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Wie sprechen? Ich hatte vor nicht so langer Zeit die Gelegenheit, die Archivschachteln meiner Schwiegermutter durchzusehen, bevor sie ans Institut für Zeitgeschichte gingen. Das Kommunionsfoto der Mutter in Händen zu halten, das einem Teil der Familie im Lager in Gurs das Leben gerettet hat und die Karte des Vaters, das letzte Lebenszeichen nach der Deportation in den Osten, liessen mich frösteln. Die Schwiegermutter hatte erst begonnen über ihre Geschichte zu sprechen, als Enkel auf die Welt kamen. Dann hielt sie unzählige Vorträge in überwiegend deutschen Schulen. Sie hoffte so, ihren Enkeln bessere Zukunftsaussichten zu verschaffen. In der Familie waren ihre Erlebnisse kaum ein Thema. Sie äusserte sich im Rahmen von Publikationen und wie ich dann in den Schachteln sehen konnte, sie tauschte sich aus mit Kolleginnen und Kollegen, die mit ihr im Lager oder nachfolgend, in Heimen gewesen waren.
Meine Lebensumstände sind ganz anders. Und doch... mit der Coiffeuse, die in linken Kreisen Haare schneidet und plötzlich anfing zu sagen, die Juden würden den Kreis 3 in Zürich übernehmen und deswegen gäbe es keine Wohnungen mehr - ich versuchte auf dem Coiffeurstuhl dagegenzuhalten, mit Fakten. Es nützte nichts und ich wechselte die Coiffeuse. Oder wenn an Weihnachten Lieder gesungen werden sollen von Nazidichtern und -komponisten und niemand etwas dabei findet, weil man die Lieder immer gesungen hat und sie so schön sind? Was sagen, wenn die grauenhaften Bombardierungen deutscher Städte gegen die Auslöschung der Jüdinnen gehalten werden, wenn mir erzählt wird, man habe Auschwitz besucht und in der Schule sei der Holocaust behandelt worden?
Die junge L. G. greift das Thema mit zwei sehr verschiedenen Büchern auf. Es wäre schön, vergessen zu können. Aber Erlebnisse im Alltag zeigen, dass das nicht passieren darf. Und ja, wer nicht das unendliche Grauen, den Schmerz und die Verstörung empfinden kann über die von einem Staat durchgeführte Entmenschlichung eines Teils seiner Bürger und Bürgerinnen, über die immer ausgeklügeltere industrielle Vernichtung.
Ich weiss nicht, ob ich mit dem Zitat Niemöllers aufwuchs:

Als die Nazis die Kommunisten holte, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist.
Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Gewerkschafter.
Als sie die Juden holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Jude.
Als sie mich holten gab es keinen mehr, der protestieren konnte.

aber geprägt bin ich davon, und ich kann nicht verstehen, dass die Aussage nicht für alle Menschen nachvollziehbar ist und dazu zwingt, Stellung zu beziehen und zu sprechen. Im Alltag. Wo auch immer.

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Daniel Graf
Feuilleton-Redaktor @Republik
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Liebe Frau D., ja, wie sprechen?, diese Frage stellt sich immer wieder und unablässig neu. Dafür, dass Sie Worte für sehr persönliche Erfahrungen gefunden haben, die zugleich auch Allgemeingültiges formulieren, möchte ich sehr herzlich danken.

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Musiker
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Welch Sprachvermögen dieser Autorin! Das Unsagbare zu diesem Menschenverbrechen wird hier in einen erdrückend fesselnden Sprachteppich eingewoben. Für mich: hohe Kunst und danke, Frau G. für diesen sprechenden Text.

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L. G. zeigt in diesem aufwühlenden Text, der weit über eine „normale“ Buchbesprechung hinausgeht, eindrücklich auf, wie Verbrechen gegen die Menschlichkeit irreversible physische und psychische Zerstörungen an Menschen anrichten, für die es weder Heilung noch Versöhnung gibt. Im besten Fall ist ein Überleben mit sehr schmerzhaften Narben möglich. Und L. G. zeigt auch, dass ritualisierte Erinnerungen zu einem ziemlich oberflächlichen Theater verkommen können, die allein der eigenen – individuellen und kollektiven – Beruhigungen dienen.
Wenn wir die Gegenwart ansehen, in der sich all diese Zerstörungen und Entmenschlichungen wiederholen, in der ganzen Gesellschaften das Recht auf Leben und Würde abgesprochen wird, in der das absolut Böse wieder möglich wird, von dem wir – naiverweise – angenommen haben, dass es vielleicht doch, mit vielen Rückschlägen zwar, einmal überwunden werden kann, dann stellt sich die grundlegende Frage: ist moralische Entwicklung überhaupt möglich? Können wir Menschen uns aus diesen zerstörerischen Gewaltschlaufen befreien?
Ich habe die Antwort nicht. Ich bin mir aber sicher, dass ohne eine Erinnerungs- und Gedächtniskultur, die den Namen verdient, keine Hoffnung besteht.
Unabdingbar scheint mir, dass der Holocaust und als dessen Voraussetzung der Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus in unseren Bildungseinrichtungen zu einem zentralen Thema gemacht werden muss. Und dass wir alle immer wieder klar und deutlich Stellung zu beziehen gegen Verharmlosungen, Relativierungen, Bagatellisierungen und Lügen. Und dass wir immer wieder versuchen, allen Ansätzen zur Entmenschlichung und Entwürdigung zu widersprechen.
Schon das kann ein Anlass zur Hoffnung sein.

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Gaby Belz
semi-Rentnerin, semi-Berufsfrau
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Es beginnt alles damit dass eine Nation (ein Begriff der vielleicht nicht mehr verwendet werden sollte, aber welcher sonst?) der anderen das Menschsein, die Gleichwertigkeit abspricht. Von da aus ist es nicht mehr weit zum Mord “aus guten Gründen”. Und das geschieht heute an den verschiedensten Orten auf der Welt. Wir haben es jeden Tag in der Hand, gegen diese Anfänge der Entmenschlichung die Stimme zu erheben und bei uns selber sehr genau nachzuhören wenn sich Spuren von Abwertung in unsere Sicht auf andere einschleichen.

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Zum 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz habe ich unter dem Titel "Erinnern statt Vergessen" ein Plakat gestaltet. Für einen Aushang in unserer Stadt habe ich versucht Geld aufzutreiben, bei Privatpersonen, Stiftungen und Firmen. Erfolglos. Ich habe dann auf eigene Rechnung ein paar Plakate drucken lassen und diese an Hochschulen und Gymnasien verteilt, mit der Bitte sie aufzuhängen. Ein Einziges wurde aufgehängt - bei der Hochschule für Soziale Arbeit. Ernüchternd und himmeltraurig.

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ja, es wird nicht alles gut! So einen wetvollen Beitrag zu lesen macht mich glücklich, weil es dies gibt, weil es exisitert und mich darum denk- und handlungsfähig macht.

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Enarchist & Anfänger
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Das Verfluchte ist doch, dass auch heute noch viele Menschen in Strukturen und Umständen leben, die sie vergessen lassen, dass sie sich täglich für das Gute entscheiden könn(t)en. Und dass ihr Handeln etwas bewirkt.
Es kommt nicht gut. Schon gar nicht, wenn wir nur zusehen wollen und darauf warten. Nichtsdestotrotz versuche ich mich ständig zu verbessern darin, Gutes zu tun und gut zu sein zu mir und zu anderen. Manchmal gelingt es. Ausreichend ist es nie.

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"Wenn wir wissen, was möglich gewesen ist, dann wissen wir auch, was auf dem Spiel steht», schreibt Max Czollek." Der Text hat mich tief Beeindruckt. Die Unversöhnlichkeit dieser von Menschen gemachten Monströsität beschäftigt mich noch und ich versuche es zu verstehen? Danke für den Beitrag.

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Dieser Text musste sein, obwohl er nicht auszuhalten ist.

Ich finde mich zurück als Kind, das in den ersten Lebensjahren nur Geschichten über den Krieg zu hören bekam und nie verstehen konnte.
Dieser Text bringt das Nicht-Verstehen zurück und die unermessliche Traurigkeit.
Wie kann es zu einer solchen Entmenschlichung kommen?

In der "Anatomie der menschlichen Destruktivität" von Erich Fromm fand ich Antworten.

Beim Lesen der beschriebenen Grausamkeiten heute trifft es mich erneut direkt.
Da fühle ich, dass das Lesen von Fromm, Haffner, Theweleit weniger bedeutete, als das Spüren der unmittelbare, immense Traurigkeit über das was passiert, wenn Menschen ihr Mensch-Sein verlieren.

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Multifunktional
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Ist ganz offtpic: schön, wieder von Ihnen zu lesen. Hab mir schon Sorgen gemacht!

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(durch User zurückgezogen)
· editiert

Anmerkungen zu Max Czolleks Vorwurf:
Ob wir Schweizer:innen im Erinnern besser sind?
Die teilweise bedenkliche Rolle der Schweiz im 2. Weltkrieg ist nachträglich mehrmals gründlich aufgearbeitet worden. Und noch beim dritten Anlauf („Bergier-Kommission“), der nicht mehr viel Neues zutage gebracht hat, eigentlich nur Präzisierungen, gab es beleidigte, selbstgerechte Aufschreie in der Öffentlichkeit.
Vor diesem Hintergrund können wir immerhin froh sein um die in vieler Hinsicht vorsichtige Politik bisheriger deutscher Regierungen, welche, scheint mir, sehr wohl auch durch „Erinnerung“ beeinflusst wurde.

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Nur eine winzige Anmerkung zu diesem guten Beitrag: Die „Wiedergutwerdung“ hat bereits in den 80er Jahren der Essayist Eike Geisel (gestorben 1997) genau beschrieben und kritisiert. Von ihm kommt dieser treffende Begriff. Siehe E.Geisel: Die Wiedergutwerdung der Deutschen, 2015, postume Schriften.

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Vielen Dank für diesen wichtigen und leider gerade wieder sehr nötigen Beitrag!
Ich möchte ein weiteres Beispiel für die literarische Bewältigung der Schoah nennen, das leider kaum mehr gelesen wird:
Fred Wander: Der siebente Brunnen.
Es handelt sich dabei um eine Mischung von Roman und Erinnerungsbericht (Wander ist ein KZ-Überlebender). Das erlaubt es dem Autor, über die grausigen Einzelheiten des Lagerlebens und -sterbens hinaus von den Insassen als Menschen, als Persönlichkeiten zu berichten! Die Kapitel tragen jeweils den Namen eines Häftlings und erzählen dessen Geschichte. Damit treten die Häftlinge aus ihrer Nummern-Identität heraus und werden wieder zu Individuen! Zu jüdischen Menschen mit ihrem Charakter, ihren Eigenheiten, ihrer Sprache und – sogar – ihrem Humor! Vor unserem inneren Auge lässt Wander einen ganzen kleinen Kosmos auferstehen, von dem einem beim Lesen schmerzlich bewusst wird, dass mit diesem Kosmos und diesen Menschen auch eine ganze Kultur für immer untergegangen ist.
Dennoch legte ich das Buch nicht nur erschüttert, sondern auch reich beschenkt wieder weg und möchte es hiermit aufs Wärmste weiterempfehlen!

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Vielen Dank für all Ihre Anmerkungen, das genaue Lesen, die persönlichen Erzählungen und die Text-Verweise (Fred Wander/Eike Geisel). Ich möchte gerne daran glauben, dass in der (gemeinsamen) Auseinandersetzung mit der Geschichte, mit deren Folgen, mit den Fragen, die sie uns stellt, mit der Möglichkeit, dass manche von ihnen nicht beantwortet werden können, eine Kraft liegt. Ruth Klüger schreibt in "weiter leben": "Die Toten stellen uns Aufgaben", und ich glaube, dass diese Aufgaben in einer Gemeinsamkeit bewältigt werden müssen. Vielen Dank für die genaue Lektüre und die Auseinandersetzung mit dem Text.

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Der Artikel ist aufrüttelnd und fordert geradezu mehr Auseinandersetzung. Ich habe von den erwähnten Büchern dasjenige von Ruth Klüger gelesen, es erweitert den Horizont und ist ergreifende Literatur. Mich macht nun Max Czollek sehr neugierig. Sein Statement, wie Anne Frank wohl weiter geschrieben hätte .... das motiviert mich durch die Radikalität der Aussage.

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Daniel Graf
Feuilleton-Redaktor @Republik
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Herzlichen Dank Ihnen allen, auch im Namen der Autorin, für Ihre Gedanken, weiteren Literaturhinweise und nicht zuletzt für Ihre persönlichen Erinnerungen.

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Breitest getreten und immer fokussiert auf Holocaust, anstatt auf Menschenrechte! Lamentieren über Neutralität, wenn es um konkretes Engagement, echte Hilfe, und nicht ums Geschäfte machen geht. Grossmehrheitlich ist das Boot voll und ist die 'westliche' Humanitäts-Homöopatie im nahen Osten: Würden wir lernen vom Holocaust, hätten wir längst zwei Staaten, Israel und Palästina und auch weitere Völkerverständigung im Nordirak, der Türkei und in Syrien...

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