Binswanger

Am Ende der Polarisierung

Rassismus spaltet die USA. Kann der Antirassismus das Land wieder einen?

Von Daniel Binswanger, 06.06.2020

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Keiner hat die Corona-Krise kommen sehen, hat vorab gewusst, dass von Anfang Januar bis Ende Mai weltweit knapp 400’000 Menschen dem Virus erliegen. Obwohl das Risiko einer Pandemie erwiesen war, obwohl es an einzelnen Warnrufen nicht fehlte, obwohl andere Viren immer wieder demonstriert hatten, dass in einer hyper­vernetzten Welt gefährliche Erreger ausser Kontrolle geraten können. Die Corona-Krise war programmiert – und hat uns dennoch kalt erwischt.

Genauso wenig hat man kommen sehen, dass es im Wahljahr für die US-Präsidentschaft zu den heftigsten Rassen­protesten seit über 50 Jahren kommen würde. Obwohl Polizei­gewalt gegen Afroamerikaner mit furchtbarer Regel­mässigkeit zu tödlichen Übergriffen führt; obwohl sich mit «Black Lives Matter» seit 2013 eine machtvolle Gegen­bewegung formiert; obwohl Donald Trump von rassistischer und xenophober Rhetorik ins Amt getragen wurde und nie etwas anderes getan hat, als Konflikte zu eskalieren. Erinnern Sie sich noch an die Nazis in Charlottes­ville, die der Präsident als «very fine people» bezeichnete? War nicht damit zu rechnen, dass früher oder später ein Flächen­brand ausbricht, wenn im Weissen Haus ein Brand­stifter residiert? Auch die plötzliche Eruption von Massen­protesten darf uns im Grunde nicht überraschen.

Doch es ist ein seltsames Gesetz der Wahrnehmungs­psychologie: Wenn alle strukturellen Bedingungen für eine katastrophale Entwicklung erfüllt sind, wird es irgendwann zur Katastrophe kommen. Der Zeithorizont ist jedoch meistens unbestimmt. Jahrzehnte­lang kann alles stabil bleiben – bis die Krise sich entwickelt mit einer Plötzlichkeit, die uns verblüfft und unerklärlich scheint.

Der strukturelle Rassismus in den USA ist eine bittere Realität und hat sich in den letzten Jahren weiter verschärft. Das zeigen nur schon banale ökonomische Eckwerte. Der französische Ökonom Gabriel Zucman hat kompiliert, wie hoch das Durchschnitts­vermögen afroamerikanischer Bürger im Vergleich zum Durchschnitts­vermögen von weissen Amerikanern ist. Vor der Finanzkrise lag es bei rund 20 Prozent: Afroamerikanische Menschen waren damals im Schnitt finanziell fünfmal schlechter gestellt als ihre weissen Widerparts. Seit der Finanz­krise ist der wirtschaftliche Abstand zwischen Weissen und people of colour noch einmal deutlich gewachsen. Rein ökonomisch betrachtet leben farbige und weisse Amerikaner in getrennten Universen.

Und jetzt die Corona-Krise. Nicht nur sind ethnische Minder­heiten sehr viel stärker von Infektionen und Todes­fällen betroffen als weisse Bürger, sie leiden auch viel stärker unter der sprunghaft gestiegenen Arbeits­losigkeit und der dramatischen Rezession. Das hat mit Polizei­gewalt unmittelbar gar nichts zu tun. Und wäre für einen Aufstand allein schon Grund genug.

Eine glänzende Beschreibung des Zustands von Politik und Gesellschaft in den USA ist Ende Januar erschienen: «Why We’re Polarized» des Polit­journalisten und Vox-Chefredaktors Ezra Klein. Es liefert mit gespenstischer Akkuratheit einen Analyse­rahmen für die Verhärtung der politischen Fronten, für die zunehmende Gewaltsamkeit der Auseinander­setzung und für Trumps Versuch, als autoritärer strongman in der aktuellen Krise die Oberhand zu gewinnen.

Ausgangspunkt von Kleins Analyse ist ein scheinbares Paradox: Zum einen ist Trump der abnormste Präsidentschafts­kandidat der jüngeren amerikanischen Geschichte; ein Mann, der zur Republikanischen Partei kaum Verbindungen hatte; über dessen Korruptheit und Liederlichkeit nie der leiseste Zweifel bestand; der keinen einzigen der moralischen Werte und der Führungs­qualitäten verkörperte, die im GOP-Establishment theoretisch hochgehalten werden. Zum anderen aber verlief der Urnengang gespenstisch normal. Genau die Wähler­gruppen, die auch bei den voran­gehenden Präsidentschafts­wahlen für den republikanischen Kandidaten gestimmt hatten, gaben mehr oder weniger in denselben Proportionen 2016 ihre Stimme Trump. Das galt für die Wählerinnen, trotz des grab-them-by-the-pussy-Skandals. Es galt für die religiösen Fundamentalisten, trotz des Lebens­wandels des mehrfach geschiedenen Playboys. Es galt sogar für die Latinos, trotz der systematischen rassistischen Ausfälligkeiten. Wie kann es sein, dass alles seinen erwartbaren Gang ging – und als Resultat ein Freak ins Weisse Haus getragen wurde?

Die Antwort liegt gemäss Ezra Klein in der identitäts­politischen Polarisierung. Die politischen Identitäten sind dermassen rigide geworden, dass ein Realitäts­check nicht mehr stattfindet. Ein Republikaner wird für den republikanischen Kandidaten stimmen – ganz egal, ob dieser Kandidat seinen Vorstellungen entspricht. Er wird sich mit allen Mitteln gegen die Demokraten stellen – ganz egal, ob es Spielraum für Kompromiss und eine gemeinsame Basis geben könnte. Die Fronten haben sich extrem verhärtet. Die Informationen werden aus getrennten Medien­universen bezogen. Partei­loyalität triumphiert über alles.

Die Frage ist: weshalb? Weshalb kapseln sich die Menschen ein in identitäts­politischen Blasen? Weshalb schrumpft der Raum für Kompromiss und Einigkeit? Kleins Antwort ist eindeutig: Der entscheidende Treiber ist die Rassenfrage. Was die amerikanische Politik bis in die Siebziger­jahre hinein geprägt hat, ist die Tatsache, dass die Frontlinien der ethnischen Konflikte nicht mit den Frontlinien der Partei­politik zusammenfielen.

Die Demokraten waren die progressive Partei, aber sie hatten einen Pakt mit den Dixiecrats, den rassistischen Eliten der Südstaaten. Die Republikaner waren die Partei der wirtschaftlichen Eliten, aber sie waren der Bürgerrechts­bewegung gegenüber aufgeschlossen.

Erst mit dem Civil Rights Act und der Rückeroberung des Südens durch Richard Nixon begannen die Republikaner zur Partei der Weissen und die Demokraten zur Partei der ethnischen Minderheiten zu werden. Diese Entwicklung hat immer härtere Identitäten heraus­kristallisiert. Sie hat schliesslich einen Super-Polarisierer ins Weisse Haus getragen.

Seit er im Amt ist, inszeniert Trump in seinem Twitter-Feed eine Art Bürgerkriegs­simulation der Lügen, Beleidigungen und Verächtlich­machung. Jetzt wird der politische Konflikt tatsächlich auf der Strasse ausgetragen. «Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass ich keine Angst hätte», schreibt Klein in einem Artikel zu den Protesten. «Es würde nicht mehr viel brauchen, um das Land tatsächlich in Brand zu setzen.»

Allerdings könnte gerade die heutige Protest­bewegung auch der Beginn der so dringend nötigen Entpolarisierung sein. Es war Barack Obama, der in einem Videostatement auf den Punkt brachte, was in der heutigen Lage zu Hoffnung Anlass gibt. Nicht nur die Tatsache, dass sich eine starke Protest­bewegung junger, farbiger Männer und Frauen organisiert und an Dynamik gewinnt, sondern auch die sehr starke Beteiligung von Weissen an den Protesten. Das civil rights movement, sagte Obama, wurde überwiegend von farbigen Aktivisten getragen. Heute gibt es eine breite, alle ethnischen Gruppen umfassende Mobilisierung.

Die Rassenfrage ist der unerbittliche Treiber der Polarisierung in der amerikanischen Politik. Aber es erweist sich jetzt auch, dass der Antirassismus eine Wertebasis ist, die von allen Bevölkerungs­gruppen geteilt werden kann. Es ist tatsächlich die Hoffnung erlaubt, dass unter seinem Banner die Trump-Präsidentschaft beendet wird. Und dass wieder konstruktive Formen gefunden werden zur Bewältigung von politischen Konflikten.

Illustration: Alex Solman

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