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Der Satz "Stolz oder Scham (wenn Sie in Mallorca einer Gruppe Aargauer begegnen) ..." ist ziemlich deplatziert in diesem Artikel. Allenfalls lustig wäre er in einer Satire. Es grüsst ein Aargauer.

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Genau ernst muss ernst sein und gehoben und darf nie, aber auch gar nie etwas lockerere Elemente enthalten, und schon gar nicht Witze über Aargauer, das reisst einen ja aus den weissen Sockenm. Es grüsst ein Nichaargauer, der aber von seinem Arbeitszimmer aus den Aaargau (Islisberg) als wahren Sehnsuchtsort sieht.

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Wieder sehr spannend. Regt zum Denken an. Bei Stolz und Scham gehe ich nicht mit, insbesondere nicht wenn es als “ausschliesslich“ deklariert wird. Ich habe braune Haare und die gehören zu meinem Selbstbild und ich wäre total verstört wenn sie plötzlich blond wären ohne dass ich sie färbte. Wie viel % meiner Identität von meiner Haarfarbe abhängt kann ich in der Tat nicht sagen. Aber ich schäme mich nicht dafür noch bin ich stolz darauf.
Ich plädiere für eine “relationale Identität“: in der Schweiz bin ich St. Galler, wenn ich mit einem Basler über Herkunft spreche, in China bin ich Europäer aus der Schweiz. Am Fussballmatch kann ich mal Zürcher “hassen“ um die nächste Woche für Zürcher Spieler zu jubeln wenn sie für “die Schweiz“ spielen (als Beispiel, ich schaue kaum Fussball). Damit will ich nicht sagen, es sie die anderen, welche mir diese Identitäten aufzwingen, sondern es sind die Umstände und Informationen von aussen, die beeinflussen, wie ich über mich selber reflektiere.
Insofern mag ich die Aussage sehr, dass die meisten wohl meistens (oder sogar alle immer, aber wer weiss?) nicht genau wissen wer sie sind, wer oder was ich bin.
Zugleich plädiere ich aber auch für gesellschaftlich ausgehandelte Rollen, um die Gesellschaft im Alltag zu organisieren (z.B. ein Polizist ist ein Polizist und hat dadurch bestimmte Rechte und Pflichten). Welche Rollen definiert werden, wie sie definiert werden, wer wem wie die Rollen zuteilen darf und muss, kann alles verhandelt werden, aber ich glaube nicht dass eine Gesellschaft ganz ohne soziale Rollen funktionieren kann, ausserhalb einer theoretischen autarken Dorfgemeinschaft.

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Auf die Schnelle nur ein Gedankenblitz zum Kommentar von H. B.: und wenn Sie älter werden und die Haare zuerst immer grauer und dann weiss, sind Sie dann ein anderer oder immer noch derselbe, nur älter? Das, worauf Sie dann stolz sind oder worüber Sie sich schämen, ist dann vielleicht ganz anderes als jetzt. Und macht Sie das dann zu einem andern? Oder wieder nur zu dem, der Sie immer schon waren, nur älter?
Einmal mehr ein hochgradig herausfordernder Text von Daniel Strassberg, über den ich lange und gründlich nachdenken muss und möchte.

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Tatsächlich hat Identität auch ein zeitliche Kompononente: Sie verändert sich, aber wir wissen doch irgendwie, dass alle Zeitpunkte zusammengehören. Vielleicht wie ein Schnur, auf die wir einzelne Perlen aufreihen und die dann zusammen die Perlenkette ergeben.

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Erlauben Sie mir noch einige Gedanken zu Ihrem feinsinnigen Satz:

Solange ich mir bewusst bin, dass Identität keine heilige Mission, sondern eine private Fantasie ist, kann ich spielerisch damit umgehen.

Ich denke, hier liegt eine Differenz zwischen Ihnen, Herr Strassberg, und Hume. Denn laut diesem ist die private Fiktion nicht unabhängig von der kollektiven Fiktion. Denn Stolz und Scham stehen über den Basis-Affekt der sympathy in einem dialektischen Verhältnis zur sozialen Anerkennung und Verkennung. Also dem Lob und Tadel nach Massgabe der Wert-Urteile.

Letztere sind Normen, die auch aufgrund der wahrgenommenen Normalität gebildet werden. Beide werden als Gewohnheiten - diese grossen "Führer im Menschenleben" (Hume) - internalisiert. Zu diesen Erinnerungen haben wir denn auch eine affektive Bindung. Ob als Gefühl der Vertrautheit und Selbst-Sicherheit oder des Misstrauens und Entfremdung. Das Gefühl (e-)motiviert dann auch unsere eigenen ethisch-politischen Wert-Urteile. Während die Vernunft als "Sklave der Affekte" diese rationalisiert, also begründet und rechtfertigt. Diese Wert-Urteile können sich aber auch, da die Gefühle auf Erinnerungen, Gewohnheiten, Normen und Normalitäten beruhen, als Vor-Urteile herausstellen.

Hier wiederum setzt Humes Gesetz an, wonach vom Sein nicht aufs Sollen geschlossen werden kann. Denn die Vorschriften gründen laut Humes "Emotivismus" nicht alleine auf objektiven Tatsachen-Beschreibungen der Vernunft, sondern sind immer auch Ausdruck subjektiver oder intersubjektiv tradierter Gefühls-Einstellungen.

Doch diese Gefühle sind kein Schicksal, denn sie können kultiviert und dadurch auch gestaltend verändert werden, so dass neue Gewohnheiten, Normalitäten und Normen entstehen. Dadurch ist Humes Ethik wie jene Aristoteles' auch eine Tugend-Ethik.

Humes Grundannahme ist, dass alle Menschen von Natur nach sozialer Anerkennung streben (love of fame), weshalb auch der Grund-Affekt und Ur-Tugend sympathy ist, die variierend auch fellow-feeling (Gemeinschaftsgefühl) oder humanity (Menschlichkeit) genannt wird und modern "Sozial-Kompetenz" heissen könnte. In kommunikativen Situationen erhalten wir einerseits von unserer Umwelt Lob und Tadel, die in uns Affekte von Stolz und Scham hervorrufen, und andererseits vergleichen wir uns mit den Anderen oder vielmehr mit den Werten und Normen, deren Erfüllung erwartet werden.

Nach gelungener Gefühls-Bildung (Schillers "Herzensbildung" oder Humboldts "Bildung des Gemüths") entwickelt sich in Bezug zum Stolz die "Grossgesinnheit" (gr. megalopsychia, lat. magnanimitas) und in Bezug auf die Scham die "Feinfühligkeit" oder Taktgefühl, Höflichkeit und Zivilisiertheit. Hume spricht in diesem Zusammenhang von der Greatness of Mind:

In general we may observe, that whatever we call heroic virtue, and admire under the character of greatness and elevation of mind, is either nothing but a steady and well establish'd pride and self-esteem, or partakes largely of that passion. [...]
I am content with the concession [to the virtue of humility], that the world naturally esteems a well-regulated pride, which secretly animates our conduct, without breaking out into such indecent expressions of vanity, as may offend the vanity of others.

Fehlgegangen - etwa durch extremen Tadel wie Beschämung und Demütigung, aber auch durch extremes Loben wie Überschätzung und Verehrung - oder Temperamentbedingt wird aus Stolz und Scham einerseits Hochmütigkeit/Eitelkeit und Schamlosigkeit/Unverschämtheit und andererseits Kleinmütigkeit/Demut und Schüchternheit/Ängstlichkeit.

Wobei nach Aussen hin, wie Jane Austen wunderbar in "Stolz und Vorurteil" zeigt, Schüchternheit subjektiv auch als Hochmütigkeit missverstanden werden kann und zu allerhand Komplikationen führt.

Als Zeichen der Zivilisiertheit kann nun in der Tat die (Selbst-)Ironie gelten, die stolz aber uneitel und bescheiden auf die eigene Lebensgeschichte schaut, aber aus feinem diskretem Taktgefühl auf das schamlose indiskrete Missionieren der eigenen, aber als objektiv wahr dargestellten, Meinungen und Wert-Urteile verzichtet.

Die Gefahr dabei ist, dass dieses private Sprach-Spiel der Ironie zu privatistisch ist und die öffentlichen, d. h. politischen Macht-Spiele ignoriert werden, bei der es um die ernsthafte Kritik und Gestaltung der sozialen Normen ginge.

Post-Irony und New Sincerity sozusagen.

Trotzdem ja - mal leise, mal laute Selbst-Ironie bei aller Bescheidenheit und Ernsthaftigkeit.

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Vielen Dank für Ihren klugen Kommentar. Tatsächlich wurde die Frage, wie sich die private Konstruktion des Selbst zu den allgemeinen Normen verhält, nicht berührt. Aber es könnte gut sein, dass hier eine Differenz zu Hume liegt: Für Hume sind Stolz und Scham direkte Abbilder kollektiver Normen, ich dagegen glaube, dass man sich zu diesen Normen unterschiedlich verhalten kann. Vielleicht ist entscheidend, dass zwischen Hume und heute die Psychoanalyse liegt.

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Ah, das würde mich sehr interessieren! Sozusagen von der Assoziation zur freien Assoziation. Wie dem auch sei - vielen Dank! Sowohl für Ihre Antwort als auch für Ihre Mini-Serie.

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Es scheint mir glücklicherweise nicht den Anschein zu machen. Aber sollten Sie bei ungerechtfertigtem Tadel ein dialektisches Gegengift benötigen, so gönnen Sie sich doch einen Keks 🍪 dieser Marke: https://www.stmichel.fr.

Wohl bekomms (bei aller Bescheidenheit und Ernsthaftigkeit)!

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In all importance of being earnest, Herr L., sei Ihnen herzlich gedankt für Ihr food for thought! Nach Einnahme dieser Oblate werde ich in verklärter Selbst-Apotheose kanonisiert als Saint Michel de La Manche (nicht zu verwechseln mit meinem anderen Seelenverwandten de la Mancha), bekannt auch unter dem scholastischen Namen Doctor veteratoris, der tobende Trolle auf der Nadelspitze tanzen lässt und elefantöse threads durchs Nadelöhr führt.

Doch als Polymath, der ich nicht bin, ziehe ich Leibniz-Kekse vor (während ich die Newtons-Cookies verabscheue).

Nichts für Ungut!

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Wieder sehr nachdenkenswert! (Auch die bisherigen Kommentare)

Ich sehe die "Identität" als eine Art Zwiebel (vielleicht deshalb manchmal zum Weinen) wobei die einzelnen Schichten den unterschiedlichen Rollen entsprechen, entweder selbst gewählt oder zugeschrieben.
Schwierig wird es, wenn wir nach einem Kern unter all den Schalen suchen. Denn da ist bloss der eigene Kopf, bei dem alle Informationen zusammen kommen und verarbeitet und gespeichert werden.
Und vielleicht ist alles, was mit Stolz oder Scham verbunden ist, tatsächlich geeignet, als viel stärkere Information durchzukommen. Und deshalb auch prägender im Gedächtnis zu bleiben.

Ich hatte als Jugendliche einen Sportunfall mit anschliessender (zum Glück nur vorübergehender) Amnesie.
Seltsamerweise ist mir jener Zustand selber sehr deutlich in Erinnerung geblieben. Jede Antwort, die ich auf meine vielen verwirrten Fragen erhielt, war wie ein Fisch, der kurz aufleuchtete und sofort verschwand, ohne, dass ich ihn fassen konnte. Es war ziemlich schlimm und ich war zum ersten (und hoffentlich letzten) mal in meinem Leben tatsächlich verloren.
Das hat mein Denken über Identität sehr geprägt. Wenn wir uns nicht an unsere Rollen und unsere Erfahrungen erinnern können, bleibt nicht viel übrig.

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Danke Dani, schön zusammengefasst - aber es ist nicht nötig sich ueber die Schreibweisen mit dem (Autofahrerinnen) lustig zu machen. Es ist wichtig so zu schreiben, weil Sprache das Denken ausmacht. Und v.a. Sprachänderungen die Leute zum Denken bringen. Die Anerkennung von andern Identitäten, Rollen usw. ist wichtig um die Deutungsmacht des weissen, heterosexuellen Mannes zu unterwandern...

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Ich mache mich nicht lustig, liebe Eva, ich halte diese Schreibweisen nur für einen Fehler, weil sie festschfreiben. Aber Dein Argument, dass sich Denken nur über Sprache ändert, ist natürlich stichhaltig, nur scheint es mir kein Zufall, dass diese Veränderungen nur in der geschriebenen Sprache und nicht in der gesprochenenen Sprache möglich sind.

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Liebe Frau Hug, es ist tatsächlich nicht nötig sich über die Schreibweise lustig zu machen. Daran stören darf man sich trotzdem. Ich stosse mich nicht im Geringsten am Versuch Inklusion über die Schreibweise zu erreichen. Der Asterisk wird aber schon als Fussnotenzeichen, als genealogisches Zeichen oder als Auslassungszeichen für Buchstaben in tabuisierten Wörtern (z. B. f***) benutzt. Letzteres spricht geradezu gegen die Verwendung dieses Zeichens für diesen Zweck. Das Binnen-Asterisk stört zudem das Wort- resp. Schriftbild wesentlich. Als Typografin versuche ich jede visuelle Auffälligkeit im Textbild zu verhindern. Dies wird durch diese unglückliche Schreibweise verhindert. Das ist nebst Herr Strassbergers sprachlichem Argument ein rein ästhetischer Grund wieso ich für eine andere Lösung bin.

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Identität als private Fiktion ist eine Scheinidentität, die aus der eigenen Identifizierung mit allem Möglichen resultiert. Die Ur-Form, von der sich alles ableitet, ist die Identifizierung mit dem Ego-Verstand. Es folgen, je nach Präferenz oder Sucht, Identifizierungen mit Ideologien, Lehrmeinungen oder anderen …ismen, mit Rollen, mit verschiedenen Masken, mit dem was Andere über uns denken und als Folge davon mit Äusserlichkeiten wie Aussehen, Besitz, Land oder die Kreise zu denen man sich zählt. Die so erzeugte Identität ist eine Illusion und das Leben von Illusionen erzeugt mit Sicherheit Leiden, das wir uns selbst zufügen. Dies weil Illusionen oder Schein-Realitäten die unangenehme Eigenschaft haben, immer wieder an der Wirklichkeit zu zerbrechen.
Daniel Strassberg wird den Begründern des Konstruktivismus Humberto Maturana und Heinz von Förster mit seiner verzerrten Definition nicht gerade gerecht. Vielleicht trifft diese auf die Religion zu, die später daraus gemacht wurde. Die Grundidee lautete nämlich: »Jede(r) konstruiert sich ihre/seine Realität oder Version des Weltbilds selbst.« Leider sind wir bei der Wahl der Bausteine unseres Weltbilds meistens ziemlich unbedarft und bauen deshalb auch allen möglichen Mist (meistens solchen, den uns andere empfehlen oder sogar vorschreiben) völlig unkritisch in unsere Konstruktion ein. Die resultierende Schein-Realität bildet dann die Grundlage für unser Denken und Handeln und machen aus uns im besten Fall mehr oder weniger von unserer Version abhängig, im schlimmsten Fall aber zu rezeptgesteuerten Zombies.
Auf die echte Identität, die hinter diesen Fassaden stecken soll gibt es nur Hinweise. Sie kann weder definiert noch bewiesen werden. Auf die Frage: »Kann das Selbst sich selbst erkennen?« antworteten die Weisen schon seit Jahrtausenden: »Kann der Zahn sich selbst beissen?« oder »Kann das Auge sich selbst sehen?« Immerhin haben die Hirnforscher herausgefunden, dass wir so etwas wie ein beobachtendes Bewusstsein haben, das ein Vetorecht gegen die Entscheidungen unseres Verstands hat, dieses aber leider viel zu wenig nutzt.

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Dann doch lieber durch den „Riss“ des „Nichts“ und den „Ego-Tunnel“ und ausrufen: „Ich hab meine Sach‘ auf Nichts gestellt!“ (Max Stirner)?

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Identität und Ironie, das geht nur unter einer bestimmten Voraussetzung zusammen; das liegt in der Natur der Sache. Man muss sehr gut befreundet sein, damit Ironie ankommt.
Identität bedeutet: Zwei sind gleich. Hier wichtig: Ich fühle mich zuhause, wenn der andere versteht, was ich meine. Und: Meine Identität wird geprüft und anerkannt, wenn ich als Person überindividuell in Raum und Zeit verortet werde und man weiss, woher ich komme.
Ironie bedeutet: Ich meine das Gegenteil von dem, was ich sage. Wenn eine solche ironische Aussage keine deutlichen, vom üblichen Sprachgebrauch abweichenden Ironiesignale enthält, kann sie von jemanden, der nicht sicher weiss, was ich sagen will, gar nicht richtig verstanden werden.
Ironie ist also bei der Kommunikation mit Fremden, die meine Identität nicht sicher inklusive festgefügter Meinungen und Vorlieben kennen, weil sie nicht mit mir in meiner «Blase» leben, denkbar unangemessen: Wer nicht bereits weiss, was der andere sagen will, kann mit Ironie nichts anfangen.
Wer darüber lacht, dass jemand seine Ironie nicht versteht, entlarvt sich als jemanden, der von andern erwartet, dass sie ihm nichts Neues zutrauen. Und doch ist Ironie – leichte, schwebende Ironie unter Freunden – ganz wunderbar: Man fühlt sich untereinander verbunden und spürt, dass man mit sich im Reinen ist und einander ohne Worte – oder gegen die Worte – versteht. Unverzichtbar für das Gefühl einer gesicherten Identität.

Terzinen über Vergänglichkeit (Hugo von Hofmannsthal)

Noch spür ich ihren Atem auf den Wangen:
Wie kann das sein, daß diese nahen Tage
Fort sind, für immer fort, und ganz vergangen?

Dies ist ein Ding, das keiner voll aussinnt,
Und viel zu grauenvoll, als daß man klage:
Daß alles gleitet und vorüberrinnt.

Und daß mein eignes Ich, durch nichts gehemmt,
Herüberglitt aus einem kleinen K.
Mir wie ein Hund unheimlich stumm und fremd.

Dann: daß ich auch vor hundert Jahren war
Und meine Ahnen, die im Totenhemd,
Mit mir verwandt sind wie mein eignes Haar,

So eins mit mir als wie mein eignes Haar.

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Sehr geehrter Herr Strassberg

Falls Sie es noch nicht kennen, empfehle ich Ihnen, sich das Konzept zum Thema „Identität“ von Andrew Solomon zu Gemüte zu führen. Ich könnte mir vorstellen, dass es Ihnen gefällt, da es Möglichkeiten eröffnet und keine verschliesst. (Sie kennen ja sicher sein Buch „Saturns Schatten“).

Solomon unterscheidet zwischen vertikaler und horizontaler Identität. Vertikal ist alles, was man „von oben“ mitbekommt, wie Augenfarbe, Nationalität, sozialer Status etc., „horizontal“, wie man sich selbst in Freiheit definiert. Dazu zählt Solomon nicht nur Faktoren wie Gender und auch Sex, Begabung, religöse Orientierung (und den Verzicht darauf) etc., sondern er geht so weit, auch Autismus und Gehörlosigkeit bei der horizontalen Identität zur Diskussion zu stellen, womit er offenbar weiten Kreisen von „Betroffenen“ aus der Seele spricht.

Mit grossem Dank für Ihre republikanischen Anregungen und
mit freundlichen Grüssen

S. B.


Andrew Solomon: „Far from the Tree. Parents, Children, and the Search for Identity“ (2012), auf Deutsch: „Weit vom Stamm – Wenn Kinder ganz anders als ihre Eltern sind“, S. Fischer Verlag.

Oder als Einstieg im Internet:
Andrew Solomon: How the worst moments in our lives make us who we are | TED Talk
https://www.ted.com/talks/andrew_so…t#t-928852

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Vielen Dank für den heiter-intelligenten Artikel!
Eine Bemerkung zum Thema Konstrutivismus: Ihr Vorschlag, Identität als ein ironisch distanziertes Auswählen aus den schier unendlich vielen Selbstbeschreibungsangeboten zu definieren, scheint mir doch durch und durch konstruktivistisch.

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Dem würde Hume wohl weitgehend zustimmen, aber er würde weiterfragen, wie die Gewohnheiten entstehen, und da spielen pride and humility eine grosse Rolle

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Mir hat das Buch "Identity" (Francis Fukuyama) hilfreiche Ansätze geliefert, Antworten darauf zu finden.

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Toll, David Hume, befreiend!

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Identitätsstiftung funktioniert m. M. n. ganz andes:
Ich kann noch nachvollziehen, dass Stolz/Scham Identität spürbar macht. Aber die erwähnten Beispiele von Stolz (Haus, das man nicht mal selber erbaute, Fussballmannschaft) sind doch genau die Beispiele, die einen niemals zu Stolz verleiten sollten, weil sie herzlich wenig mit einem selber zu tun haben. Wenn man sich selber zubilligt stolz auf seine «eigene» Fussballmannschaft sein zu müssen, muss man auch jedem anderen zubilligen, stolz auf seine «eigene» Nation zu sein. Dazu bin ich, wie Peter Bichsel, nicht bereit:

«Wissen Sie, das Problem ist der Patriotismus. Ich halte Patriotismus für etwas sehr Gefährliches. Ich halte Patriotismus, Entschuldigung, für ein Verbrechen. Dann sagen die Leute: Sie meinen wohl Nationalismus. Ich sage: Es gibt keinen Unterschied. Nationalismus ist immer nur der Patriotismus der anderen.»

Dass man Verbundenheit mit einem Fussballverein oder einer Nation fühlen kann und daraus Identität entsteht, erachte ich als legitim. Dieses Verbundenheitsgefühl steht selbstverständlich auch jedem Menschen «mit Migrationshintergrund» zu und somit auch die dazugehörende Identität. Verbundenheit ist ein viel plausiblerer Identitätsstifter als Stolz. Daher möchte ich auch mit dem folgenden Beispiel der Annahme widersprechen, dass nur Lebenserfahrungen und nicht auch biologische Eigenschaften Identitätsstiftend sein können: Ich übe eine Sportart aus, bei der die Geschlechter gemischt auf dem Platz stehen. Bei den grossen Turnieren treffen sich diejenigen mit einem Penis am nächstgelegen Waldrand zum Urinlassen. In diesem Moment fühle ich mich mit diesen Menschen (egal ob cisgender oder transgender) zu tiefst verbunden und fühle so etwas wie die Identität «Waldrandpinkler». Stolz ist das Entfernteste was ich in einem solchen Moment fühle. Ähnliche Verbundenheit/Identität dürften «Kabinenpinkelnde» verspüren, weil der Veranstalter wieder einmal viel zu wenig ToiTois aufgestellt hat und sich diese Gruppe Menschen vor dem einen Toitoi zum Anstehen trifft. – Diese Identitätsstiftung dürften z. B. auch Raucherinnen oder Raucher verspüren, wenn man sich bei klirrender Kälte zu einer Zigarette vor dem Eingang trifft. Schicksalsgemeinschaft halt. Mit Stolz, Scham oder Lebenserfahrung hat das gar nichts zu tun.

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Der Waldrandpinkler ist ein wunderbares Bild, aber mir scheint, dass es nicht Ihre, sondern meine Position unterstützt. Es gibt keine Biologie des Waldrandpinkels, auch kein Hirnareal, das dafür zuständig ist.

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Zugegeben, die Eigenschaft «waldrandpinkelnd» liegt weder im Hirn noch in der Biologie begraben. Die Umstände, die dazu führen, dass jemand ein/e «Waldrandpinkelnde/r» wird, kann man durchaus auch im Gesellschaftlichen verorten. Ich tendiere trotzdem eher zum Biologischen. Vermutlich läuft es aber auch hier auf die ungeklärte Frage hinaus; was war zuerst, das Huhn oder das Ei?

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Wunderbar, wie Sie, Herr Strassberg, ausgehend von Humes Einsicht, dass das Selbst eine (notwendige oder nützliche) Fiktion ist (und somit eine Konstruktion?), eine ironische Als-ob-Ethik entwickeln (vgl. Hans Vahingers Philosophie des Als Ob).

Aus derselben Erkenntnis haben übrigens die Buddhisten nach Siddharta Gautama das Nicht-Anhaften ans Ich und Besitztümer gelehrt und die Christen nach Augustinus das Nichts-Sein der eigenen zeitlichen Existenz und Hingabe an den ewigen Gott.

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ohne mich für die zürcher bequemlichkeit -wehrlose opfer zu necken - zu schämen finde ich das identitätsstiftend - und
;-)

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schön!
danke!

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Auf den ersten Blick macht dieser Artikel durchaus Sinn und für viele wird er wohl interessante Denkansätze enthalten. Aber das Kernproblem zeigt sich im folgenden Satz: "Humes Auffassung bietet tatsächlich einen Ausweg aus der Sackgasse der heutigen Debatte, die zwischen Essentialismus und Konstruktivismus erstarrt ist."
Was der Autor vollständig ausser Acht lässt ist die Konsequenzen aus der Hume'schen Denkweise: Sie führt zwangsweise in den Relativismus und Nihilismus, wie die Wirkungsgeschichte der Hume'schen Philosophie zeigt. Die beschriebene Erstarrung zwischen Essenzialismus und Konstruktivismus ist nur aus einer ganz beschränkten Sicht wahr und gilt nur für jemanden, der in den Denktraditionen, die nur bis ins 19. Jahrhundert reichen, verharrt. Ich denke, es ist ganz schwierig, Texte älterer Denker - Hume stammt aus dem 18. Jhdt. - zu nehmen und daraus so ohne weiteres im Rahmen eines psycholgisch-soziologisch-philosophisch verbrämten Artikels die grossen Weisheiten abzuleiten. Vielleicht wäre es sinnvoll, für ein doch so komplexes Thema wie das Konzept der "Identität" im Vorfeld aktuellere Arbeiten von Denkern aus dem 20./21. Jhdt zu lesen. Ansonsten bleibt der Nutzen und der Sinn eines solchen Artikels mehr als fraglich.

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Für mich liegt der Nutzen und Sinn eines solchen Artikels nicht in einem Wettbewerb, wer denn jetzt die letztgültige Antwort auf die Frage gefunden habe, was 'Identität' sei. Sondern darin, zum Nachdenken anzuregen. Was nicht das Gleiche ist, wie mittels angelesener Wissensbestände auszumarchen, wer als Letzter über die Leichen seiner Feinde hinwegstelzt und hocherhobenen Hauptes als Sieger vom Feld geht.

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Liebe Frau J. Es freut mich für Sie, dass Sie der Artikel zum Denken angeregt hat. Das Selbe trifft aber offenbar auch für meinen Leserbrief zu. Darin könnte schon ein gewisses Problem sichtbar werden. Auch kann Ihren allgemein formulierten Aussagen kaum sinnvoll widersprochen werden. Aber für eine "Zeitung" wie die Republik sollte es nicht nur (!) darum gehen, zum Nachdenken anzustossen. Vielmehr geht es darum, einen heute kaum existierenden politischen Raum zu schaffen, in dem Überzeugungen ausgetauscht und diskutiert werden können. Durch ein solches Hinaustreten an die Öffenlichkeit entsteht automatisch so etwas wie ein intellektueller Disput, bei dem es stärkere und schwächere Argmente gibt. Es ist nach meiner Ansicht nur möglich "weiterzukommen", im Sinne von: mehr von der Welt zu verstehen und dadurch ein besserer Mensch zu werden - dahin streben wir doch alle, oder nicht? -, wenn man sich mit seinen Überzegungen faktisch einem Wettbewerb stellt. Naturgemäss werden die Argumente in einem Leserbrief immer etwas kurz ausfallen. Aber umso wichtiger ist es, dass der initale Text sehr fundiert ist. Daraus kann sich im Idealfall eine fruchbare, breite Diskussion entwickeln. Eine solche hat immer etwas von einem dialektischen Wettbewerb, das gebe ich zu.

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