Herrliche, naturbelassene Weite – oder ödes, brachliegendes Land? Die Grosse Allmend in Frauenfeld sollte heute eigentlich ganz anders aussehen.

Frauenfelds Leere

Dieses Wochenende wäre es so weit gewesen: 185’000 Besucherinnen am Open Air Frauenfeld, dem grössten Hip-Hop-Festival Europas. Was passiert mit einem Ort, wenn so viele Menschen wegbleiben?

Eine Reportage von Daria Wild (Text) und Mina Monsef (Bilder), 09.07.2020

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68 Fussballfelder: So gross ist die Fläche, auf der jeweils das Open Air Frauen­feld stattfindet. Eine eigene kleine Welt am Rand der Stadt, mit eigener Migros-Filiale, Food-Ständen und Zeltstadt. Es ist das grösste Festival der Deutsch­schweiz. Die Grosse Allmend, die nicht nur gross, sondern riesig ist, wird jeweils während Wochen auf den Anlass vorbereitet.

Heute hätte es angefangen, das Festival, 185’000 Fans wären während der nächsten vier Tage auf das Gelände geströmt, hätten gegessen, geschlafen, gefeiert. Aber dieses Jahr bleibt die Grosse Allmend leer, Corona hat dem Open Air einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Und jetzt?

Ein Open Air zu besuchen, das nicht stattfindet, ist gar nicht so einfach. Die Route führt das Auto von der Auto­bahn, Ausfahrt Frauenfeld-Ost, zügig an den Rand einer Pferde­rennbahn. Rundherum eine breite, geteerte Strasse, dahinter Wiesen, Wälder, ein sanft sich aufbäumender Hügel­zug. Ein Gelände zwischen Natur­schutz­gebiet, Militär­zone, Bauern­hof und einer in die Jahre gekommenen Tribüne. Zwei Militär­helikopter ziehen Kreise. An einem weissen, hüfthohen Zaun hängt eine Tafel: Rennbahn überqueren verboten. Vergeblich sucht das Auge nach Über­resten oder Hinweisen auf eine Haupt­bühne, einen Zelt­platz oder einen Festivaleingang.

Nach Corona: Statt Bühne – nichts.
Vor Corona: Bühne mit viel Stimmung. David Hubacher

Willkommen beim Nicht-Open-Air Frauenfeld.

Der Blick hinüber zur Stadt, deren Bahnhof von hier in einem knapp halb­stündigen Fuss­marsch zu erreichen ist, fällt auf den Turm der katholischen Kirche und den Spital­neubau am Hang. Sonst ist nicht viel von Frauenfeld zu sehen. Es gibt einen Imagefilm der Stadt von 2016, er dauert neun Minuten, irgendwann in der zweiten Hälfte wird das Open Air genannt, knapp zehn Sekunden werden ihm vergönnt. Ein winziger Teil der Stadt. Nicht das Festival trägt laut diesem Film den Namen Frauenfelds in die Welt hinaus, sondern eine Firma, die rahmenlose Fenster herstellt.

Es sei denn auch nicht die Stadt, werden Gesprächs­partnerinnen später sagen, die das Festival gross spüre – abgesehen vom Bahnhof bei der Ankunft und von der Badi in heissen Jahren. Festival­gänger werden zu Tausenden auf die Allmend gefahren und bleiben – was natürlich im Sinne der Veranstalter und der Food- und der Non-Food-Stand-Betreiber ist.

Und jetzt?

Es windet, es ist grün, es ist Morgen. Am Rand der Wiese sind ein gutes Dutzend junge Lämmer eingezäunt. Vor dem einzigen Bauern­haus auf der Allmend steht Lisa Beutler, Bewirtschafterin der Grossen Allmend. Für sie ist der Wegfall des Open Airs eine Wohltat, in den vorherigen Jahren mussten ihre über 500 Schafe jeweils den Besucherinnen weichen, und das Mähen und Pflegen der Wiesen wird Jahr für Jahr auf die Festival­wochen ausgerichtet. «Wir wussten natürlich, dass das dazugehört, als wir das Land pachteten», sagt Beutler. Ohne sei es aber schon schöner. «Wir können auf einmal alles so machen, wie wir möchten.»

Keine Zäune zur Naturschutzzone

Die Bewirtschafterin verdient nichts am Open Air, geht aber etwas kaputt, entschädigen die Veranstalter sie dafür. Auch für die Aussaat der Wiese kommen sie auf. Gehören tut das Gelände der Armasuisse, dem Bundes­amt für Rüstung. Seit weit über hundert Jahren ist die Allmend ein Waffen­platz, die Strassen rund um das Gelände heissen Haubitzen­strasse oder Militär­strasse, noch heute ist es ein Übungs- und Schiessplatz.

Kaum einer kennt das Gebiet so gut wie Joggi Rieder – jeder Stein­haufen, jedes Gehölz, jede Pflanze ist dem Umwelt­natur­wissenschaftler bekannt. Mit dem Fahrrad und in Flipflops rauscht er auf einen Parkplatz neben einem Militär­gebäude unweit des Bauern­hofes. Rieder hatte bis vor einem Jahr ein ökologisches Beratungs­mandat bei der Grund­besitzerin Armasuisse inne, viele Bäume, Hecken und Bunt­brachen auf der Allmend hat er selber angepflanzt.

«Nie wird die Natur so fest in Ruhe gelassen wie während der Open-Air-Tage»: Umweltnaturwissenschaftler Joggi Rieder …
… kennt rund um Frauenfeld jedes Gehölz, jede Pflanze.

Er zeigt auf einen mit hohem Gras umwachsenen, keinen Quadrat­meter grossen Tümpel gleich neben dem Parkplatz. «Das ist ein Rückzugs­gebiet für Heuschrecken und Spinnen. Denen wird ja jedes Mal, wenn gemäht wird, quasi das Haus abgerissen.» Letztes Jahr beendete Rieder das Mandat bei der Armasuisse, «wie ein Kind, das man gehen lassen muss». Noch immer aber sitzt er in der städtischen Kommission, die über Anlässe auf der Grossen Allmend entscheidet.

Die Allmend bewege sich in einem Spannungs­feld zwischen Militär, Natur­schutz und Veranstaltungen, sagt er. Priorität hat der Militär­betrieb, aber das Gebiet – «topfeben, gut erschlossen» – ist zu gut geeignet für Anlässe, um es ungenutzt zu lassen. Und der Natur­schutz? Rieder weiss genau, wo das Festival­gelände anfängt und die Natur­schutz­zone aufhört. Meterhohe Zäune trennen diese zwei Gebiete während des Festivals. «Jetzt ist alles offen», sagt Rieder. «Ich sage deshalb immer: Nie wird die Natur hier so fest in Ruhe gelassen wie während der Open-Air-Tage.» Die Bäume im Gelände drin würden mit Gittern geschützt, seit zwei Jahren sei auch der Fussweg zur nahen Thur während der Festival­tage gesperrt.

Und jetzt?

Die Allmend ist leer, vereinzelt fahren Autos über die Strasse um den Renn­platz, mal ein Traktor, mal ein Fahr­rad. Ein paar Rekruten lungern herum, sie warten auf die Inspektion. Aus der Ferne sind manchmal Schüsse zu hören. Am Rand der Wiese, die jetzt Zeltplatz wäre, lassen ein paar Menschen einen Modell­flieger steigen.

Die Wiese habe sich an das Open Air gewöhnt, eine Pause hätte die nicht nötig gehabt, sagt Rieder. Zum einen sei das Festival für die arten­armen Wiesen, auf denen gezeltet werde, kein Problem, solange es nicht regne. Zum anderen sei die Wiese auch jetzt, wie jedes Jahr, gemäht. Dieses Mal einfach nicht wegen des Festivals, sondern «weil jede Wiese einmal im Jahr gemäht werden muss». Man merkt rasch: Rieder, der bereits am allerersten Open Air Frauenfeld war, hätte es lieber gehabt, der Sommer wäre nicht ohne geblieben.

Keine Frage von Weideland und Wehmut ist der Wegfall des Open Airs beim lokalen Gewerbe. Hier geht es um die Existenz.

Nach Corona: Betreten verboten!
Vor Corona: Bitte betreten, und zwar alle! David Hubacher

Anruf bei Ilg-Taxi. Das Familien­unternehmen mit Sitz am Bahnhof führt eine Flotte von 13 Fahr­zeugen. In diesen vier Tagen würde ihr Unter­nehmen einen halben Monats­umsatz machen, trotz der zwischen 200 und 300 Taxis, die aus der ganzen Schweiz kämen, um die Gäste herumzufahren – in Hotels, an den Bahnhof, nach Hause. Ilgs Team wäre Tag und Nacht auf Achse, zusätzliche Springer würden eingesetzt, die Fahrerinnen hätten eine strenge Zeit, «aber auch eine schöne, wir freuen uns immer». Geschichten würden erzählt werden vom Open Air.

Und jetzt ist der Juli ein Monat wie jeder andere, beziehungs­weise im Moment: corona­bedingt noch immer schwach, aber auf Erholungs­kurs. Der Wegfall aber, sagt Ilg, reisse ein grosses Loch in die Kasse.

Keine coolen Leute, wenig Bewegung

Fünf Autominuten von der Allmend steht das Hotel Frauenfeld. Auf den ersten Blick ist es eine Tank­stelle und eine Auto­wasch­anlage, auf den zweiten ein auf Hunde spezialisiertes Mini-Shopping­center, erst auf den dritten Blick ein Hotel. Das Gebäude dahinter, ein motel­artiger Bau aus Sicht­beton, fasst Zimmer mit Blick auf den Wald. Der Frühstücks­raum ist tageszeit­bedingt gähnend leer, auf dem anthrazit­farbenen Beton­boden stehen schlichte Tische und Stühle. An der Wand hängen Drohnen­bilder vom Kanton Thurgau.

Simona Maier passt nicht zur Leere. Die Geschäfts­führerin des Hotels Frauenfeld ist fröhlich, lebhaft und redet in einem so schnellen Schwäbisch, dass man manchmal Mühe hat, zu folgen. In den Wochen vor und während des Festivals beherbergt sie in den 74 Zimmern vor allem Mitarbeiterinnen des Open Airs, ein paar wenige Zimmer sind für treue Festival­gänger reserviert, 15 sind langzeit­vermietet – unabhängig von Festivals. Kaum war das Open Air abgesagt, buchten ihre Gäste die Zimmer für 2021. Nächstes Jahr wird der Event um einen Tag verlängert.

«Nächstes Jahr geht wieder der Punk ab»: Simona Maier, Hotelchefin.

Maier spricht mit Begeisterung von der Festival­zeit, auch wenn sie mit 52 «zu alt für ein Open Air» sei und auch wenn das manchmal heisse, in regnerischen Nächten im Fünf­minuten­takt Festival­gästen zu sagen, dass man leider keine freie Betten mehr habe. Nächstes Jahr gehe «bestimmt wieder der Punk ab», den ganzen Tag Bewegung, coole Leute, nicht wie jetzt: Das Hotel ist ein Business­hotel, die meisten kommen abends spät und reisen am Morgen früh wieder ab.

Der Wegfall des Festivals bedeutet für das Hotel einen weiteren Verlust in einer ohnehin schon schwierigen Zeit, «aber das Jahr hat 365 Tage, ein Open Air allein macht einen nicht überlebens­fähig». Und der Wegfall allein stürzt das Geschäft nicht in grosse Not. Das Hotel Frauenfeld ist vor allem ein Business­hotel, die Stadt hat eine starke Industrie und viele Haupt­sitze, das bringt Besucher in die Stadt. Und jetzt vor allem: Velotouristinnen.

Kein Zelt im Garten

Zurück auf der Allmend. Es regnet inzwischen in Strömen, auf einem Kies­platz stehen verloren und verlassen ein paar Last­wagen herum. Hier lebt Silvia Salzmann seit Jahr­zehnten mit ihrem Mann, als praktisch einzige Anwohnerin am Rand des Festival­geländes. Salzmann betreibt ein Hunde­ferien­heim, am Eingangs­tor hängt ein Schild: Vorsicht vor dem Hund und vor dem Besitzer.

Aber Salzmann ist eine herzliche, quirlige und lustige Frau, gerade habe sie sich im Garten­häuschen ausgeruht, um auf ihren frisch kastrierten Hund Daro aufzupassen. «Er will immer an der Naht rumschlecken, aber wenn die wieder aufgeht, kannst du von vorne anfangen.»

Schon Wochen vor dem Festival ist hier Betrieb. Während des Wochen­endes ziehen dann Tausende Besucherinnen auf dem Weg zum Haupt­eingang an Salzmanns Haus vorbei. Die Haupt­bühne ist gerade mal ein paar Dutzend Meter von ihrem Garten entfernt, aber die Pensionäre Salzmann nehmen in diesen Tagen nicht etwa Reissaus, sondern zelten im Garten, «um die Stimmung zu erleben». Sie sagt: «Wir hören uns auch die Konzerte an, einen besseren Platz kann man gar nicht haben.»

Und jetzt?

Salzmann macht das, was sie immer tut: Sie kümmert sich hingebungs­voll um die Hunde, ein Leckerli da, eine Streichel­einheit dort, ein Gang durch den Garten; Rosen, Whirlpool, Pool, «was man nicht alles macht für die Enkel».

Und jetzt, so ganz ohne Konzerte?
Silvia Salzmann, Besitzerin von Silvias Hundestation, bleibt ohne Open Air wenigstens mehr Zeit für ihre Zöglinge.

Von Salzmanns Haus die Waffenplatz­strasse entlang am Rennbahn­gebäude vorbei kommt man zu zwei kleinen, würfel­artigen Blöcken, vierstöckig. Hier gibt es ein Hotel und das Restaurant Kostbar, und obwohl es um einiges belebter ist als im Hotel Frauenfeld – es ist später Mittag –, klingt es bei Fabian Weh, Inhaber des Restaurants und des dazugehörenden Hotels, düster. Weh ist ein junger, schmaler Mann, in Levi’s-Shirt, Jeans und Turn­schuhen, «ein Guter», hatte Nachbarin Salzmann gesagt.

Kein Liegestuhl auf dem Dach

Nicht nur wäre dieses Hotel in diesen Tagen ebenfalls von Crew­mitgliedern besetzt, auch das Restaurant würde auf Hoch­touren laufen, um die Crews zu versorgen. Statt für Konferenz­besucherinnen würde Wehs Küche für Stars und die Veranstalter kochen, einmal bestellte die ganze Crew von Pharrell Williams Essen. Weh hätte hier eine Art gediegenen Backstage-Bereich. Und vom Dach des Hauses könnte er in einem Liege­stuhl den Konzerten folgen.

Und jetzt?

Ein Metallgerüst und Plastik­planen umhüllen das Gebäude, Weh hat die Zeit für Investitionen genutzt. Vom Dach des Hotels aus zeigt er, wo die Bühne stünde, irgendwo neben der einen, hohen Birke. Im Restaurant stellt eine Mitarbeitende übrig gebliebene Kuchen­stücke auf den Tisch. Vom inzwischen leeren Restaurant – die Konferenz­besucher haben sich für das Nachmittags­programm verzogen – blickt man direkt auf ein braunes Viereck. Hier üben manchmal Pferde irgendwas. Auf einem Plakat­ständer wirbt ein Unter­nehmen dafür, Firmen zu verkaufen. Ein Gast sagt: «Schreiben Sie ja nicht, wie schön wir es hier haben, sonst kommen alle.»

«Das Loch in der Kasse wird bleiben»: Fabian Weh, Küchenchef und Hotelier.

Weh sagt: «Wäre das mein erstes Jahr als Selbst­ständiger gewesen, ich hätte das nicht überstanden.» Weh war vier Jahre lang Küchen­chef der Kostbar, bevor er das Restaurant 2016 und – erst im Januar dieses Jahres – das Hotel mit 48 Zimmern übernahm. Das Sommer­loch sei in anderen Jahren durch die Festival­tage gefüllt worden, nun fehle ein Umsatz von 100’000 Franken. «In dieser ganzen Corona-Zeit war es meine grösste und ständige Sorge, dass das Open Air nicht stattfindet. Das Loch in der Kasse wird bleiben», sagt Weh. Aber er macht weiter.

Und das Open Air Frauenfeld selber? Anruf bei Joachim Bodmer, Medien­verantwortlicher der First Event AG, die das Festival veranstaltet. Das Open Air sei nicht abgesagt, korrigiert Bodmer umgehend, sondern verschoben worden. Nächstes Jahr wird das Festival einen Tag länger dauern, und wenn möglich sollen die gleichen Bands auftreten. 3 Millionen Franken, die bis jetzt schon ausgegeben wurden, sind trotzdem verloren. Und die Wertschöpfung von 15 Millionen, die die konsumierenden Besucherinnen auf der Allmend generieren würden, bleibt auch aus. Aber das Open Air stehe finanziell auf soliden Füssen, sagt Bodmer. Und das Wochen­ende? «Das werde ich dieses Jahr mit der Familie verbringen. Und wir haben ein kleines Grillieren geplant für die Mitarbeitenden und die Helferinnen.»

Der Regen hat sich verzogen, die Sonne scheint wieder auf die Allmend. Eine letzte Fahrt über das Gelände, ein letzter Versuch, den genauen Standort der Haupt­bühne des Open Airs zu verorten. Jogger, Bikerinnen, Spazier­gänger mit Hunden wuseln in den Wald. Auf der Allmend kann man sich verfahren, so gross ist sie, so viele Strassen und Wege durch­ziehen die Ebene, durch­ziehen all die abzugrasenden Weiden.

Lisa Beutlers Schaf­herde ist jedenfalls nirgends zu finden.

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