Kiyaks Exil

Anschlag auf die Erinnerungs­kultur

Lukas Bärfuss hat recht, eine hinreichende Entnazifizierung hat es in Deutschland nie gegeben. Dort wird er auch kaum kritisiert. Aber welches Trauma steht hinter der Aufregung vieler Schweizer Medien zu diesem Vorwurf?

Von Mely Kiyak, 28.01.2020

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Meine Güte, was ist das denn wieder für eine verbissene Diskussion? Seit Lukas Bärfuss seine Georg-Büchner-Preis-Rede hielt, verfolge ich von jenseits der Grenze, wie seine Worte von der ausgebliebenen Entnazifizierung Deutschlands in der Schweiz diskutiert werden.

Was Lukas Bärfuss vor allem sagen wollte, ist doch völlig klar: Der Grossteil der Nazis blieb von Strafe und Sühne verschont. Aber deshalb so eine Aufregung? Deshalb steigen ihm die Schweizer Medien aufs Dach?

Anfangs fand ich die Reaktionen noch amüsant. Und dachte: Ach, da steht er doch drüber, weil er selbst­verständlich recht hat. Das sieht man in Deutschland ohnehin längst so: Es hat keine hinreichende Entnazifizierung gegeben. Ich denke, das ist auch einer der Gründe für die Re-Nazifizierung.

Mittlerweile, nachdem ich den Grossteil seiner Interviews vor und nach der Rede wie auch die Gegen­reden gelesen habe, finde ich die Sache nicht mehr so amüsant. Was ist das eigentlich für ein unaufgearbeitetes Trauma, das Teile der Schweizer Medien gegenüber ihrem erstklassigen Denker und Schrift­steller haben? Ist es die Angst, dass im Zuge der Bärfuss-Note unangenehme Fragen über den Entnazifizierungs­grad der Schweiz aufgeworfen werden?

Neulich las ich mal wieder über die Bergier-Berichte, also die Schweizer Verstrickungen von Industrie, Banken, Politik und Wirtschaft mit dem Naziregime Deutschlands. Wollte ich ätzend sein, würde ich mir die Bemerkung erlauben: Bei Vermögens­werten der Juden, die den Holocaust nicht überlebten, vergass man einfach, wem sie gehörten, und also gehörten sie den Schweizer Banken. Et voilà: superneutrale Schweiz, total entnazifiziert.

Natürlich las ich auch das Interview in der Republik, und wie immer bei Bärfuss lernte ich etwas. Entschuldigung, aber Kurt «Die Sachsen sind immun gegen Rechts­extremismus» Biedenkopf, ehemaliger Minister­präsident von Sachsen, war der Schwieger­sohn von Fritz Ries? Jenem Industriellen, der sein Vermögen mit Zwangs­arbeitern in Auschwitz machte und nach dem Krieg behalten durfte? Und mit diesem Geld finanzierte er nach 1945 die Union? Ich meine, das ist doch irre. Das Startkapital der Christlich-Demokratischen Union kam auf dem Rücken von gefangenen und gefolterten Juden zustande? Und da ist niemand in der Partei aufgestanden und hat dem vermögenden Herrn Ries gesagt: «Aus diesem Geld rinnt Unrecht»? Kein einziger Christ? Mein Gott, ist das alles ekelhaft.

Interessanterweise wird Bärfuss für seine Bemerkung in Deutschland kein Stück gescholten. Obwohl es zu Deutschland eigentlich passen würde. Denn der Deutsche hat es grundsätzlich lieber, wenn er über seinen Nazifizierungs­grad selber Auskunft geben darf. Nicht selten handelt es sich dabei um eine lange, verschlungene Rede in drei Teilen: Die Einleitung ist ein kurzes Schuld­eingeständnis, dicht gefolgt von der stehenden Redewendung der «schmerzhaften Aufarbeitung» sowie der Aufzählung einiger Gedenk­stätten. Sie endet im grossen Finale mit dem Verweis darauf, dass der Rechts­extremismus ein «weltweites Problem» sei und dass Deutschland, gemessen daran, nicht so schlecht dastehe.

Warum aber die Manöver gegen das Gedenken und Erinnern? Wieso fühlt sich ein Teil der Öffentlichkeit durch die Erinnerung an vergangene Verbrechen und ihre unzureichende Aufarbeitung derart provoziert? Das ist ja nicht nur in der Schweiz so, sondern auch in Russland oder der Türkei, China oder Ungarn. In Polen beispiels­weise versucht man das Erinnern mit Sprach­politik zu lenken. Die dortige Regierung hat die Redewendung von den «polnischen Konzentrations­lagern» unter Strafe gestellt. Möglicherweise hätte es auch eine Debatte getan, eine breite gesellschaftliche Diskussion. Aber gleich bis zu drei Jahre Haft?

Der Hintergrund ist natürlich, dass man vergessen machen will, dass selbst­verständlich auch Polen in Konzentrations­lagern als Täter dienten. Wenn man diesen Teil der Geschichte zensiert, hat man eigene Verstrickungen getilgt. Immer in der Hoffnung, dass angesichts der faschistisch anmutenden Strukturen in Polen kein Bürger Widerstand wagt und nicht einmal mehr mahnt und erinnert.

Diese versuchten Anschläge auf die Erinnerungs­kultur haben einen einzigen Grund: Wer alte Schuld, Verstrickung oder Verantwortung negiert, dessen Motiv ist die Wiederholung.

Es steckt nämlich nur derjenige Energie in das komplizierte und anstrengende Unter­fangen, Menschheits­verbrechen vergessen zu machen, der von neuen Verbrechen träumt. Der Witz bei alledem: Es funktioniert. Die Türkei hat es geschafft, in nur zwei Generationen den Genozid an den Armeniern (der ein Vorbild für Hitler war) durch die türkischen Jungfaschisten vergessen zu machen, und macht seitdem nahtlos mit den Kurden weiter.

Das meinte Bärfuss, wenn er in seiner Dankes­rede sagte: «Wer den letzten Krieg vergisst, der bereitet schon den nächsten vor.»

Wer neue Feindbilder erschaffen will, muss ausserdem die Verbrechen der Vergangenheit singularisieren. In Deutschland wird das Argument der «Einzigartigkeit» besonders gerne dann herausgeholt, wenn Historiker die Strukturen und Mechanismen des Anti­semitismus der vergangenen Zeiten mit denen der heutigen Muslim­feindlichkeit in einen Zusammen­hang stellen. Dann schreit das ganze Land fast unisono: Der Judenmord WAR EINZIGARTIG. Dieser Gruppenruf meint aber mitnichten, dass der Holocaust in seinen Ausmassen und in der perfiden Planung und Logistik einzigartig war, sondern beinhaltet lediglich die Weigerung, irgendetwas daraus zu lernen. Zum Beispiel die Mechanismen von der Stigmatisierung über die Segregation bis hin zu Vertreibung und Vernichtung zu begreifen. Das «EINZIGARTIG» soll einfach nur den Weg freimachen – für neue Ressentiments gegenüber anderen Minderheiten.

Es ist zugegebener­massen ein Spagat, den Rechts­extremismus zu relativieren, indem man stoisch auf den Islamismus verweist, aber Eric Gujer, der Chefredaktor der NZZ, schafft das glänzend. Sein Leitartikel als Reaktion auf den Terror­anschlag von Halle, wo ein deutscher Neonazi auf eine Synagoge mit betenden Juden schoss, enthielt kein einziges Mal das Wort «antisemitisch». Kein einziges Mal! Fünfzehn Mal aber erschien der Islam in allen Varianten und sechs Mal kam irgendwas mit «muslim» vor. Die «Trauer­rede» gipfelte in der Frage, ob Islamisten das Vorbild für die Rechts­radikalen seien. Auf die Idee muss man erst mal kommen! Dass Neonazis, Juden­hasser und andere Rechts­radikale über einen Mangel an historischen Vorbildern verfügen.

Die Angriffe auf das Erinnern sind jedenfalls zwingende Voraussetzungen dafür, die Demokratie stückweise zu beschädigen und das Konzept der universellen Menschen­rechte infrage zu stellen. Dazu gehört auch, den Antifaschismus zu dämonisieren.

Die sozialdemokratische Staats­sekretärin Sawsan Chebli twitterte mal #NazisRaus und bebilderte das mit dem berühmten Piktogramm, wo eine Figur ein Hakenkreuz in den Abfall wirft. Daraufhin twitterte Roger Köppel folgendes Kunstwerk als Replik:

Es waren übrigens die richtigen, historischen «Nazis» (1933-45), die politisch Anders­denkende mit damals modischen Hetzparolen sinngemäss als «Abfall» bezeichnet und zum Abschuss freigegeben haben. (…) Militantes Gutmenschentum.

Ich sehe das neonazistische Denken der Gegenwart, also das Hierarchisieren von Menschen­gruppen in Kombination mit Vernichtungs­bestrebungen, in einer Kontinuität von damals zu heute. Es hat nie aufgehört. Der politische Mord an Walter Lübcke, die zahlreichen Mordversuche an Politikern wie der Kölner Ober­bürger­meisterin Henriette Reker, die symbolischen Schüsse auf das Büro des Bundestags­abgeordneten Karamba Diaby (auf der Glasscheibe war sein Konterfei zu sehen), der Terror des NSU: Das sind alles nicht Reaktionen auf politische Ereignisse der Gegenwart, sondern Fortführungen.

Es gibt einen nahtlosen Übergang zwischen den alten Nazis, die nach dem Krieg in einfluss­reichen Positionen bis mindestens in die 80er-Jahre hinein weiterlebten, und den neonazistisch motivierten Anschlägen, die Anfang der 80er-Jahre in Ost und West begannen und deren Zahl auch wortwörtlich bis heute hochschiesst. Wo also will man das Umdenken und das Loslösen von altem, national­sozialistisch inspiriertem Denken festmachen? Es sassen nach dem Kriegsende bis heute immer auch rechtsextreme Parteien wie die DRP (Gründung 1950), die NPD (Gründung 1964), Die Republikaner (Gründung 1983), die DVU (Gründung 1987) in unterschiedlichen Landes­parlamenten. 2013 wurde die AfD gegründet und sitzt im Bundestag. In welchem Jahrzehnt, frage ich also, war etwas weniger Nazi?

Mal eine andere Frage: Gibt es aus Schweizer Sicht in der Schweiz eigentlich ein ernsthaftes Neonazi-Problem? Werde mich weiterhin in NZZ, «Weltwoche» und Co., kurz: in den ausgewiesenen Fach­blättern für kritische Theorie, kundig machen.

Es grüsst Sie im neuen Jahr

Selam und herzlich
Ihre Kiyak

Illustration: Alex Solman

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