«Er manipulierte nicht nur unsere Körper, sondern auch unsere Köpfe»
Zu den eindrücklichsten Momenten der #MeToo-Bewegung kam es nicht in Hollywood oder auf Twitter, sondern vor Gericht: als 156 Frauen gegen den ehemaligen Teamarzt der US-Kunstturnerinnen aussagten. Er missbrauchte während zweier Jahrzehnte Hunderte von Athletinnen.
Von Yvonne Kunz, 19.08.2020
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Gefühlsduselei vor Gericht ist uns hierzulande fremd. Justiz soll sachlich sein, distanziert. Emotionen haben keinen Platz in einem Prozess. Doch welche Wucht und gesellschaftliche Relevanz Gefühle im Gerichtssaal entfalten können, wenn sie nicht durch juristische Floskeln gefiltert werden, offenbart sich in «Athlete A». Die Netflix-Dokumentation thematisiert den monströsen Fall von sexuellem Missbrauch um den früheren Teamarzt der US-Kunstturnerinnen, Larry Nassar.
Im Film sind es nur einige Minuten – in der Realität waren es 156 Frauen, die vor den Schranken ein sogenanntes Victim Impact Statement abgaben. Im angelsächsischen Rechtswesen sind solche Statements das Anrecht der Opfer, sich nach einem Schuldspruch bei der Anhörung zum Strafmass zu äussern. Sie sind ein Merkmal der therapeutic jurisprudence, der therapeutischen Rechtsprechung. Im Zentrum dieser Philosophie steht die Prämisse, dass das Recht, juristische Prozesse und das Verhalten der Rechtspflegerinnen unweigerlich einen Einfluss haben auf das Wohlergehen der Menschen – und damit auf das Gemeinwohl.
Ort: Ingham County Circuit Court, Lansing, Michigan (USA)
Zeit: 16. bis 24. Januar 2018
Fall-Nr.: 17-143-FC
Thema: Sexueller Missbrauch, teils Minderjähriger
Während sieben Tagen im Januar 2018 legten 156 Betroffene Zeugnis ab. Darüber, welch verheerende Auswirkungen der sexuelle Missbrauch von Larry Nassar auf das Leben seiner Opfer hatte. Ihre Victim Impact Statements sind heute überall zu finden; auf Youtube, in Medienberichten und verschiedenen journalistischen Recherchen um Skandale, nicht nur im US-Turnen. 15-jährige Schülerinnen äussern sich, aber auch gestandene Olympiasiegerinnen. Manche schluchzend, andere schreiend.
Aber alle ohne jegliche Scham über ihre Versehrtheit. Alle entschlossen und bis ins quälendste Detail offen.
Wie wund sich ihre kindlichen Vaginen angefühlt hatten. So sehr, dass sie nach der «Behandlung» auf dem Heimweg im Auto nicht mehr aufrecht sitzen konnten. Wie sie irgendwie wussten, schon als kleine Mädchen, dass nicht in Ordnung ist, was ihnen geschieht. Oder mehr ahnten als wussten. Er war ja der grosse Wunderdoktor, der ihre Glieder zurechtrückte, wenn sie schmerzten, verschoben oder gebrochen waren. In der rigiden Welt der Elite-Turnerei erschien er vielen als der einzige freundliche Mensch. Er steckte ihnen Süssigkeiten zu.
Das sei es, sagt Catherine Hannum in ihrem Statement, was sie bis heute am meisten verfolge: ihr damaliger Selbstzweifel. Auch als Nassar an ihren Brüsten herumfummelte, mit erigiertem Penis, hinterfragte sie sich – nicht etwa ihn. Krista Wakeman beschreibt es so: «Er manipulierte nicht nur unsere Körper, sondern auch unsere Köpfe.»
Neben den Athletinnen kommen bei der Anhörung auch Angehörige zu Wort. Die Mutter, die mit Schuldgefühlen kämpft, weil sie nicht erkannt hatte, was mit ihrer Tochter geschieht. Oder eine andere Mutter, die im Namen ihrer Tochter spricht, die sich das Leben genommen hat.
Die meisten wenden sich im Gerichtssaal auch direkt an ihren Peiniger: «Larry», sagt Marta Stern, «deine monströsen Taten haben so vielen so vieles weggenommen.»
«Einen grossen Teil der Kindheit», sagt Jessica Thomashow.
«Über Jahre die Fähigkeit, Glück zu empfinden», sagt Maddie Johnson.
Vertrauen in sich, das Leben, in Menschen. In männliche Ärzte, Verwandte, Freunde, Partner. In Hände. So die Aussagen der Frauen.
Die erste, die ihr Statement abgibt, war mutmasslich auch eines der ersten Opfer. Kyle Stephens wurde im Alter von sechs bis zwölf Jahren missbraucht. «Ich hatte noch nicht einmal alle Milchzähne verloren.» Nassar war ein Freund ihrer Familie. Und die glaubte dem kleinen Mädchen nicht, als es erzählte: «Der Doktor massiert meine Füsse mit dem Penis.» Vor Gericht sagt Stephens: «Sexueller Missbrauch ist so viel mehr als nur ein verstörender physischer Akt. Er ändert den Verlauf deines weiteren Lebens.» Noch mehr als der Missbrauch habe sie die Reaktion ihres Vaters geschmerzt, als er später realisierte, was ihr angetan worden war: Er brachte sich 2016 um.
Zu Nassar gewandt, sagt sie im Gerichtssaal: «Ich äussere mich heute, um die Welt wissen zu lassen, dass kleine Mädchen zu starken Frauen heranwachsen, die deine Welt zerstören.»
«You have pissed off the wrong army of women», sagt Lindsey Lemke.
«Larry», sagt Olympiasiegerin Aly Raisman, «wir sind jetzt eine Macht. Und du bist ein Nichts.»
Clasina Syrovy: «Sag, Larry, wie viele von uns gibt es? Weisst du es überhaupt?»
Die zuständige Bezirksrichterin am Ingham County Circuit heisst Rosemarie Aquilina. Sie ist auch als «Barracuda Aquilina» bekannt, ein Übername aus ihrer zwanzigjährigen Dienstzeit in der US-Militärjustiz. Nassar hatte sich bei Prozessbeginn schuldig bekannt. Kein Grund für die Richterin, ihm kurzen Prozess zu machen. Sie geht im Gegenteil auf das Statement jeder einzelnen Frau ein. Dankt für deren Mut. Ermutigt sie, ihren Schmerz hier im Gerichtsaal zurückzulassen.
Der Hintergrund der Statements ist folgender: Nassar wollte einen Deal. Gnade gegen Geständnis. Staatsanwältin Angela Povilaitis liess sich jedoch nur unter der Voraussetzung darauf ein, dass alle Opfer einverstanden sind – und alle, die sich äussern wollen, es auch tun dürfen. Erst hätten es 90 Betroffene an vier Tagen sein sollen, am Schluss waren es 156 an sieben Tagen. Live gestreamt.
Live gestreamt wird auch Aquilinas Urteilseröffnung. Sie sagt zu Nassar, es sei ihr eine Ehre gewesen, die Überlebenden anzuhören. «Ich hoffe, Sie sind bis in Ihr Innerstes erschüttert – ich bin es.» Es sei ihr auch eine Ehre, ihn zu verurteilen. Wenn Gott gütig sei, und dessen sei sie sich sicher, und er nach den 60 Jahren, die er von einem Bundesgericht wegen der massenhaften Kinderpornografie auf seinen Rechnern schon kassiert hat, noch am Leben sei: «Dann, Sir, verbüssen Sie meine 175 Jahre. Das sind 2100 Monate. Ich habe soeben Ihr Todesurteil unterschrieben.»
Aber nicht nur Larry Nassar stand an jenen Januartagen 2018 vor Gericht. Es ging um mehr als nur den einen Übeltäter. Er war ein Verbrecher in einem System, das Missbrauch über Jahrzehnte tolerierte. Die zum Zeitpunkt des Prozesses 15-jährige Emma Ann Miller sagt aus, Nassar habe sich mehrmals an ihr vergangen, als sie zehn war. Und dass ihr der Staat Michigan, wo der Arzt an der Universität angestellt war, bis heute Mahnungen schicke für die Bezahlung dieser «Behandlungen».
Es ist inzwischen erwiesen, dass die University of Michigan und USA Gymnastics, der nationale Turnverband, gemeldete Verdachtsfälle während Jahren unter den Teppich kehrten. Deshalb drängt Emma Ann Miller den Geständigen, auszupacken, gleich hier, am Gericht: Wer hat wann was gewusst? «Do the right thing! Für uns! Sei ehrlich!»
Die Frauen nehmen alle in die Pflicht, nicht nur Nassar. Olympiasiegerin Aly Raisman sagt: «Hätte uns nur ein einziger Erwachsener zugehört und den Mut und das Rückgrat gehabt, einzuschreiten, diese Tragödie hätte verhindert werden können.»
Die Turnerinnen sind heute Ärztinnen, Sozialarbeiterinnen und Lehrerinnen. Oder Anwältinnen, wie Rachael Denhollander. Die erste Frau, die Nassar öffentlich bezichtigt hatte. Auf die Frage, was nun noch getan werden müsse, für die Gerechtigkeit, sagte sie: «Alles.»
Es ist zwar nicht nichts, was seit dem Prozess 2018 geschehen ist. Aber noch immer tun sich Behörden und Verbände schwer mit der Bewältigung des Missbrauchsskandals.
Eine der Schlüsselfiguren ist der frühere Präsident von USA Gymnastics, Steve Penny. Er hat Larry Nassar zu seiner Amtszeit nachweislich gedeckt – dennoch liess er sich bei seinem Rücktritt 2017 rund eine Million Dollar Abfindung auszahlen. Einige Monate nach dem Prozess war er kurz in Haft. Seither dümpelt die Anklage wegen Unterschlagung von Beweismitteln an einem texanischen Gericht vor sich hin.
Auch die Zivilverfahren um Schadenersatz kommen nicht voran. Der US-Turnverband hat inzwischen Insolvenz angemeldet. Es wird gemunkelt, um den Entschädigungsforderungen der Turnerinnen nicht nachkommen zu müssen. Anfang 2020 hatte USA Gymnastics erneut für Empörung gesorgt: mit dem Versuch, im Gegenzug für eine Zahlung von gesamthaft 217 Millionen Dollar an die über 500 Betroffenen die Zusicherung auszuhandeln, auf jegliche Zivilklagen gegenüber weiteren Funktionären und Trainern zu verzichten. Mit eingeschlossen jene des Olympischen Komitees der USA.
Darauf twitterte die Lichtgestalt des US-Turnsports, Simone Biles, auch sie ein Opfer Nassars: «Ugh!», pfui.
Illustration: Till Lauer