Es wird nicht alles gut

Bald werden die letzten Überlebenden des Holocaust verstorben sein. Derweil erstarrt das Gedenken in Ritualen. Zwei ganz unterschiedliche neue Bücher zeigen die aktuellen Herausforderungen der Erinnerungs­kultur.

Von Lena Gorelik (Text) und Jan Robert Dünnweller (Illustration), 02.03.2023

Vorgelesen von Danny Exnar
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Vor langer, langer Zeit lebte einmal ein Mädchen, das mit wippenden blonden Zöpfen im Frühling barfuss durch den sonnenwarmen Staub lief.

Mit diesen Worten könnte, müsste ein Märchen beginnen: ein barfüssiges Kind im Garten, das aus diesem Garten, so ahnt man, schon bald vertrieben wird. Mit diesen Worten beginnt der Erinnerungs­band Edith Brucks, in dem sie ihre Lebens- und Familien­geschichte erzählt. Es ist eine Geschichte, die von Ungarn über Auschwitz nach Bergen-Belsen führt, und später führt sie nach Palästina und quer durch Europa bis nach Italien – und dieses Später, alles, was geschieht, ist von dem, was in Auschwitz und Bergen-Belsen geschehen, was angetan worden ist, gezeichnet, es gibt kein Später, das sich ohne Auschwitz denken lässt.

Es gibt in dieser Geschichte definitiv das Böse, aber das Gute, das dem Menschen, zumindest in seiner reinen Form, nicht gegeben ist, das Gute, das man als Absolutes eben nur in Märchen findet, gibt es in dieser Geschichte nicht. Es gibt Prüfungen, die wahrscheinlich schlimmsten, von denen man sagen könnte, die Heldin besteht sie, weil sie es schafft, am Leben zu bleiben, aber am Ende dieser Prüfungen gibt es kein Happy End. Weil alles, was geschah, jede Verletzung, jeder körperliche und seelische Schmerz, jeder Vertrauens­bruch, jede gebrochene Hoffnung, jedes Einsehen, dass Menschen ihre Menschlichkeit verlieren können, dass sie sie bewusst aufgeben, sich wie Schlieren durch das Leben ziehen.

Edith Brucks Erinnerungsband ist soeben unter dem Titel «Das barfüssige Mädchen» als deutsche Übersetzung erschienen. Er stellt sich in eine Reihe oft leider bereits vergessener literarischer und essayistischer Zeugnisse des Holocaust, folgt den Texten von Primo Levi, Imre Kertész, Ruth Klüger, Charlotte Delbo, Jean Améry oder Jorge Semprún.

Dass die Autorin diese Geschichte, die das Gegenteil eines Märchens ist, mit den zitierten Worten beginnt, ist deshalb so bemerkenswert, weil die eröffnete Erzähl­perspektive im Weiteren nicht eingehalten wird. In dem Moment, in dem das Mädchen aus dem Garten, aus dem Leben, aus der Sicherheit des Ist-Zustands, aus dem absoluten Jetzt, das dem Kind zusteht, vertrieben wird, wechselt Edith Bruck in die Ich-Perspektive. Das Erzählen vom eigenen Leben in der dritten Person ist in dem Moment beendet, als Edith Brucks Familie aus dem Haus ihrer Kindheit abgeholt und in einen Vieh­transport gepfercht wird, um in ein Ghetto gebracht zu werden. Ab jetzt kann es kein barfüssiges Mädchen mehr geben. An exakt dieser Stelle beginnt, ohne jede Ankündigung, das Ich, und das Ich hat mit diesem Mädchen nichts zu tun, es kann das Mädchen nur im Nachhinein und aus der Distanz betrachten:

Was in jenen Minuten geschah, konnte niemandem wirklich erscheinen.

Die meisten der literarischen Holocaust-Berichte scheinen einer ähnlichen Entwicklungs­linie zu folgen und machen häufig bei den gleichen konkreten, symbolhaften Eck­punkten Halt. Es sind die Momente, in denen jeweils ein Stück Menschen­würde verloren geht, bis keine mehr übrig ist, bis da nur noch Körper sind, geschändete und missbrauchte Körper. Und diese Momente, so schrecklich, so unvorstellbar, so unmenschlich sie sind (ach, all diese verbrauchten Adjektive, die ihren Sinn verloren haben, weil sie in diesem Zusammen­hang schon so häufig, so automatisiert, so ritual­artig wiederholt wurden), lassen sich leichter schreiben als die Entwicklung. Am Anfang steht eine natürliche Weigerung: Trotz der Vorzeichen, die wir heute, im Nachhinein, als historische Wende­momente zu analysieren wissen, scheint undenkbar, es käme tatsächlich einmal, demnächst, so schlimm. «Natürlich», weil sich als Mensch nicht imaginieren lässt, wozu die National­sozialisten – wozu Menschen – in der Lage waren.

Ein weiterer dieser Momente: die erste Begegnung mit den Deutschen und insbesondere mit ihren Stimmen; Primo Levi spricht von «jenem barbarischen Gebrüll kommandierender Deutscher». Die Vieh­waggons, deren Enge und Gestank, die Ängste fremder Menschen, der erste Ekel, der allzu bald vergehen wird: Sich zu ekeln, bedarf als Voraussetzung eines Bewusst­seins des eigenen Ich und seiner Grenzen. Der Versuch, im Vieh­waggon der Notdurft nachzukommen oder diesen Impuls zu unterdrücken: «Der Anblick des Eimers hemmte jeden körperlichen Drang auf dieser Reise ins Ungewisse», schreibt Edith Bruck. Während Ruth Klüger von einer Frau erzählt, die in Panik auf den Schoss ihrer Mutter urinierte. Die Ankunft im Konzentrations­lager mit allen Details: die – immer plötzlich – aufgerissenen Türen, das deutsche Gebrüll, schmerzender Durst, unbeantwortete Fragen, das Prozedere der Ankunft, das aus Selektion, Abgabe aller mitgebrachten Sachen und Haar­rasur besteht, der erste Anblick der Baracken. Die Abschiede, die keine sind, weil geliebte Menschen einfach fortgeführt werden. Der Moment, in dem man den Rauch aus den Schorn­steinen begreift.

In einer solchen Genauigkeit werden diese ersten Momente beschrieben, vielleicht weil die Wahrnehmung noch die eines Menschen ist, der gewaltsam aus dem ihm zustehenden Leben gerissen wurde – bevor dieses ehemalige Leben als Koordinaten­system an Bedeutung und später an Sinnhaftigkeit verliert.

Die erzählerische Entwicklung, die an diesen Eck­punkten beginnt, um später viel eher sprunghaft und beispielhaft vorzugehen, sucht, für den grösstmöglichen Verlust Worte zu finden. Es ist die Entwicklung von einem Menschen zu: was? Zur Beute, zur Nummer (die Nummer als Name, auch das ein Topos, der in jeder Erzählung vorkommt), zum Insassen, zum Opfer, zum Nichts, zum Tier, zum Objekt, zum «Menschen­material»; was ist das Antonym zum Menschen?

«Ist das ein Mensch?», heissen Primo Levis Erinnerungen, ein so kluger, weil mehrdeutiger Titel, weil diese Texte natürlich auch die andere, die mutwillige, die gewollte Ent-Menschlichung erzählen. Weil sie die Entscheidung erzählen, die sich in einzelnen Momenten, in konkreten Szenen manifestiert, Gewalt und Grausamkeit anzutun. Bereits über die Ankunft in Auschwitz notiert Edith Bruck:

«Nichts fragen! Nichts antworten!», sagte ein junger Mann mit beinahe menschlicher Stimme.

Es ist das «beinahe» in diesem Satz, das die Tatsache verfestigt, deren Unumkehrbarkeit.

In den Erzählungen dieser unerträglichen Entwicklung vom Menschen zum Nicht-mehr-Menschen kommt immer der Körper vor, der entstellte, der entwürdigte, der dissoziierte Körper. Es kommen Krankheiten vor, Menschen, die neben einem sterben, es kommt eine unerträgliche Gewöhnung an all das vor, ungezählte Morde und unzählige Augen, die diese Morde verfolgen, Todes­sehnsucht kommt vor, und auch in fast jedem Bericht der unerwartete Augenblick, in dem das Wunder (und dieses Wort, vor dem wir fürchten, es könnte kitschig, es könnte realitäts­fern klingen, findet sich genau so in diesen Berichten wieder) geschieht, dass ein anderer, ein fremder Mensch Hilfe leistet. Der Augenblick ist eine leise Erinnerung daran, dass ein Mensch ein Mensch sein kann (heisst: sich dazu entschliessen kann, ein Mensch zu sein), obwohl die Quantität der Umstände tagtäglich das Gegen­teil beweist. «An jenem Ort lernte man alles über den Menschen und die Welt», steht bei Edith Bruck.

Die Zeit ist eine weitere sich wiederholende Komponente der Texte. «Waren drei Monate oder drei Jahre vergangen? Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute starb man», schreibt Edith Bruck, weil die Zeit, wenn alles, was man kennt, wenn das Leben, wenn Glaube, wenn Liebe an Bedeutung verliert, als Mess­instrument keinen Sinn mehr hat. Sie verkommt zu einer menschlichen Erfindung aus einem Leben, das es nicht mehr geben kann. Nicht mehr, nie wieder: Auch das ist allen Texten gemeinsam. Dieses «Nie wieder» ist anders gemeint als das «Nie wieder» der Erinnerungs­kultur, das an Bedeutung verloren hat, weil es so oft wiederholt worden ist, ohne dass es in Handlungen übersetzt wurde. Das Leben wird nie wieder eines sein mit Koordinaten, die auf einem Vertrauen basieren.

Die Befreiung wird ebenfalls in allen literarischen Berichten von Holocaust-Überlebenden erzählt, aber sie ist nicht, wie viele gerne glauben würden, das Ende der Geschichte, sie ist entgegen dem, was logisch erscheinen könnte, noch nicht einmal zwangsweise ein Wende­punkt. Es gibt eine Trenn­linie, die durch diese Lebens­läufe verläuft, die sich nicht wieder übertreten lässt. Es lässt sich nicht zurückkehren in dieses Leben «vor Auschwitz», selbst wenn man physisch an denselben Ort oder – wer besonders viel Glück hatte – zu den geliebten Menschen zurück­kehren kann.

Vermutlich ist das auch der Grund dafür, dass Edith Bruck ihre Erinnerungen mit einem barfüssigen Mädchen beginnt und mit einem Ich beendet. Die Menschen sind immer noch geliebt, aber die Liebe wird nie wieder dieselbe sein, es ist ein zerrüttetes Gefühl, manchmal ein disloziertes, so wie es auch die Schreibenden selbst oft sind: Sie sind an einem Ort, und sie sind es nicht. Was einem angetan wurde, ist nicht nur nicht vergessen, es ist nie vorbei. Der Körper hat die Entmenschlichung verinnerlicht, das, wofür wir nach adäquaten Worten und Namen suchen, was im Hebräischen als «Katastrophe», als Schoah bezeichnet wird, ist zu einem Teil dieser Menschen geworden, die ihre Geschichte aufgeschrieben haben.

Jean Améry konnte mit diesem Teil, der sich vielleicht mehr als Ganzes angefühlt haben mag, nicht mehr leben. Edith Bruck beschreibt eindrucksvoll und beklemmend, wie sie fortan, jahrzehntelang, durch Länder und trotz Anwesenheit geliebter Menschen durch Leere irrt: Nirgendwo fühlt sie sich zu Hause, aufgehoben, getröstet oder sicher.

Edith Bruck war ein Kind, als sie ins Konzentrations­lager deportiert wurde, ihren dreizehnten, ihren vier­zehnten Geburtstag verbrachte sie dort. Wie auch Imre Kertész und Ruth Klüger erzählt sie aus der Perspektive eines Kindes, und Kindern sagt man gerne Naivität nach, Gut­gläubigkeit, einen unberührten Glauben an das Gute. Als wären Kinder immerzu barfüssige, durch Gärten rennende, glückliche Wesen. Aber das sind sie nicht. Im Falle von Edith Bruck, Ruth Klüger, Imre Kertész wurde ihnen der Glaube, das Leben könnte gut und einfach, die Menschen immer wohl­wollend und gütig sein, bereits vor der Deportation genommen. Und dennoch blicken sie aus dem der Jugend innewohnenden Gefühl des Moments, aus der kindlichen, so schmerzhaften, so verzweifelten, so endlosen Sehnsucht nach der Mutter, wie Edith Bruck sie beschreibt, auf das, was ihnen angetan wird.

Weil das Mädchen jeden Tag nach ihrer Mutter weint (und seine ältere Schwester bald «Mutter-Judit» nennt), ist die Aufseherin der Baracke bald so genervt, dass sie das Kind an der Hand nach draussen zieht und mit den Worten «Riechst du den Gestank nach Menschen­fleisch?» auf den Qualm aus dem Schornstein zeigt: Da sei ihre Mutter.

Es darf in der Betrachtung von Grausamkeit und Gewalt keine Hierarchien geben, und doch ist die Erschütterung, die einen bei Szenen wie diesen erfasst, eine bodenlose(re) vielleicht.

Edith Bruck hat ihre Erinnerungen aufgeschrieben, da sie dabei ist, das Augen­licht zu verlieren. Sie ist wahrscheinlich eine der letzten Zeit­zeuginnen, die das Geschehene schriftlich und literarisch zu erfassen versuchen. Sie beendet die Erinnerungen mit einem Brief an Gott, an den ihre in Auschwitz ermordeten Eltern fest glaubten. Sie wisse, betont sie gleich zu Beginn dieses Briefs, dass Gott das «Gekritzel» nie lesen wird. Sie beendet ihn mit einem Credo: «Hass niemals, dafür bin ich gerettet, verwaist, frei». Man kann das auch als Appell an die Lesenden verstehen.

In Brucks Beschreibung des Todes­marsches rufen Sterbende: «Erzähl davon, man wird dir nicht glauben, aber erzähl davon, solltest du überleben, auch für uns.» Nun hat sie ihre Geschichte aufgeschrieben, im hohen Alter, als ihr Körper zu versagen beginnt. Primo Levi hat bereits im Konzentrations­lager begonnen, sich auf Papier­fetzen Notizen zu machen, die er während seines Arbeits­dienstes im Labor finden konnte.

So unterschiedlich all diese Bücher sind, in ihrer Erzähl­art, in ihrer literarischen Form, so ist ihnen doch die Suche gemein. Der Versuch, zu ergründen, festzuhalten, das Unergründbare nicht, weil es unergründbar ist, auch unausgesprochen zu lassen. Es ist ein Erzählen im Gedenken an jene, die nicht mehr erzählen können, an alle, deren Geschichten vergraben worden sind. Vergraben, entmenschlicht, ermordet. Es ist, als ob die Schreibenden im Beginn des Erzählens nicht nur das Verstehen suchen, sondern auch sich selbst, die Menschen, die sie in einem Leben waren, in dem Edith Bruck als barfüssiges Mädchen durch den Garten lief. Menschen, die Namen hatten statt Nummern – diese Texte holen sich die Namen zurück, erinnern an jene, die als Nummern starben.

Erinnerung und Versöhnungs­theater

Davon, was mit der Erinnerung geschieht, wie diese gebraucht wird – und, so die These, auch missbraucht wird – handelt ein anderes Buch, das dieser Tage erschienen ist.

«Versöhnungstheater» heisst der dritte Band der Essay­reihe von Max Czollek, der als Lyriker, Essayist und Kurator politische und gesellschaftliche Diskurse kommentiert und häufig um eine pluralistische Perspektive erweitert. In «Versöhnungs­theater» fragt er, welchem Anliegen und wem genau die Erinnerung an die Schoah diene – die eben oft keine Erinnerung sei, sondern eine theatrale und theatralische Handlung, eine Performanz von Erinnerungs­gesten.

Gedenktage, Mahnmale, Gedenk­orte: Die Erinnerung an die Schoah wird an designierten Zeit­punkten (zum Beispiel am 9. November, der «Reichspogromnacht») und Orten (Holocaust-Mahnmal in Berlin) begangen, steht im Zusammenhang mit allem, was das Adjektiv «jüdisch» als Voranstellung verträgt (jüdische Kultur­tage, jüdische Museen, jüdische Fried­höfe), und wird, so Czollek, letztlich auch an diese Orte und Zeit­punkte verbannt.

In Wirklichkeit werde in dieser Erinnerungs­kultur nicht erinnert, sondern es würden gebetsmühlen­artig die zu Phrasen gewordenen Schlag­worte wiederholt – «nie wieder» ist nur ein Beispiel. Vor allem aber diene diese Form des Gedenkens einem Zweck in der deutschen Gesellschaft: sich zu versichern, dass man erinnert habe. Max Czollek spricht polemisch von einer «Wiedergut­werdung»: Die Deutschen erinnerten sich (und den Rest der Welt) daran, dass sie aufgearbeitet haben (allen Studien zum Trotz, die exakt das Gegenteil belegen), dass sie eben «gut» geworden seien.

«Sie sind doch ein Volk von Bewältigern geworden, denen sogar ein Wort dafür einfiel, das von der Vergangenheits­bewältigung», schrieb Ruth Klüger in «weiter leben».

Max Czollek hat nun einige Beispiele aus politischen Reden und Kommentaren zusammen­getragen, aus denen tatsächlich selbst­gefällige Freude an vermeintlicher Auseinander­setzung und Erinnerung spricht. Und wenn man diese Beispiele, so aneinander­gereiht und präzise analysiert, liest, wecken sie die Assoziation zu einem kleinen Kind, das in Dichotomien von «lieb» und «böse» denkt und gerne wieder als «lieb» gelten möchte, nachdem es sich immerhin entschuldigt habe. Von Entschuldigung ist aber beim Versöhnungs­theater nicht die Rede, vielmehr von der Versöhnung, die, so Czollek, von deutscher Seite einfach – einseitig – postuliert werde. Man habe «die Vorstellung, der Akt des Erinnerns selbst könne Versöhnung bedeuten».

In diesem Versöhnungs­theater können jüdische Menschen keinen Platz finden, weil für sie das Wort «Versöhnung» verhöhnend klingt. Und zwar nicht, weil sie sich nicht versöhnen wollen, sondern weil es kein Versöhnen geben kann – ein Versöhnen in dem Sinn, als hätte eben ein Kind einem anderen eine Sand­schaufel entwendet, und nun versöhnen sich die beiden und schütteln sich ihre versandeten Hände. Czollek schreibt:

Es ist etwas geschehen, das kann nicht wiedergutgemacht werden, dafür kann es keine Versöhnung geben.

Und so könnten jüdische Menschen im Versöhnungs­theater nur als Stör­faktoren gelten: Es könnte schon längst alles wieder gut sein, wenn da nicht die Jüdinnen und Juden wären.

Jean Améry beschreibt in «Jenseits von Schuld und Sühne» eine Szene, die sich bereits 1958 abspielt. In einem Hotel unterhält er sich beim Früh­stück mit einem Mann. Und dieser erklärt ihm, das deutsche Volk trage dem jüdischen nichts nach.

Es gibt die Schlieren, die die Ent-Menschlichung zieht, und es gibt die Schlieren, die später und bis heute von Menschen gezogen werden. Was für ein Schmerz, was für eine Einsamkeit muss das sein, dass Täterinnen oder deren Nach­fahren einem das Recht absprechen, gezeichnet und deshalb unversöhnlich zu sein? Erinnerung in sich und an sich zu tragen, für immer?

Erinnern mit dem Ziel der Versöhnung oder der «Normalisierung» brauche nicht nur Rituale und Phrasen, stellt Max Czollek fest, es brauche auch eine Konstruktion des Judentums, die als Beweis­führung der «Wiedergut­werdung» dienen kann. Allen historischen Fakten und heutigen Realitäten zum Trotz wird dabei ein homogenes Judentum imaginiert, dem diverse Erfahrungs­welten und politische Haltungen nicht zugestanden werden. Die dazugehörigen Menschen haben primär «jüdisch» zu sein. Max Czollek schreibt dazu: «Im Zuge dieser Konstruktion entsteht die Vorstellung, man büsse an Deutsch­sein ein, je jüdischer man wird – und an Jüdischkeit, je stärker man mit der deutschen Seite zu tun hat.» Es ist ein Judentum, das sich gegen die oktroyierte Versöhnung nicht wehrt, das sogar dankbar ist für all diese «Erinnerungs­kultur», die Rituale und Phrasen.

Der bekannteste, weil am häufigsten zitierte Satz von Anne Frank handelt von der Hoffnung, die sie nicht aufgibt, und endet mit den Worten: «weil ich noch stets an das Gute im Menschen glaube». Max Czollek verweist auf den Zeitpunkt, zu dem diese Zeilen entstanden sind, und fragt, ob sie diesen Satz wohl auch nach ihrer Deportation so geschrieben hätte.

Hier müsste eine andere Sprache ansetzen. Eine, die von einer unversöhnlichen Anne Frank erzählt. Von der Verzweiflung, die sie überkommen haben mag, als das Gute, an das sie glaubte, nicht bei den Verrätern ihres Verstecks, nicht beim Bahnpersonal der Deportations­züge, nicht bei der holländischen und deutschen Bürokratie und auch nicht bei den deutschen Wach­mannschaften und ihren Hilfstruppen in den Konzentrations­lagern zu finden war.

Aber diese andere Sprache setze nicht ein. Die Sprache des «Versöhnungs­theaters» möchte nichts von Verzweiflung hören, sie möchte berichten, dass man aus der Vergangenheit gelernt habe und das Leben weiter­gehe, sie möchte Hoffnung, und für Verletzung, Verbitterung, Verzweiflung, für Unversöhnlichkeit hat sie eine Halbwerts­zeit vorgesehen.

Das Cover von Edith Brucks Erinnerungs­buch «Das barfüssige Mädchen» zeigt ein schwarz-weisses Foto (Was denn sonst? Bei Jüdinnen sieht das innere Auge doch sofort schwarz-weiss). Auf dem Schwarz-Weiss ist ein neon­gelber Kreis abgedruckt, in dem folgender Text für das Buch wirbt: «Die Erinnerungen einer Überlebenden – eine Liebes­erklärung an das Leben». Als würde der Verlag die potenziellen Lesenden vorab beruhigen wollen: «Ja, es geht um den Holocaust, aber nach dem Lesen müssen Sie sich trotzdem nicht schlecht fühlen, am Ende wird das Leben bejaht!»

Diese naive, frivole, realitäts­ferne Versicherung «alles wird gut», niemand werde mit dem Abgrund konfrontiert, den der National­sozialismus verursacht und eben auch hinterlassen hat, es werde nicht weh­tun, zumindest nicht nachhaltig und nicht zu sehr, lässt für jede Erinnerung an das, was tatsächlich geschehen ist, was ausgesprochen und ausbuchstabiert werden muss, was von Primo Levi, von Ruth Klüger, von Imre Kertész, von Jean Améry, von Charlotte Delbo, von Menschen mit weniger bekannten Namen erzählt worden ist und was immer und immer wieder gelesen werden muss, keinen Raum.

Es gibt keine schmerzlose Erinnerung an diese Geschichte, an das Ende von Menschlichkeit kann es keine schmerzlose Erinnerung geben. Erinnerung, wenn sie sich angenehm, annehmbar anfühlt, findet nicht statt. Der Schmerz ist notwendig, damit aus der inhaltsleeren Beschwörungs­formel «nie wieder» ein Zustand werden kann: «Wenn wir wissen, was möglich gewesen ist, dann wissen wir auch, was auf dem Spiel steht», schreibt Max Czollek.

Zur Autorin

Lena Gorelik, 1981 in Sankt Petersburg geboren, kam 1992 zusammen mit ihrer russisch-jüdischen Familie als «Kontingent­flüchtling» nach Deutschland. Sie wurde an der Deutschen Journalisten­schule in München ausgebildet und hat den Studiengang «Osteuropa­studien» absolviert. Seit 2004 hat sie zahlreiche Romane und Sachbücher veröffentlicht und dafür mehrere Preise erhalten. Zuletzt erschien ihr autobiografischer Roman «Wer wir sind» (2021). Ihr Theaterstück «Als die Welt rückwärts gehen lernte» wurde für den Deutschen Kindertheater­preis 2022 und die Mülheimer Theatertage nominiert. Zusammen mit Carolin Emcke und Maryam Zaree führt sie seit letztem Herbst die Veranstaltungs­reihe «Ist das ein Mensch?» durch. Dabei werden Ausschnitte aus Erinnerungen von Holocaust-Überlebenden gelesen und diskutiert, unter anderem von den hier im Text genannten Autorinnen. Lena Gorelik lebt mit ihrer Familie in München.

Zu den Büchern

Edith Bruck: «Das barfüssige Mädchen». Aus dem Italienischen von Verena von Koskull. Aufbau, Berlin 2023. 159 Seiten, ca. 30 Franken.

Max Czollek: «Versöhnungstheater». Hanser, München 2023. 176 Seiten, ca. 32 Franken.

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