schmerz oder Freude zu empfinden. Aber wir sind nicht Descartes.

Wir haben ein Herz für Tiere.

Wir schauen uns Katzen­videos und David Attenboroughs Natur­dokus an. Wir geben Unsummen für Haustiere und Safaris aus. Wir finden Tiere schön, faszinierend, amüsant. Wir wissen, dass sie Gefühle haben und Schmerz empfinden.

Selbst Menschen mit einem Herzen aus Stein bezeichnen sich als tierlieb.

«Ich liebe Tiere, verstehen Sie mich nicht falsch», meinte Fussball­manager José Mourinho zu Beginn der Saison nach einem Vergleich seiner Star­spieler mit Tieren. «Ich mag Tiere, und es gefällt mir nicht, wie die Massen­tierhaltung mit ihnen umgeht», insistierte Tucker Carlson in seiner Talk­show auf Fox News bei einer Diskussion mit einem Veganer.

Justin Trudeau, Emmanuel Macron, Boris Johnson, Joe Biden: Sie alle präsentierten sich bei ihrem Amts­antritt mit Hund. Die Tiere versprachen eine gewisse Zugkraft für die Wieder­wahl. Die neusee­ländische Sängerin Lorde erklärte, ihr Hund Pearl habe sie zu den Ideen für ihre Musik inspiriert. Auf Dating­plattformen schmücken die Leute ihre Profile mit Haus­tieren, die ihnen nicht mal gehören. (Lesetipp dazu: Die wunderbare Kurz­geschichte «Cat Person» von Kristen Roupenian.)

Kurz: Tierliebe gehört zu den Grund­werten unserer Gesellschaft. Wie auch das rationale Denken. Doch die Art und Weise, wie wir mit Tieren umgehen, passt zu keinem von beiden. Dahinter stehen Tradition und Trägheit. Denn: Niemand würde aktiv für das drohende Massen­aussterben wilder Tierarten stimmen. (Weiss Gott, wie wir das der nächsten Generation beibringen wollen – obwohl wir dafür verantwortlich sind.)

Mein Sinnes­wandel kam mit der Geburt meiner Töchter.

Kaum hat man Kinder, sind Tiere überall: in plüschiger Form, in Märchen­büchern, in Disney-Filmen. Ich bin – das dürfen Sie mir glauben – nicht pedantisch genug, um darauf hinzuweisen, dass Peppa Wutz zu einem Wurf gehört und dass der Tiger das kleine Mädchen sofort verspeisen würde, käme er tatsächlich zum Tee.

Und dennoch: Mir kamen Zweifel. Meine Töchter dürften doch wohl aus all den Tier­geschichten ganz zu Recht darauf schliessen, wir Erwachsenen hätten einen Weg gefunden, mit anderen Spezies zu koexistieren. Ich würde ihnen doch wohl nicht Sophie, die Giraffe, schenken, ginge die Zahl der Giraffen in freier Wildbahn in Wirklichkeit drastisch zurück? Ich würde ihnen doch wohl nicht all die Geschichten von Wölfen und Wieseln vorlesen, hätte ich nie in meinem Leben Wölfe und Wiesel gesehen?

Meine Töchter stellten Fragen, für die ich nicht wirklich gerüstet war: «Sind Füchse glücklich oder traurig?», und: «Wieso sind so viele Tiere im Zoo?»

Und so habe ich die vergangenen beiden Jahre versucht, einen Widerspruch aufzulösen: den zwischen unserer Liebe zu Tieren und dem bisschen Platz, den wir ihnen auf unserem Planeten zuteilen. Ich arbeitete in einem Schlacht­haus und auf einer Farm. Ich ging auf die Jagd, zum Angeln, war mit Vogel­beobachtern unterwegs. Ich interviewte Wissenschaftlerinnen, Haustier­besitzer und Natur­schützerinnen.

Ich habe versucht, für mich und meine Töchter eine Ethik zu finden, nach der sich leben lässt. Gibt es eine Möglichkeit, mit anderen Tieren zu koexistieren – ohne Selbst­täuschung, ohne Schuld?

Ist dieser Planet nicht gross genug für uns alle?

Unsere Wertschätzung für Tiere sollte nicht bei Lippen­bekenntnissen bleiben. Sie sollte vielmehr lebens­verändernd sein.

Schafe zählen

Das Erste, was man über Schlacht­häuser in Erfahrung bringt? Wie leicht dort Arbeit zu finden ist. Es gibt Stellen, für die braucht es einen Lebens­lauf, Referenzen oder einen festen Wohnsitz. Es gibt Stellen­ausschreibungen, auf die sich eine Flut von Bewerbern meldet. «Aushilfs­kraft in einem Schlacht­hof» gehört da eher nicht dazu. Ich rufe die Nummer einer Stellen­anzeige an, die ich online gefunden habe: Ich könne vorbei­kommen, wann immer es mir passe.

Die Anzeige hatte eine «Ausbildung» versprochen. Diese beinhaltet die Aushändigung eines weissen Overalls, weisser Gummi­stiefel und eines Haarnetzes. Steve, so heisst der Kollege, öffnet die Tür zu einem eingeschossigen Metallbau. Vor mir: eine lange Reihe kopfloser Schafe. Seit meiner Ankunft sind kaum fünf Minuten vergangen. In einem Londoner Bürohaus stünde ich noch am Empfang.

Die Schafe hängen an einer Förder­anlage. Im Meter­abstand trennen Männer Teile ab, schneiden Teile heraus. In dieser fensterlosen Halle verwandeln sich die Tiere: von einem Lebewesen, das man auf einer Wiese beobachten kann, in etwas, das im Kühlfach eines Super­markts liegt. Rote Flecken, wo man hinsieht. Kaum bin ich angekommen, verliert der Mann neben mir die Kontrolle über sein Messer. Er schneidet sich ein Stück Haut vom Knöchel. Es sieht aus, als hätte er ein Frühstücks­ei geköpft. Er starrt auf den tiefroten Kreis, der sich bildet. Der Knorpel scheint weiss daraus durch. «Autsch, das sieht übel aus», scherzt sein Nachbar und lacht.

Ich werde an einer als Abzieher bezeichneten Maschine platziert. Die Schafe kommen dort mit klaffendem Schlitz im Hals an. Ohne Kopf und Füsse, das Fleisch der Vorderbeine von Haut befreit. Der Abzieher hat zwei Klauen, die sich die lose Haut an den Vorderbeinen greifen und das Fell etwa zur Hälfte von den Kadavern ziehen. «Pass auf deine Finger auf», rät mir ein Kollege (der noch nicht gemerkt hat, dass mir das bereits zur Lebens­aufgabe geworden ist).

Die Arbeit in einem Schlacht­hof ist erschütternd.

Ich möchte hier nicht ins Detail gehen, aber es ist womöglich der einzige Job, bei dem der Verlust des Geruchs- und des Geschmacks­sinns von Vorteil ist. Es ist ausserdem ein unmissverständlicher Hinweis darauf, dass sich unsere Interaktion mit Tieren im Wesentlichen auf ihren Verzehr beschränkt.

Es mag sein, dass wir im Leben eine Handvoll geliebter Haustiere haben. Meinen Berechnungen nach verzehrt (falls unser Fleisch­konsum auf gegenwärtigem Niveau bleibt) ein heute geborener Brite im Lauf seines Lebens 5 Kühe, 20 Schafe, 25 Schweine und 1785 Hühner.

Je reicher Länder werden, desto mehr Fleisch essen sie. Selbst in Japan, wo man sich traditionell von Fisch ernährt, hat sich der Fleisch­konsum pro Kopf in den letzten vierzig Jahren verdoppelt. Das Vereinigte Königreich, wo ich lebe, tötet jährlich 11 Millionen Schweine, Japan 16 Millionen, Deutschland 53 Millionen, die USA 130 Millionen und die Schweiz 2,5 Millionen.

Dieser Fleisch­konsum ist ohne kognitive Dissonanz undenkbar. Reicht man Leuten einen Snack aus Rindfleisch und fragt man sie dabei, ob Kühe Schmerzen empfinden, dann ist die Wahrscheinlichkeit, darauf ein Ja zu bekommen, geringer als bei einer Handvoll Nüsse. Wenn man die Intelligenz von Tapiren – wilden Tieren, die Schweinen etwas ähnlich sehen – hervorhebt, sagen die Leute, dass Tapire mehr moralische Sorge verdienen; wenn man dasselbe mit Schweinen macht, tun sie das nicht.

Wir ignorieren ihr Leiden, weil wir sie essen wollen.

Wir haben Faustregeln. Die führen uns aber in die Irre. Wir gehen davon aus, dass weisses Fleisch weniger grausam ist als rotes. Auch wenn Hühner, die bereits in der ersten Woche auf das Vierfache ihrer Grösse gemästet und im Alter von sechs Wochen geschlachtet werden, ein elenderes Leben führen als das durch­schnittliche Mastrind. Überall auf der Welt werden Schweine – neugierige und gesellige Tiere – in Ställen und in Metall­gattern gehalten, die zu klein sind, um sich darin auch nur umzudrehen. Dabei schneiden Schweine bei einigen kognitiven Tests nicht weniger gut ab als Hunde, wenn nicht gar besser. Aber wir wären empört, sähen wir einen Hund wie ein Mast­schwein behandelt.

Ein weiterer blinder Fleck ist die Milch­wirtschaft. Vegetarierinnen sehen in ihren Produkten im Allgemeinen einen schuld­freien Genuss, da hier nicht getötet zu werden scheint. Molkerei­produkte bedeuten aber oft die künstliche Befruchtung von Kühen – und die Trennung der Kälber von ihren Müttern direkt nach der Geburt. Damit wir diese zu unserem leiblichen Wohl melken können. Weil uns Milch und Käse schmecken, scheren wir uns nicht um das Band zwischen Mutter und Kalb.

Dann wären da noch die Fische. Wir töten Billionen davon Jahr für Jahr. Studien legen nahe, dass sie sehr wohl Schmerz empfinden. Die einschlägige Gesetz­gebung freilich sagt wenig über die Fang­methoden auf hoher See; nicht selten schleppt man sie stunden­lang in Netzen durchs Wasser, um sie dann an der Luft ersticken zu lassen. Wenn Sie das nächste Mal frischen Fisch kaufen, fragen Sie den Händler, wie der Fisch gestorben ist.

Töten nötig

Unsere Tierethik fusst auf dem Gedanken, der Grausamkeit ein Ende zu setzen. Dieser geht zurück auf das 19. Jahr­hundert – auf das Entsetzen wohlmeinender Männer und Frauen ob der Quälereien, denen sie die Pferde in unseren Städten ausgesetzt sahen. Heute manifestiert er sich in der gelegentlichen moralischen Hysterie gegenüber gewissen Jagd­praktiken oder der Misshandlung von Haustieren. 2010 erhielt eine Britin Mord­drohungen, nachdem eine Überwachungs­kamera sie dabei gefilmt hatte, wie sie eine Katze in eine Mülltonne warf. (Sie entschuldigte sich; ihrer Mutter zufolge «liebte» sie Katzen sogar.)

Aber gegen Grausamkeit zu sein, reicht eben nicht. Der Verzehr von Fleisch, Fisch und Milch erscheint uns nicht grausam, weil er uns so normal und notwendig scheint.

Er ist nicht notwendig.

Gemäss der American Dietetic Association ist eine richtig geplante vegetarische oder vegane Ernährung «gesund, vom ernährungs­wissenschaftlichen Stand­punkt her adäquat und womöglich von Vorteil bei der Prävention und Behandlung gewisser Krankheiten».

Ab und zu ist das Argument zu hören, man könne in Ländern wie Gross­britannien aus Umwelt­gründen nicht auf grasende Kühe und Schafe verzichten. Nun: Erstens rechtfertigt dies nicht die Hühner-, Fisch- und Schweine­farmen (die den Grossteil des britischen Tierbestands ausmachen). Und zweitens: Gemäss neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen wurde bisher der Nutzen der Weide­wirtschaft für den CO2-Haushalt überschätzt. Es liesse sich weit mehr Kohlen­stoff einlagern, würden diese Böden in Wälder oder Wiesen umgewandelt.

Corey Arnold
Corey Arnold

Aber die Vegetarierinnen sind für die Entwaldung des Amazonas­gebiets verantwortlich, sagen Sie? Nun: Drei Viertel der Sojaproduktion wird an Vieh verfüttert; weniger als 5 Prozent werden zu Tofu und Sojamilch. Es wäre schlicht effizienter, die Bohnen einfach zu essen, als damit Tiere zu mästen. Kein einzelner Faktor trägt mehr zum Aussterben wilder Tiere bei als die Ausweitung der Land­wirtschaft. Aber wir fühlen uns nicht verantwortlich, wenn Orang-Utans plötzlich ohne Urwald dastehen. Wir könnten einen Gutteil der Erd­oberfläche für Wild­tiere freimachen, würden wir auf eine rein pflanzliche Ernährung umstellen.

Bisher reichen unsere Versuche, dem allen Abhilfe zu schaffen, bei weitem nicht aus. Wir haben – sowohl physisch wie mental – Distanz gebracht zwischen uns und die Tiere, auf deren Leben wir Einfluss nehmen. Fast die Hälfte aller Amerikanerinnen spricht sich für ein Verbot der Massen­tierhaltung aus, 40 Prozent für ein Verbot von Schlacht­häusern – und nur 5 Prozent von ihnen sind Vegetarier. «Amerikaner sagen Meinungs­forscherinnen ständig, dass sie weniger Fleisch essen, und dennoch essen sie ständig mehr», sagt der Aktivist Lewis Bollard. (Eine mögliche Erklärung wäre die, dass sich die Befragten bei solchen Umfragen auf «rotes» Fleisch beziehen.)

Die beste Zeit, Kinder nicht auf den Geschmack von Fleisch zu bringen, wäre die frühe Kindheit. Da entwickelt sich ihr Geschmacks­sinn erst. Nur haben Eltern da meist anderes im Kopf. Und für Schulen sind tierische Produkte nach wie vor die erste Option. Lassen wir es doch von Anfang an, uns unseren Umgang mit Tieren schönzureden. Sehen wir lieber zu, dass sich unsere Kinder gar nicht erst an Fleisch, Milch­produkte und übertriebenen Konsumismus gewöhnen. Es ist ihre Welt, die wir hier sabotieren. Ihre Ankunft kann uns zur Veränderung motivieren.

Die Ernährung ist eine der wichtigsten Möglichkeiten, unsere Beziehung zur Tierwelt zu ändern. Doch unser Denken lässt uns nicht nur diesbezüglich im Stich. Wir heizen unser zugiges Zuhause und fliegen in die Ferien, empfinden unseren Kohlenstoff­ausstoss aber nicht als grausam gegenüber Tieren. Und das, obwohl der Klima­wandel wohl noch in diesem Jahr­hundert zum Verschwinden der Korallen­riffe mitsamt ihrer Lebens­fülle führen wird.

Zoos sind voll von besten Absichten, sowohl aufseiten der Natur­schützer als auch der Besucherinnen. Und so, wie wir davon ausgehen, dass das Vieh auf dem Bauernhof glücklich ist, gehen wir davon aus, dass es Wild­tieren im Zoo gut genug geht. Aber grosse Tiere auf engem Raum zu halten, ist ein Relikt aus der Zeit der Menagerien. Besonders Elefanten scheinen sich auf Beton­böden, in künstlichen Herden und in gemässigtem Klima nicht wohl­zufühlen. Aus Tier­perspektive gilt: Zoos sind womöglich problematischer als die Jagd in freier Wildbahn, bei der sie irgend­wann ein rascher Tod ereilt.

Heilung

Wir brauchen also einen neuen Ansatz. Wir müssen über die persönlichen Interessen von Landwirten, Jägerinnen oder Zoodirektoren hinausblicken. Und uns auf die Folgen ihres Tuns konzentrieren. Richtig verwaltet, kann die Jagd sehr wohl zum Schutz wilder Räume und zu ausgewogenen Öko­systemen beitragen. Die Massen­tierhaltung kann das für gewöhnlich nicht.

Wir müssen uns anderen Tieren gegenüber mit Anstand verhalten.

Und dafür müssen wir die Welt mit ihren Augen sehen.

Die westliche Wissenschaft hat die letzten Jahrzehnte über akzeptiert, dass auch nicht menschliche Tiere Gefühle und Empfindungen haben. Viele indigene Gesellschaften wissen das seit Jahr­hunderten. Sie sehen die enge Verbindung zwischen dem Menschen und anderen empfindungs­fähigen Wesen; sie haben Tiere in ihre Gesellschaften integriert.

«Manchmal frage ich mich, ob Ameisen­igel je dem Trugbild vieler Menschen verfallen, demzufolge ihre Spezies das intelligente Zentrum des Universums ist», schreibt Tyson Yunkaporta, Professor und Angehöriger des Apalech-Clans im australischen Queens­land, in seinem Buch «Sand Talk».

Im Rahmen meiner Recherchen hielt ich mich einige Zeit unter den Yurok auf. Die Ethnie ist inmitten der majestätischen Redwoods Nord­kaliforniens ansässig. Die Yurok, deren Stammes­gebiet sich einen Fluss entlang­zieht, schätzen Lachs und Stör. Und sie arbeiten an der Wieder­herstellung der Population des nicht weniger majestätischen Kalifornischen Kondors. Einigen Stammes­angehörigen zufolge trägt er ihre Gebete gen Himmel.

«Den Kondor wieder zurückzuholen, ihn zu einem aktiven Teil unseres Lebens zu machen, wird uns eine immense Hilfe sein bei unserer Heilung als Stamm und Volk», sagte mir Tiana Williams-Claussen, Stammes­angehörige und Biologin. «Es wird unser Zeremoniell ebenso stärken wie unser Gebet.»

Einer rationalen, westlichen Denkweise erscheinen derlei Rituale kurios. Aber sie verkörpern eine profunde Wahrheit: Unsere Spezies hat seit jeher mit anderen Tieren koexistiert. Und unser Überleben hängt nicht zuletzt von unserem Respekt für sie ab.

Das Christentum hat dagegen eine eher zwiespältige Beziehung zum Tier. Selbst Charles Darwin, der mehr als irgendjemand zu unserem Naturbild beigetragen hat, äusserte sich nirgendwo über unser Zusammen­leben mit anderen Spezies. (Sein eigener Lebens­wandel war durchwachsen: Er verabscheute Grausamkeit, hatte Freude an der Jagd, verteidigte widerstrebend die Vivisektion – und die Vegetarier­bewegung des 19. Jahr­hunderts interessierte ihn nicht.)

Das Ergebnis all dessen: Wir sehen Wildtiere – Wölfe, Haie, ja selbst Pflanzen­fresser wie die Biber – als Bedrohungen und Stör­faktoren. Wir verstossen sogar die Tiere, die uns am nächsten sind: alle anderen Primaten. Gorillas, Orang-Utans, Schimpansen, Bonobos – alle sind gefährdet oder vom Aussterben bedroht.

Die gute Nachricht ist, dass unsere Gesellschaft eine ungeheure Chance hat. Wir müssen Tiere nicht ausbeuten. Wir haben andere Ressourcen in Hülle und Fülle; so könnten wir uns gelegentlich für den Verzehr von Fleisch entscheiden, anstatt gelegentlich darauf zu verzichten. Wir brauchen Pferde weder für unseren persönlichen noch für den Transport von Lasten. Wir brauchen weder Kühe noch Kamele, um etwas zum Anziehen zu haben. Wir brauchen für unsere Unter­haltung weder Bären­kämpfe noch Hunde­rennen. Wir können die land­wirtschaftlich genutzten Flächen ebenso drastisch reduzieren wie das Leid, das wir anderen Tieren zufügen.

Die Pandemie ist uns Lektion: entstanden als Folge eines Virus, der vermutlich von Wild­tieren auf den Menschen übersprang, weil wir deren Habitat zerstört haben. Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass dies die schlimmste Pandemie ist, die wir in unserem Leben zu bewältigen haben werden. Die implizierte Hoffnung ist, dass sie etwas zur Folge hat: mehr Demut gegenüber der Natur.

Einen grossen Teil unserer Geschichte standen wir im direkten Wettbewerb mit wilden Tieren. Jetzt können wir unser gemeinsames Schicksal erkennen. Der Klima­wandel schadet im Grossen und Ganzen uns nicht weniger als den Wildtieren. Der Verlust an Wäldern, Grasland und Korallen­riffen ist schlecht für uns alle. Wir sorgen uns, dass unsere Welt unbewohnbar wird. Aber für Millionen von Tieren ist sie das längst.

Tiere erinnern uns nicht nur an unsere evolutionäre Vergangenheit. Sie erinnern uns an unsere Zukunft.

Bizarre Körper

Vor ein paar Jahren war ich mit dem Schiff in den Farne-Inseln im Nordosten Englands unterwegs, um Papageien­taucher zu fotografieren. So niedlich diese Vögel aus der Nähe aussehen, so plump wirken sie, wenn sie – gegen die heftigen Winde ankämpfend – ihre Nester anfliegen. Auf der Rückfahrt zum Festland flüsterte ein kleiner Junge seinen Eltern zu: «Ich mag die Papageien­taucher.» Nun, ich mag sie auch, dachte ich bei mir. Aber was hatte ich getan, um ihr Leben zu verbessern? Papageien­taucher leiden unter dem Klima­wandel, der Überfischung und dem Verlust ihres Habitats – alles Probleme, über die der Mensch, wenigstens bis zu einem gewissen Punkt, die Kontrolle hat.

Eine der Geschichten, die ich meinen Töchtern vorgelesen habe, war eine Version von Rudyard Kiplings Geschichte «Wie der Leopard zu seinen Flecken kam». Sie erzählt von einem Menschen, der dem Leoparden half, sich im Schatten zu verstecken, indem er ihm durch Aufdrücken seiner schwarzen Hände etwas von seiner Hautfarbe abgab. Eine wohl­meinende Fantasie, versteht sich. Die tatsächliche Auswirkung unseres Handelns auf die Tierwelt ist eine andere: Wir züchten unseren Nutz­tieren bizarre Körper an und rotten Wild­tiere durch unsere expansive Land­wirtschaft aus.

Corey Arnold

Die Geschichte, die ich meinen Töchtern erzählen werde, geht so: Tiere zu lieben, beschränkt sich nicht darauf, ihre Schönheit zu bewundern. Es bedeutet vielmehr, unsere Klima­bilanz so zu verbessern, dass wir in Harmonie mit ihnen leben können. Wir sollten nicht nur fragen, was Tiere für uns tun können; wir sollten uns fragen, was wir für die Tiere tun können. Wir sollten die Massen­tierhaltung weitgehend aufgeben. Ich schlage vor, die Hälfte unseres Planeten als Schutz­flächen zu deklarieren. Einige Parks könnten für den Tourismus freigegeben werden; anderen sollte die menschliche Präsenz so weit als möglich erspart bleiben.

Der Hauptgewinn, um den es uns gehen sollte, ist eine Art von menschlichem Fortschritt, der nicht nur für uns von Vorteil wäre. Sondern auch für alle anderen empfindungs­fähigen Wesen, die unsere Welt mit Schönheit erfüllen.

Ich meine: Was hat es letztlich für einen Sinn, sich mit unserer Tierliebe zu brüsten, wenn wir nicht danach handeln?

Zum Autor

Henry Mance ist Chief Features Writer bei der «Financial Times», wo der Beitrag zuerst am 16. April 2021 erschienen ist. Ende April ist sein Buch «How to Love Animals in a Human-Shaped World» erschienen.

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