Sind die Grünen angewelkt?

Die Grünen verlieren die Wahlen im Kanton Zürich. Die Grünliberalen hingegen legen zu – im Kanton Baselland sehr deutlich, in Zürich weniger als erwartet. Was bedeuten die gestrigen Resultate für die nationalen Wahlen im Herbst?

Von Dennis Bühler (Text) und Felix Michel (Grafik), 13.02.2023

Vorgelesen von Miriam Japp
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Blicken wir zunächst in aller Kürze auf die wichtigsten Ergebnisse der gestrigen Wahlen im Kanton Zürich:

  • Die Zusammen­setzung des Regierungsrats bleibt unverändert: Die sozial­demokratische Heraus­forderin Priska Seiler Graf scheitert deutlich mit ihrem Vorhaben, Bildungs­direktorin Silvia Steiner (Mitte) aus dem Amt zu drängen. Letztere landet sogar noch vor der Freisinnigen Carmen Walker Späh auf Rang 6. Damit verteidigen die Bürgerlichen ihre knappe Mehrheit in der sieben­köpfigen Exekutive. Im Amt bestätigt wurden Natalie Rickli (SVP), Ernst Stocker (SVP), Carmen Walker Späh (FDP), Silvia Steiner (Mitte), Mario Fehr (parteilos, einst SP), Jacqueline Fehr (SP) und Martin Neukom (Grüne).

  • Auch im Zürcher Kantons­parlament bleibt vieles beim Alten: Ganz knapp verteidigt die aus SP, Grünen, GLP, Alternativer Liste und EVP bestehende «Klima­allianz» ihre vor vier Jahren erlangte Mehrheit. Sie hält künftig noch 91 der 180 Kantonsrats­sitze, 3 weniger als bisher – was vor allem an den Grünen liegt, die die grössten Verluste aller Parteien hinnehmen müssen. Die Resultate im Detail: SVP 46 Sitze (+1 Sitz), SP 36 (+1), FDP 29 (unverändert), Grün­liberale 24 (+1), Grüne 19 (–3), Mitte 11 (+3), EVP 7 (–1), Alternative Liste 5 (–1), EDU 3 (–1).

Damit zu drei Fragen von nationalem Interesse:

  1. Stimmt es, dass das Resultat der Zürcher Kantonsrats­wahlen ein zuverlässiger Indikator für den Ausgang der gesamt­schweizerischen Nationalrats­wahlen ist?

  2. Falls ja: Was bedeuten die gestrigen Ergebnisse für die Wahlen vom 22. Oktober dieses Jahres?

  3. Welche Erkenntnisse lassen sich für den anstehenden Wahl­kampf ableiten?

«Das ideale Labor»

Seit Jahrzehnten gelten die Wahlen im Kanton Zürich als «Haupt­probe» (NZZ, 2003) und «Gradmesser» («Tages-Anzeiger», 2011) für die eidgenössischen Wahlen, die jeweils sechs bis neun Monate später stattfinden. Und das zu Recht, wie ein Blick in die Vergangenheit zeigt.

So untersuchte der Politologe Thomas Milic, ob die grossen Volks­parteien bei beiden Wahlen Stimmen­anteile gewannen oder verloren. Es zeigte sich, dass sich die Resultate bei der SP, der FDP und der SVP seit 1951 in rund 80 Prozent der Fälle deckten. Je näher man der Gegenwart kommt, umso grösser ist die Über­schneidung: So lief der Trend bei der SP und der SVP letztmals 1979 auseinander und beim Freisinn 1991.

Dasselbe Ergebnis ergibt sich, wenn man das Abschneiden der sechs grössten Parteien bei den Zürcher Kantonsrats- und den eidgenössischen National­ratswahlen der letzten 20 Jahre analysiert: Mit einer einzigen Ausnahme entwickelten sie sich stets synchron. Einzig die Grünen wichen einmal von diesem Muster ab: 2011, als die Zürcher Wahlen unter dem unmittelbaren Eindruck der Reaktor­katastrophe im japanischen Fukushima standen. Ihren (kleinen) Zugewinn vermochten die Grünen ein halbes Jahr später auf nationaler Ebene nicht zu bestätigen.

Zürich und die Schweiz (fast) im Gleichschritt

Veränderung der Wähleranteile gegenüber der letzten Wahl in Prozentpunkten

Zürcher Kantonsratswahlen
Nationalratswahlen
SVP20032007201120152019−10010 ProzentpunkteFDP20032007201120152019−10010 ProzentpunkteCVP (heute Mitte)20032007201120152019−10010 ProzentpunkteSP20032007201120152019−10010 ProzentpunkteGrüne20032007201120152019−10010 ProzentpunkteGLP20032007201120152019−10010 Prozentpunkte

Quellen: BFS, Kanton Zürich.

Zürcher sind arrogante Hipster, die sich für die ultimativen Gross­städter halten – so lautet ein gängiges Klischee. Aber: Betrachtet man die mehr als 1,5 Millionen Bewohnerinnen des ganzen Kantons, erhält man eine Population, die erstaunlich repräsentativ ist für die Gesamt­schweiz.

«Zürich ist ein Mischkanton», sagt Peter Moser, Leiter Analysen und stellvertretender Chef des kantonalen statistischen Amtes. Anders als Basel-Stadt und Genf sei Zürich kein Stadt­kanton, anders als Kantone in der Ur- und in der Ostschweiz aber auch kein peripherer Land­kanton. «Mit Zürich und Winterthur gibt es zwei grosse Städte, daneben gibt es aber auch sehr viele Agglomerations­gemeinden und einen nicht zu vernachlässigenden ländlichen Raum. Diese Beschaffenheit macht den Kanton zum idealen Labor.»

Doch das ist nicht der einzige Grund, warum Zürich besser als jeder andere Kanton als Prognose­werkzeug für die gesamt­schweizerischen Nationalrats­wahlen taugt. Der zweite wichtige Aspekt: seine Bevölkerungs­grösse – und die damit einher­gehende Bedeutung in der nationalen Politik.

Heute stellt der Kanton Zürich 35 von 200 National­rätinnen, im Oktober kommt wegen des überproportional starken Bevölkerungs­wachstums ein weiterer Sitz hinzu. Das Zürcher Wahlvolk entscheidet somit über 18 Prozent der Volks­vertreterinnen, was ihm viel mehr Einfluss verleiht als den Wählerinnen kleinerer respektive weniger dicht besiedelter Kantone.

Und weil zwischen den Zürcher Kantonsrats- und den Nationalrats­wahlen nur wenige Monate liegen, ändern sich die in der Schweiz ohnehin fast in Stein gemeisselten Präferenzen der Wählerinnen kaum. Heisst: Die partei­politische Zusammen­setzung der Zürcher Nationalrats­delegation für die nächste Legislatur wird sich aller Voraussicht nach höchstens minim vom gestrigen Stimmen­verhältnis unterscheiden. Interessanter­weise ändert auch die Wahl­beteiligung, die bei eidgenössischen Wahlen jeweils um etwa ein Drittel höher liegt als bei Kantonsrats­wahlen, nichts daran. Das legt den Schluss nahe, dass bei eidgenössischen Wahlen allen Zürcher Parteien eine ähnlich starke Zusatz­mobilisierung gelingt.

Grünliberaler Aufschwung

Analysiert man alle kantonalen Ausmarchungen seit den letzten National­ratswahlen, stechen zwei Erkenntnisse hervor. Erstens verloren alle Bundes­ratsparteien Sitze: die SP und die Mitte sehr viele, die FDP viele, die SVP wenige. Zweitens gewannen Grüne und Grünliberale enorm dazu, verfügen in den Kantonen aber weiterhin über deutlich weniger Parlaments­sitze als die vier Bundesrats­parteien.

An diesem Gesamt­fazit vermochten die beiden gestrigen Wahlen in den Kantonen Zürich und Basel­land wenig zu ändern. Sie bestätigten aber zwei Trends, die sich schon im vergangenen Jahr abzeichneten:

  • Unter dem im Oktober 2021 zum Partei­präsidenten gekürten Aargauer Ständerat Thierry Burkart hat sich die zuvor von Krise zu Krise taumelnde FDP – anders als von der Republik prognostiziert – stabilisiert. Vor vier Monaten attestierte das SRG-Wahl­barometer dem Freisinn einen Zugewinn von 1 Prozent­punkt. Diese Prognose erscheint angesichts des Resultats vom gestrigen Sonntag etwas gar optimistisch. Aber die FDP vermochte ihre Sitzzahl sowohl in Zürich als auch in Basel­land zu halten.

  • Während sich der Aufschwung der Grünen abgeschwächt hat, sind die Grünliberalen unverändert auf der Überhol­spur unterwegs: Die ältere Ökopartei verlor gestern in Zürich 3 und in Baselland 2 Sitze, die Jüngere gewann 1 respektive 3 hinzu. Bemerkenswert ist allerdings auch, dass die Zugewinne der GLP in Zürich – dem Ursprungs­kanton der Partei – klar hinter den Prognosen zurück­bleiben. Gemäss SRG-Wahlbarometer könnte dasselbe auch auf nationaler Bühne passieren.

Kanton Baselland: GLP verdoppelt Sitzanzahl im Landrat – und die EVP drängt die SVP aus der Regierung

Die Grünliberalen gewinnen die Basel­bieter Parlaments­wahlen: Sie stellen im 90-köpfigen Landrat neu 6 statt wie bisher 3 Vertreterinnen. Ihr Sieg geht vor allem auf Kosten linker Parteien: Die Grünen und die SP verlieren je 2 Sitze. Letztere wird damit von der SVP überflügelt. Die Resultate im Detail: SVP 21 Sitze (unverändert), SP 20 (–2), FDP 17 (unverändert), Grüne 12 (–2), Mitte 10 (+1), GLP 6 (+3), EVP 4 (unverändert). Dennoch überwiegt die Freude bei der kleinsten Fraktion jene bei der Grössten, endet die Regierungsrats­wahl doch mit einer Sensation: Der Muttenzer EVP-Gemeinderat Thomi Jourdan lässt die weit rechts politisierende SVP-National­rätin Sandra Sollberger, die den Sitz ihres zurück­getretenen Partei­kollegen Thomas Weber verteidigen wollte, um 1137 Stimmen hinter sich. Die vier bisherigen Regierungsräte Anton Lauber (Mitte), Isaac Reber (Grüne), Kathrin Schweizer (SP) und Monica Gschwind (FDP) schaffen die Wieder­wahl locker. Das Ergebnis ist gleich im doppelten Sinn historisch: zum einen, weil erstmals überhaupt ein Vertreter der Kleinpartei EVP in eine Schweizer Kantons­regierung einzieht; zum anderen, weil der bürgerliche SVP/FDP/Mitte-Block seine Mehrheit verliert, die er mit Ausnahme der Jahre 1947 bis 1950 immer innehatte.

Der Kanton als Terra incognita

Der Wahlkampf im Kanton Zürich war dieses Jahr lau, wenn man ihn vergleicht mit denjenigen in den Jahren 2019 und 2015. Das hatte mindestens drei Gründe:

Erstens kandidierten alle amtierenden Regierungs­rätinnen erneut, lagen von Anfang an bei allen Umfragen in Führung und hielten sich demonstrativ zurück. Aus angeblicher Sorge um das Kollegialitäts­prinzip füllten sie nicht einmal den Smartvote-Fragebogen aus.

Zweitens war der Wahlkampf ausgesprochen kurz – für einmal wurde nicht erst im April, sondern schon in der ersten Februar­hälfte gewählt, womit zwischen den Festtagen und dem Versand der Wahl­unterlagen nur gerade drei Wochen lagen.

Und drittens wurde gestern anders als in früheren Jahren nicht über eine oder mehrere nationale Sach­vorlagen abgestimmt. Wäre das der Fall gewesen, wären auch sach­politische Fragen debattiert worden, was jeweils zur Mobilisierung beiträgt.

Zudem fehlte es – von der Bildungs­politik und der teils dezidierten Kritik an der dafür zuständigen Regierungs­rätin Silvia Steiner abgesehen – an umstrittenen kantonalen Themen. Das allerdings ist kein neues Phänomen, wie Politik­wissenschaftlerin Cloé Jans vom Forschungs­institut GFS Bern zu bedenken gibt. «Die meisten Menschen interessieren sich für globale und lokale Themen. Was dazwischen liegt, ist Terra incognita.» Dies beobachte sie auch bei den Befragungen für das alljährliche Sorgen­barometer der Credit Suisse, wo jeweils auch ermittelt wird, mit welcher staatlichen Ebene sich jemand am meisten identifiziere: «Nur eine kleine Minderheit nennt den Wohn­kanton.»

Bei der Entscheidung für eine Partei lasse sich die Schweizer Bevölkerung von der globalen Themen­konjunktur beeinflussen, sagt Jans. «Den Ausschlag geben nicht die kantonalen Finanzen, sondern was man gegen den Klima­wandel unternehmen möchte oder wie sehr man die Sicherheit des Landes wegen des Krieges in der Ukraine als gefährdet erachtet.»

Es sind Themen, die aller Voraussicht nach auch am 22. Oktober noch aktuell sind. Selbst wenn es bis dann noch 251 Tage dauert.

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