Briefing aus Bern

Klima­wandel schlägt Corona im Sorgen­barometer, neuer Vorstoss verlangt Iran-Sanktionen – und der Bundesrat rüstet sich für den Fall eines Strommangels

Das Wichtigste in Kürze aus dem Bundeshaus (213).

Von Dennis Bühler, Bettina Hamilton-Irvine, Priscilla Imboden und Jana Schmid, 24.11.2022

Vorgelesen von Patrick Venetz
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Die Schweiz hat Sorgen. Aber andere als noch vor einem Jahr.

Während 2021 Corona die Schweizerinnen am stärksten beschäftigte, ist dieses Jahr die Umwelt das Sorgen­kind des Jahres. Auf Platz zwei und drei folgen Alters­vorsorge und Energie. Das zeigt das am Mittwoch präsentierte Sorgen­barometer 2022 der Credit Suisse. Die Gross­bank lässt diese Studie seit 46 Jahren durchführen. Und so hat das Forschungs­institut GFS Bern auch dieses Jahr rund 1800 Stimm­berechtigte aus der ganzen Schweiz befragt.

Dabei kam heraus: 39 Prozent der Stimm­bevölkerung machen sich Sorgen um Umwelt­schutz, Klima­wandel und Umwelt­katastrophen. Dieser Wert ist gleich hoch wie letztes Jahr, doch damals wurde er von der Corona-Pandemie übertroffen. Diese war in den vergangenen zwei Jahren klare Spitzen­reiterin. Heuer hat sie es nicht einmal mehr unter die Top 10 geschafft: Mit 13 Prozent sei die Pandemie offensichtlich zu einem Alltags­problem geworden, analysiert die Credit Suisse.

Das Umwelt­problem hingegen hat in letzter Zeit stark an Bedeutung gewonnen: 2006 hat es die Schweizer mit einem Wert von 7 Prozent noch wenig aus der Ruhe gebracht, 2012 waren es immerhin schon 18 Prozent. Trotzdem: Von den Rekordwerten zwischen 61 und 74 Prozent in den Jahren 1988 bis 1991 ist die Schweiz noch weit entfernt.

Deutlich wird im Sorgen­barometer auch, wie der Russland-Ukraine-Krieg den Schweizerinnen aufs Gemüt schlägt.

Zwar geben nur 20 Prozent der Befragten den Krieg selbst als Sorge an. Dafür sind andere Befürchtungen prominenter vertreten, die damit zusammen­hängen: Energie­fragen, Angst um die Versorgungs­sicherheit, Inflation. Diese Sorgen waren in den letzten Jahren viel weniger akut. Der Krieg lasse «materialistische» Themen wie die Sicherheit wichtiger erscheinen, sagt Cloé Jans von GFS Bern. Damit lässt sich auch ein gesteigertes Vertrauen der Stimm­bevölkerung in die Armee erklären. «Postmaterielle Themen» wie die Gleich­stellung der Geschlechter seien dagegen in den Hinter­grund gerückt.

Immerhin hat der Krieg in der Ukraine Europa als Werte­gemeinschaft zusammen­geschweisst. So sehen das mehr als die Hälfte der Befragten. Viele finden auch, die Zeit sei reif, um die Beziehungen zur Europäischen Union zu klären: 76 Prozent erachten stabile Beziehungen der Schweiz zur EU als wichtig, und 61 Prozent finden, diese weiter­zuentwickeln, liege in der Verantwortung der Schweizer Regierung. (Wo der Prozess aktuell steht, haben wir am Mittwoch aufgezeigt.)

Schliesslich: Der allgemeine Zukunfts­optimismus, den die Schweizer in der Vergangenheit an den Tag gelegt hatten, bröckelt stark. Seit 27 Jahren stellt die Studie Fragen zu diesem Thema. Noch nie war der Blick auf die unmittelbare (wirtschaftliche) Zukunft des Landes so getrübt wie heute.

Und damit zu etwas Erfreulichem: dem Briefing aus Bern.

Bundesrats­wahlen: Rösti oder Vogt – plus eine SP-Frau

Worum es geht: Am 7. Dezember bestimmt das Parlament über die Nachfolge der Bundes­rätinnen Simonetta Sommaruga (SP) und Ueli Maurer (SVP). Die SVP schlägt Albert Rösti und Hans-Ueli Vogt vor – der ehemalige Partei­präsident aus dem Kanton Bern und der Stadt­zürcher Rechts­professor haben sich am letzten Freitag in der eigenen Fraktion gegen drei Konkurrentinnen durchgesetzt. Wen die SP auf ihr Zweier­ticket setzt, entscheidet sie diesen Freitag. Klar ist: Daniel Jositsch wird es nicht sein – der Zürcher Ständerat hat seine Kandidatur zurück­gezogen, nachdem sich die Fraktion deutlich für ein reines Frauen­ticket ausgesprochen hatte. Zur Auswahl stehen somit die Berner Regierungs­rätin Evi Allemann, die jurassische Stände­rätin Elisabeth Baume-Schneider und die Basler Ständerätin Eva Herzog.

Warum Sie das wissen müssen: Bei den SVP-Kandidaten gilt Rösti als Favorit. Allerdings könnte Vogt bei der SP, der GLP und den Grünen punkten, wollen doch zumindest Letztere einen Energie­minister Rösti verhindern. Und auch mit dem Freisinn hat Vogt einige Berührungs­punkte, wie er diese Woche im Republik-Interview deutlich machte. Bei der SP ist das Rennen zumindest zwischen Allemann und Herzog offen – wobei Herzog als Favoritin gilt. Eine Wahl der Jurassierin Baume-Schneider hingegen wäre eine grosse Überraschung, weil die Deutsch­schweiz mit ihrem Bevölkerungs­anteil von 71 Prozent dann im Bundesrat in der Minderheit wäre. Aufs Ticket aber könnte sie es schaffen, weil ihre beiden Konkurrentinnen dem Reform­flügel der SP angehören und linken Sozial­demokraten somit zu eingemittet sein könnten.

Wie es weitergeht: Am Montag beginnt die Winter­session des Parlaments und damit die heisse Phase im Bundesrats­rennen. In der ersten Sessions­woche werden die beiden SVP-Kandidaten und die beiden SP-Kandidatinnen mit möglichst vielen National- und Stände­rätinnen Kaffee trinken wollen; am 6. Dezember präsentieren sie sich und ihre Ideen dann in Hearings bei allen Fraktionen (erstmals überhaupt haben auch die Grünen SVP-Bewerber eingeladen). Tags darauf wird gewählt.

Iran-Sanktionen: Nationalrats­kommission macht Druck

Worum es geht: Die Aussen­politische Kommission des Nationalrats verlangt, dass die Schweiz die EU-Sanktionen gegen den Iran übernimmt und die iranische Zivil­gesellschaft im Kampf für Frauen- und Menschen­rechte unterstützt. Beide Forderungen wurden am Montag deutlich verabschiedet. Drei Tage zuvor hatte die Schwester­kommission des Ständerats anders entschieden: Sie lehnt die Übernahme der Sanktionen ab. Auch der Bundesrat will nicht aktiv werden, wie er bereits Anfang November bekannt gab.

Warum Sie das wissen müssen: Der Bundesrat begründete seine Zurück­haltung vor drei Wochen mit «innen- und aussen­politischen Interessen», wozu er auch die Briefträger­funktion zählte, die die Schweiz zwischen dem Iran und den USA ausübt. Mit dem deutlichen Positions­bezug der national­rätlichen Kommission steigt nun der Druck, doch noch tätig zu werden. Derweil nimmt im Iran die Brutalität zu, mit der das Regime gegen protestierende Zivilistinnen vorgeht. Vor allem in den kurdischen Gebieten herrschen gemäss Augen­zeugen bürgerkriegs­ähnliche Zustände. Sorge bereitet zudem, dass der Iran in einer zweiten Atom­anlage damit begonnen hat, Uran auf 60 Prozent anzureichern – für Atom­waffen werden 90 Prozent benötigt, was technisch laut Expertinnen keinen grossen Unterschied mache.

Wie es weitergeht: Der Bundesrat wird sich demnächst erneut zu seiner Iran-Politik äussern müssen. Dass er seine Passivität ablegt, scheint zurzeit unwahrscheinlich – auch, weil er wohl ein Präjudiz vermeiden möchte im Hinblick auf den ungleich wichtigeren Handels­partner China, gegen den die EU 2021 Sanktionen erliess wegen der Unter­drückung der Uiguren.

Strom: Bundesrat präsentiert Pläne für Mangel­lage

Worum es geht: Eine Maximal­temperatur für Wasch­maschinen festlegen, Leucht­reklamen verbieten, die Geschwindigkeit auf der Autobahn auf 100 Kilometer pro Stunde begrenzen, die Laden­öffnungszeiten einschränken: Zu all diesen Massnahmen könnte der Bundesrat greifen, falls der Strom im Winter knapp wird und Spar­appelle nicht wirken. In einem weiteren Schritt würde der Strom für Gross­verbraucher rationiert. Diese Pläne machte der Bundesrat am Mittwoch bekannt. Im äussersten Fall sind Netz­abschaltungen vorgesehen.

Warum Sie das wissen müssen: Russland schickt weniger Gas nach Europa. Es ist Putins Antwort auf die Sanktionen, die von westlichen Ländern aufgrund des Kriegs in der Ukraine verhängt wurden. Da in europäischen Ländern wie Deutschland und Italien mit Gaskraftwerken Strom erzeugt wird, kann sich das auf die Strom­produktion auswirken. Die Schweiz könnte dadurch indirekt betroffen sein, denn sie ist im Winter auf Strom­importe aus der EU angewiesen.

Wie es weitergeht: Zu den Massnahmen hat die Regierung Verordnungen publiziert, die bis Mitte Dezember in die Vernehmlassung gehen. Schon zuvor hat der Bundesrat diverse Massnahmen getroffen, um die Energie­versorgung im Winter zu gewährleisten. Aktuelle Einschätzungen geben nun vorsichtig Entwarnung: Die Gasspeicher in der EU und die Speicher­seen in der Schweiz sind gut gefüllt, und der Herbst war bisher mild.

Exit der Woche

Seit der erratische Milliardär Elon Musk vor gut drei Wochen Twitter übernommen hat, herrscht auf der Social-Media-Plattform Chaos. Musk ernannte sich als «Technoking» selbst zum Monarchen, entliess die Hälfte der Angestellten, warf alle raus, die ihn kritisieren, und lud Ex-US-Präsident Donald Trump nach zwei Jahren Sperre ein, seine Beleidigungen künftig wieder auf Twitter zu verbreiten. Werbe­kunden, die sich zurück­ziehen wollten, drohte er öffentlich zu demütigen. Nun steht ein «Twexit» im Raum: Viele ziehen in Betracht, Twitter zu verlassen – auch Schweizer Polit­grössen. Grünen-Präsident Balthasar Glättli hat sich bereits im April ein zweites Standbein auf dem dezentralen Netzwerk Mastodon aufgebaut, wie er gegenüber «20 Minuten» sagt. Auch GLP-Nationalrat Jörg Mäder hat eine «Zweit­wohnung» auf Mastodon eingerichtet. Das Gleiche gilt für Wissenschaft­lerinnen wie Emma Hodcroft oder Isabella Eckerle. Doch nicht alle zieht es auf Mastodon: «Ohne mich», twitterte die Grünen-Nationalrätin Meret Schneider: Mastodon klinge für sie «nach dem Geburts­ort der Dementoren und wird bestimmt auch noch von Orks bewacht». Falls Sie nicht wissen, was Dementoren sind: Diese seelen­losen Wesen aus den «Harry Potter»-Romanen zählen zu den schlimmsten dunklen Kreaturen der magischen Welt. Sie verbreiten Angst und Kälte und sorgen dafür, dass ihren Opfern nur schreckliche und düstere Gedanken bleiben. Also gar nicht so anders als auf Twitter.

Illustration: Till Lauer

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