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Hm. Schwere Kost. Dem Thema lässt sich nur mit wissenschaftlicher Akribie beikommen. Für die durch zahllose Zitate und Namedroppings angedeutete Wissenschaftlichkeit ist mir der Essay aber zu polemisch und meinungslastig.

Wieso? Die einen sagen im Text etwas, ein anderer "tönt". Jörg Reiser hält es einerseits für eine Zumutung, wenn deutsche Journalisten meinen, ein jüdisch-amerikanischer Forscher relativiere die Shoa. Das mag man durch eine identitätspolitische Brille so sehen (wie in dieser Lesart Lyrik schwarzer Autoren nur durch POC zu übersetzen wäre, die Republik hatte das Thema). Reiser selbst findet andererseits ein paar Abschnitte weiter dann aber nichts dabei, Alan Posener zu kritisieren, dessen Vater Jude war. Auch hier mit einer wertenden Tonalität: "nur um hinterherzusetzen". Später unterstellt er Posener und anderen noch, sie stellten sich absichtlich dumm.

Und natürlich ist der zitierte Satz für ein allgemeines Publikum auf genau die Art verquast, die Karl Popper schon bei Habermas und Adorno gefunden hat.

Der Artikel passt in seiner Länge und Komplexheit aus meiner Sicht eher in ein linkes Theorie-Journal (wohin sich die Republik nicht entwickeln möge) oder ein Historiker-Fachblatt.

Als Ergebnis des Essays nehme ich mit: Wer vergleicht, sollte nicht nur die Ähnlichkeiten benennen, sondern auch die Unterschiede. Ja nun.

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Ich kann in diesem Artikel mit bestem Willen keine Polemik ausmachen. Es werden im Gegenteil immer entgegengesetzte Positionen beleuchtet und diese diskursiv abgehandelt. Die Synthese des ganzen "Historikerstreits" besteht meiner Meinung nach dann in der Aussage, dass man den Holocaust in keiner Weise relativieren muss, um gewisse Kontinuitäten aus der Kolonialgeschichte darzustellen.

Zudem verstehe ich nicht, wieso Sie hier die "identitätapolitische Brille" ins Spiel bringen. Der Autor des Artikels spricht sich ja gerade dafür aus, dass sich auch amerikanische Historiker frei und offen der deutschen Geschichte annehmen sollen und kritisiert einen anderen, obwohl dessen Vater Jude ist. Ihrem Verständnis von Identitätspolitik nach müsst ja genau dies verboten sein, so dass es nur gewissen Gruppen zustehe, sich über eine Frage zu äussern (bspw. POC über afro-amerikanische Literatur). Genau dagegen wehrt sich der Autor.

Ich kann verstehen, dass Ihnen diese Texte zu lange sind. Ich finde es jedoch genau die Stärke der Republik, auch komplexere Themen ausführlich zu beleuchten.

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Er bringt die identitätspolitische Sicht ja selbst ein, indem er es für eine Zumutung hält, wenn deutsche Nichtjuden Juden eine Relativierung der Shoa attestieren.

Und wenn er er schreibt, dass jemand tönt, andere hingegen etwas sagen, dann ist die Tonalität eine Wertung. Ähnlich der, nach der in manchen Medien die einen Demonstranten, die der falsche Seite, Parolen blöken, während die anderen protestieren.

Um Ihren Begriff aufzugreifen: Als wissenschaftlicher Laie sehe ich den Holocaust als gesteigerte Kontinuität der Kolonialgeschichte, weil er nicht nur das Fremde oder die Fremden abwertet, sondern einen Teil des Eigenen in Fremdes umetikettiert, um es dann maschinell präzise zu vernichten.

Wobei vor der Ungeheuerlichkeit des Verbrechens (oder der Verbrechen) all diese Diskussionen ohnehin in tiefem Unbehagen stattfinden.

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Yvo Wüest / Education Minds GmbH
Trainer Didaktische Reduktion
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Ein wertvoller, aufschlussreicher Beitrag, vielen Dank Herr Heiser!

Auf LinkedIn griffen wir kürzlich in der Fachgruppe #TranskulturelleKompetenz das Thema #Namibia und #DeutscheKolonialgeschichte auf.

Siehe: https://www.linkedin.com/feed/updat…088782336/

In einem Kommentar, notierte ich eine interessante Beobachtung:

"(...) wie unterschiedlich in der deutschen Version von Wikipedia über die Kolonialzeit, besonders aber die Errichtung der deutschen Konzentrationslager in Namibia berichtet wird. Im Vergleich zum Eintrag in Englischer Sprache.

Deutscher Eintrag: https://de.wikipedia.org/wiki/Konze…westafrika

Englischer Eintrag: https://en.wikipedia.org/wiki/Shark…ation_camp

Kennen Sie ähnliche Beispiel, in denen der gleiche Sachverhalt, ein historisches Verbrechen, einmal in klaren Worten und aussagekräftig beschrieben wird; in einem anderen Eintrag aber auf oberflächliche und nach meiner Einschätzung hier sogar in einer banalisierenden Version abgehandelt wird?

Wer tiefer in die Geschichte Namibias eintauchen möchte, dem empfehle ich den eindrücklichen Roman "Morenga" von Uwe Timm. In seinem Buch schreibt der Autor über das Leben und Schicksal von Jakobus Morenga, einem der bekanntesten Anführer beim Aufstand der Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika anfangs des 20. Jahrhunderts."

Hier der Link zum erwähnten (und empfehlenswerten) Buch von Uwe Timm: https://de.wikipedia.org/wiki/Morenga_(Roman)

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Vielen Dank für die beiden Wikipedia Links, die zeigen, wie unterschiedlich dieses Thema behandlelt wird. Was ich mich dabei frage, ist, ist es nicht schon relativieren der Geschichte, wenn im deutschen Artikel steht, dass "nur" aufständische Frauen und Männer interniert wurden, obwohl anscheinend (laut dem englischen Eintrag) viele Kinder in den Lagern waren und dort auch starben? Da bekommt das Ganze schon eine ziemlich andere Dimension.

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Yvo Wüest / Education Minds GmbH
Trainer Didaktische Reduktion
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Danke für diese differenzierte Beobachtung und interessante Überlegung. #Relativierung

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Schwere Kost am Morgen früh.
Nur verstehe ich auch mit diesem Artikel nicht, dass man die Einzigartigkeit des Holocaust mit Vergleichen belegen muss.

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Einzigartigkeit ist kein objektives Prädikat. Sie erhält ihren Sinn erst durch eine Positionierung in Relation zu anderen Phänomenen. Insofern leuchtet mir die Aussage durchaus ein.

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Sie versuchen es leider immer wieder.

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Vergleiche hinken, Gewalt gegen Gewalt, Tote gegen Tote. … sie enden in «gut schlecht», «schlimmer als» und verhindern den Blick auf das Wesentliche, weshalb Gewalt geschah. Und Vergangenheitsbewältigung ist eine Chimäre. Was geschah, ist geschehen und kann nicht ungeschehen gemacht werden. Übrigens die Sichtweise der Menschen im Orient. Das ewige zurückblicken verhindert, den Blick auf das Geschehen im hier und heute. Das »Völkische» ist immer noch da, hat nur andere Namen und Akteure … Der Westen mit seinem Kategorisieren, Belehren, Dämonisieren als Machtmittel zur politischen und wirtschaftlichen Expansion. Neokolonialismus pur!

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Mir scheint es in diesem Artikel tatsächlich darum zu gehen, "warum Gewalt geschah" bzw. geschieht – genaue historische Vergleiche können hierbei helfen, denken sie nicht? Ihre Bemerkung über 'Menschen im Orient' empfinde ich nicht nur als pauschalisierend, sie knüpft m.E. auch an problematische Vorurteilstraditionen an ('Orientalismus'). Aber womöglich habe ich ihr Argument nicht ganz verstanden?

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Vielen Dank für die Rückmeldung Herr Z. Shoa und Kolonialismus sind grundverschieden in den Ursprüngen der Gewalt und Auswirkungen bis in die heutige Zeit und deshalb nur schwer vergleichbar.. Die Shoa mündete in die Gründung des Staates Israel, d.h. die Juden haben ihr Schicksal in die eigene Hand genommen. Der Kolonialismus hat zu einer Lähmung Afrikas geführt, die bis in die heutige Zeit hineinreicht. Der Schrecken verdient die Betrachtung des Einzelschicksals, nicht das Subsummieren in eine Gesamtheit.
Der Orient war nicht polarisierend gemeint, sondern vereinfachend für Singapur, Taiwan, VRP China, die beiden Koreas und Japan, d.h. den Kollektivgesellschaften im Orient ob demokratisch oder durch einen Volkskongress gewählt deren Glaube auf dem konfuzianischen Rollenmodell der Familie aufbaut. Diese Grundordnung der Rechte und Pflichten eines jeden in der Familie, verbunden mit dem unverbrüchlichen Glauben, dass nur eine intakte Gemeinschaft auf Zeit überleben kann, lieferten sie in eindrücklicher Weise in der Pandemie in der alle Länder weniger Tote in absoluten Zahlen hatten als die Schweiz.

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Simon Reber
Software Entwickler, Familienvater
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Ein schwieriges Thema. Wobei es letztlich doch wieder recht einfach ist. Der Anfang jedes dieser historischen Verbrechen bestand darin, dass eine Gruppe von Menschen, welche man mit einigen Attributen vom Rest der Gesellschaft abgrenzte, schlechter stellte. Dadurch erlangten andere Menschen, welche diese Attribute nicht hatten, Privilegien.
Das aber setzt eine negative Rückkoppelung in Gang, welche durch noch schlechter Stellen der einen, die Privilegien der anderen vergrössert. Dieser Mechanismus führt, wenn er nicht aufgehalten wird, dazu, dass die Herabgesetzten irgendwann in den Augen der Privilegierten nur noch überflüssig sind und beseitigt werden müssen. Dies kann nur durch Vertreibung und Tötung erfolgen.
Dieses Muster taucht sowohl in der Kolonialisierung, wie in unzähligen Bürger- und Eroberungskriegen auf, und zwar seit Jahrtausenden.
Der Holocaust ist nur in seinem Ausmass einzigartig, nicht in seinen Beweggründen. Die Beseitigung der nativen Völker Amerikas folgte dieser Logik genau so, wie die Apartheid Südafrikas (und anderer Länder), oder die Separierungen der Balkankriege.
Auch die Kreuzzüge und der islamistische Terror hatten/haben letztlich keine anderen Gründe, als dass Andersgläubigen das Lebensrecht aberkannt wurde/wird, zum Wohle und Triumph der echten Gläubigen.
Wir tun gut daran, diese Muster zu erkennen und die Rückkoppelungen zu unterbrechen, solange noch keine wohl gelittenen Massenmorde und Vertreibungen stattgefunden haben. Nachher ist es unendlich viel schwieriger, wie die unendlichen Debatten über Antisemitismus und Israelkritik eindrücklich beweisen.

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"Wir tun gut daran, diese Muster zu erkennen", denn mit Annahme der Terror-Vorlage im Juni werden wir hier in der Schweiz "eine Gruppe von Menschen, [..] mit einigen Attributen vom Rest der Gesellschaft abgrenzen, schlechter stellen".
Wenn eine Demokratie für einen Teil der Bevölkerung spezielle Gesetze erlässt, hört sie auf, Demokratie zu sein und steht am Anfang der Entwicklung, die Sie beschreiben.

Ab dann werden Charakterisierungen auftauchen, wie sie Jörg Heiser für Mbembe formuliert:
"Alis Aussage, «keinerlei Beziehung zum IS» zu haben, trifft zwar im rein formalen Sinne zu (er ist kein Mitglied der Organisation), erscheint aber nicht korrekt im Hinblick auf seine tatsächlichen themabezogenen Beiträge und Aktionen" (nur zwei Namen habe ich ausgetauscht und 'israel' durch 'thema' ersetzt). Der Grat ist schmal.

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Endlich einmal eine längst fällige ohne die übliche, religiös und/oder ideologisch verbrämte Rechtfertigungsideologie verfälschte Analyse des Kolonialismus und des Holocaust. Ganz herzlichen Dank, sehr geehrehrter Herr Heiser. Dieser kurze, aufgrund von historischen Fakten zusammengestelle Überblick über die wahren Hintergründe der bisherigen Geschichte sollte Pflichtlektüre für die Regierungen und Parlamentarierinnen und Parlamentarier auf der ganzen Welt sein, ganz besonders auch in der Schweiz, wo ja -wie leider immer noch in fast allen von Weissen bewohnten Menschen - immer noch Fake-News anstatt Tatsachen die Köpfe und Geschichtsbücher beherrschen.
Ich möchte nur an eine lange verheimlichte Tatsache erinnern, als Beispiel dafür, dass die unwahre, geschichtsverfälschende Behauptung nicht stimmt, die Schweiz habe mit dem Kolonialismus nichts zu tun: Sie profitierte genauso wie die eigentlichen Kolonialmächte gewaltig davon .
Es soll zugleich ein kleiner Hinweis darauf sein, dass die Lektüre dieses Aufklärungs-beitrags von Herr Heiser, auch für alle schweizerischen Politikern sehr notwenig wäre: Nachdem der belgische K. die Kolonie "Belgisch - Kongo" in die gross verkündete - aber nicht wirklich geplante - echte Unabhängkeit entlassen hatte, hielt Patrice Lumumba, der gewählte Präsident des neuen Staates Kongo, eine Rede, worin er dem selbstherrlichen K. und den diplomatischen Vertretern der übrigen von Weisen regierten Völker, eine Geschichtsstunde erteilte und dessen Lügen widerlegte.
Der belgische K. liess sich diese Blamage nicht gefallen, er verliess den neuen Staat wutentbrannt und organisierte, zusammen mit dem Präsidenten der USA, die brutale Ermordung Lumumbas. An seiner Stelle setzten sie einen willfährigen Diktator ein, welcher sein Volk während Jahrzehnten gnadenlos aussaugte, und die zusammen-gerafften Milliarden auf Schweizer Banken versteckte. Das war ein "Kollaterlaschaden", denn das Entscheidende war, dass die Belgier und Amerikaner weiterhin die kongole-sischen Bodenschätze ungehindert ausbeuten konnten.
Und pikanterweise war eben einer dieser Bodenschätz Uran: Die Schweizer Regierung kaufte diesem brutalen Unterdrücker diesen Rohstoff für den Bau einer - im Geheimen noch lange geplanten - schweizerischen Aatombombe ab. Welche Schweizer wissen das überhaupt?!
Zum Schluss möchte ich Ihnen, sehr geehrter Herr Heiser, nochmals von ganzem Herzen für Ihren wertvollen, mutigen Beitrag danken.

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Im "Wettbewerb der Opfer" haben nicht alle gleich gute Karten. Es gab im 20. Jahrhundert Millionen von Toten, denen weit weniger Aufmerksamkeit zuteil wird, als den Opfern des Holocaust. Man denke hier an die Opfer des Stalinismus (die "Säuberungen", die Hungersnot in der Ukraine, das Gulag-System), an die Opfer der chinesischen Kulturrevolution, an die Millionen in der "Obhut" der deutschen Wehrmacht verhungerter und ermordeter russischen Kriegsgefangener...
Trotzdem würde ich die Singularität des Holocaust bejahen, weil dieser in seinem Fanatismus, in seiner industriellen Tötungssystematik und insbesondere in seiner umfassenden Komplizenschaft tatsächlich einzigartig ist. Weder die Verbrechen des Stalinismus noch die Genozide in Ruanda oder Bosnien stiessen auf eine vergleichbare Unterstützung in Form von williger Kollaboration, offenem oder "klammheimlichem" Beifall, Duldung und Gleichgültigkeit. Nie vorher oder nachher liess die abendländische Zivilisation kollektiv ein solches Verbrechen ähnlich desinteressiert und schulterzuckend geschehen.
Oder doch? Die Millionen Toten der Kolonisation würden gewiss Einspruch erheben. Im Unterschied zum Holocaust erstreckten sich diese Verbrechen aber über Jahrhunderte, die beteiligten Akteure und Motive waren vielfältig, die Intensität und kriminelle Energie wechselhaft und nicht immer vollständig unwidersprochen. Was für die Opfer gewiss nichts ändert - aber das gilt auch für die weiter oben erwähnten Opfer des Stalinismus oder des deutschen Vernichtungskriegs. Auch dem Kolonialismus fehlt die Wucht einer nur wenige Jahre dauernden, jedoch umfassenden "Kampagne", die industrielle Dimension und der Fanatismus, welche dem Holocaust seine Einzigartigkeit verleihen.
Eine andere Frage ist freilich, wie viel Spielraum der Holocaust heute Israel noch verschaffen kann. In diesem Land verketten sich ja die im Artikel diskutierten Themen auf unheilvolle Weise: einerseits ist Israel ein "Safe haven" für jüdische Menschen, die vor rassistischer Verfolgung in Europa flüchten mussten. Andererseits ist es ein spätes Kind kolonialistischer Machenschaften auf dem Buckel der dort lebenden Palästinenser/-innen. Wer nun auf den kolonialistischen Aspekt Israels hinweist und die praktizierte Ungleichbehandlung Apartheid nennt - wie dies die Bewegung BDS tut - wird des Antisemitismus bezichtigt. Die Erfahrung des Holocaust wird - nicht zum ersten Mal - von Israel dazu missbraucht, sachliche Kritik als antisemitische Propaganda zu denunzieren. Man mag die Agenda von BDS ablehnen, weil sie antizionistisch ist und einen säkularen Staat sowie gleiche Rechte für alle Einwohner/-innen Israels fordert. Mit Antisemitismus hat dies aber nichts zu tun.
Wer eine bürgerliche Regierung in Europa kritisiert, muss mit allerhand Gegenwehr und Auseinandersetzung rechnen. Aber kaum mit dem Vorwurf, eine solche Kritik komme der Forderung gleich "alle Kapitalisten an Laternenpfählen aufzuknüpfen". Israel und seine unkritischen Unterstützer/-innen machen aber von genau solcher Rabulistik Gebrauch, wenn sie Kritik pauschal mit der Antisemitismus-Keule beantworten. Leider spielt dieser Reflex vielen in die Hände. Israel erledigt damit Kritik im Handumdrehen. Und den durch antisemitische und kolonialistische Vergangenheit belasteten Europäer/-innen dient sie als Instant-Befreiungsritual von allfälligen Gewissensbissen und als Beweis der erfolgten Läuterung.

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Mitmensch
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Nach Studium dieses Beitrags konnte ich nur in den Kommentar-Raum treten, nachdem ich „aller Opfer“ von Menschheitsverbrechen ehrfurchtsvoll gedacht hatte.

Der Verstand legt sich alles trefflich und messerscharf zurecht, ob seine Resultate allerdings die erhofften Präventivwirkungen entfalten, ist zumindest fraglich. Ich vermisse im Artikel und auch in den Kommentaren eine Herzensregung für die Opfer.

Das objektivierende Denken verwandelt Millionen von einzelnen Menschen in Denk-Material. Nimm die passende Ideologie dazu und du kannst damit tun, was du willst. Interessenvertreter finanzieren die Feldzüge gegen die Andersdenkenden, Andersgläubigen, Andersfarbigen, Andersgeschlechtlichen, „Andersartigen“ sicher grosszügig, wenn ein grosser Gewinn in Aussicht steht, was ja stets der Fall war.

So wie die Geschichten der Gefühle einer präzisen gedanklichen Überprüfung bedürfen, so bedürfen auch die Gedanken einer bewussten gefühlsmässigen Überprüfung. Vielleicht ist Ehrfurcht gegenüber den Opfern empfinden ein Weg, solche Ungeheuerlichkeiten gegen Menschen weniger wahrscheinlich zu machen.

Wikipedia zum Begriff „Ehrfurcht“: „Keltner und Haidt weisen zudem auf die mögliche Bedeutung der Ehrfurcht für individuelle Transformationsprozesse hin. Sie könne Menschen veranlassen, ihr bestehendes Selbst- bzw. Weltbild zu modifizieren und über sich selbst hinauszuwachsen.“
„Given the stability of personality and values [], awe-inducing events may be one of the fastest and most powerful methods of personal change and growth.“ (etwa: In Anbetracht der Stabilität von Persönlichkeit und Werthaltungen könnten Ehrfurchtserlebnisse eine der schnellsten und effektivsten Methoden für Wandel und Wachstum einer Person sein.)
Einen herzlichen Dank an alle Kommentaristen, von denen ich vieles gelernt habe.

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auch interessant zum Thema: Die Publikationen auf Geschichte der Gegenwart zur Causa Mbembe.
https://geschichtedergegenwart.ch/t…le-mbembe/

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zum Thema empfehle ich diesen Beitrag in der WOZ: https://www.woz.ch/2118/die-ueberre…halten-und

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Auch ich möchte mich für den Artikel von Jörg Heiser bedanken.Eine multidirektionale Sicht ist tatsächlich erhellend. Heiser beleuchtet die verschiedensten Bezüge, die in vereinfachenden Argumentationen oft mit bestimmten Absichten ausgblendet werden. Eine Perspektive scheint mir, dies mein kleiner Hinweis im weiteren Zusammenhange, dennoch nicht berücksichtigt zu sein, nämlich diejenige der vom Kolonialismus beherrschten Völker, die beim "Madagaskar-Plan", bei Chamberlains "Uganda-Plan" oder Görings "Tanganyka-Vorschlag" den zu deportierenden JüdInnen hätten Platz machen sollen. Die willkürliche Verfügung über nicht-weisse Territorien galt als nicht zu hinterfragende Selbstverständlichkeit. Selbst frühzionistische Kreise liebäugelten eine Zeitlang mit einem jüdischen Staat in Afrika, bevor sie sich auf Palästina, das sich damals noch unter ottomanischer (Fremd)Herrschaft befunden hat, als Zielgebiet für einen jüdischen Staat geeinigt haben. Die Balfour-Declaration von 1917 entspringt dem gleichen kolonialistischen Geist. Diese dient heute noch als Legitimation für den jüdischen Staat: eine europäische Regierung verspricht andern EuropäerInnen ein Stück aussereuropäischen Landes. Das ist genau so, wie sich dies Herzl vorgestellt hat: "Die Judenfrage ist eine nationale Frage, um sie zu lösen, müssen wir sie vor allem zu einer Weltfrage machen, die im Rate der Kulturvölker(sic!) zu lösen sein wird." Und selbstverständlich auf Kosten der Völker, die nicht zu den Kulturvölkern gezählt wurden.

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Ganz herzlichen Dank für den Beitrag, dessen Argumentation mir einleuchtet. Interessant scheint mir die Frage, inwiefern die Vernichtungslogik des Holocausts ihrerseits in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts eine Fortsetzung in den Genoziden in Ex-Jugoslawien und Ruanda fand. Anders gefragt: Gibt es eine diskursive Differenz in der Vernichtungslogik von Auschwitz und Ruanda oder könnte man in diesem Fall tatsächlich von einer Kontinuität (ohne Annahme einer naiven Kausalität) sprechen? Geschieht womöglich beiderorts die beschrieben Inversion des kolonialistischen Denkens (die Um- und Aufwertung menschlicher Bestialität, die Naturalisierung von Gewalt etc.)? Falls ja: Müsste dann die Analyse der Einzigartigkeit des Holocausts angepasst oder weiter verfeinert werden?

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Abstraktionsnomade
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Der Artikel ist sehr facettenreich und ich habe längst nicht alle beschriebenen Zusammenhänge verstanden.

Zu Beginn des Lesens sah ich mich konsterniert gegenüber der Frage, weshalb jemand überhaupt auf die Idee kommt, einen Vergleich des Holocaust mit anderen Ereignissen zu verbieten. Ich sah den Nutzen eines Vergleichs mehr aus praktischer Seite: vielleicht lernst du was, siehst du was. Das fühlt sich dann so an wie basteln, man probiert halt mal und vielleicht kommt was dabei raus.

Ich glaube ich habe nun auch ein Verständnis dafür gewonnen, weshalb die Auseinandersetzung mit der Hauptfrage eine wesentlich subtilere und systematischere Vorgehensweise als basteln verlangt.

Wird der Holocaust mit anderen Ereignissen verglichen, kann ich ihn besser in meiner Landkarte einbetten. Ich stelle Beziehungen auf (beginne zu relativieren), die bei genauer Betrachtung gar nicht so sind. Und dann bettet sich der Holocaust ein zwischen Anderem.

Genau dieses Einbetten soll nach meinem Verständnis verhindert werden.

Die Umkehrung der Logik bezüglich dem "natürlichen" hätte ich ohne einen Vergleich jedoch kaum sehen können. Ich glaube man soll vergleichen dürfen, sich aber akkurat auch damit beschäftigen, ob damit die Einbettung erfolgt.

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verleger
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Ja. Der Kopf brummt, habe mich aber zum Durchhalten und Weiterlesen angehalten. Ganz herzlichen Dank für den langen, anspruchsvollen und zum Thema hartnäckigen Artikel, der tatsächlich zu Reflexion führen muss; genau in dem Sinne ist zwar ein solcher Artikel Polikerinnen ans Herz und Kopf zu legen - aber: es müsste dann zwingend eine Verarbeitung, Verinnerlichung und Reflexion sich anschliessen zu dem eigenen Anti-Was-Auch-Immer in einem Selbst. Sonst bleibt man auf der Ebene der hippen Shit-Stormereien. Dann ginge es wirklich um Denkprozesse, die in unserer schnell lebigen Zeit eben einiges an Zeit beanspruchen. - Und dann könnte es möglich werden, über Dinge zu sprechen, Dinge an sich, ohne gleich den Urheber zu lokalisieren, schubladisieren, abzuwerten, der Diskussion nicht würdig zu taxieren. Leider ein Phänomen, das mir tatsächlich und zunehmend Schmerzen bereitet: die blitzschnelle Zuordnung (auch wenn sie nicht mal zutrifft by the way), um dann das weitere reflexartig aus der Retorte im eigenen Narrativ anzugehen. Und bei aller historischen Verarbeitung sind diese Themen niemals abhakbar, wachsam bleiben ist besser - und anstrengender.
Danke!

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Funktion(s)los
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Das Thema ist derart belastet, dass man offensichtlich die einfachsten Dinge, die direkt mit der Sache nichts, mit Logik aber viel zu tun haben, einfach beiseite schiebt. Der Titel hat das Verdienst, genau darauf hinzuweisen. Die Frage der Logik ist nämlich simpel:
Vergleichen kann man nur Verschiedenes. Identisches ist identisch und muss nicht verglichen werden. Historische Fakten sind (alleine schon wegen ihres zeitlichen Indexes) immer singulär. In diesem Sinne ist die Shoa einmalig wie Srebrenica oder jedes andere historische Ereignis. Es gibt aber viele Aspekte der Shoa, die sich auch anderswo wiederfinden lassen, z. B. der biologische Rassismus und es gibt den quasi industriellen Charakter der Morde, der wohl präzedenzlos ist. Betonungen der Einmaligkeit und umgekehrt relativierende Vergleiche muss und soll man genau auf ihre Motivation hin betrachten. Vergleiche implizieren aber immer Identität und Differenz. Bei einem derart komplexen Geschehen, wie es die Shoa ist, erst recht.

Das Argument der Einmaligkeit des Mordes an den Juden wurde z. B. auch lange dazu benutzt, den Mord an den Sinti und Roma in den gleichen Lagern zu relativieren. Wer das Buch von Szymon Laks "Musik in Auschwitz" liest, und sich die Art, wie 'sein' Orchester zu neuen Instrumenten kam, vergegenwärtigt, wird nicht den Eindruck haben, dass er das, was mit dem 'Zigeunerlager' geschah, als etwas substantiell anderes empfand, als das, was gleichzeitig den Juden widerfuhr. Im Übrigen ist der Ruf, derartiges dürfe sich nicht wiederholen, selbst schon Beleg dafür, dass wir die Shoa nicht für etwas prinzipiell Singuläres halten.

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Erstaunlich, die Kommentare.
Ich frage mich:
Wer hat ein Interesse daran, das Einzigartige des Holocausts zu negieren?
Dies im Namen der "Logik"...
Oder im Namen des "immer wieder Geschehenen".
Was steckt in Wahrheit hinter diesem Zurechtrücken-Bestrebens?

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Bin Ihnen sehr dankbar für diesen Beitrag. Stecke privat mitten drin im Reden wollen über Antismetismus, Israelkritik bis zur Negierung des Staates Israel, der Verurteilung Achille Membes, dessen historische Analysen zum Kolonialismus meinen äusserst naiven Blick darauf etwas aufgeklart haben usw usw.. Bin überfordert. Ein insgesamt gefährliches Gemisch, das im Alltag explosiv wird. Wer hat schon, wenn nicht Expertin, den geschichtlichen Horizont der "Judenfrage" im Blick? Seit 2000 Jahren bis zur neueren Geschichte. Wer kennt sich in der Kolonialgeschichte aus? Wer will sich schon darüber klar werden, dass er seit seiner Geburt hier in der CH auch mit antisemitischem und rassistischem Gedankengut aufgewachsen ist. Sich darin vielleicht genau so naiv bewegt hat, wie ich? Plötzlich habe ich zu fragen begonnen, wie ein Jude, eine Jüdin mit all diesen Be- und Verurteilungen und Zuschreibungen lebt. Schlimmer noch, sich dauernd konfrontiert sieht weltweit mit Menschen, die genau wissen, wie es so mit den Juden ist. (Was ist eine Jüdin, ein Jude überhaupt?) Genauso stelle ich mir Fragen, wenn ich an Bewohnerinnen und Bewohner eines afrikanischen Staates denke, mit ihrer Geschichte, die in den Nachrichten jeden Tag hören, wer in Europa Impfchampion ist. Die hierzulande abschätzend angeguckt werden, wenn sie farbiger gekleidet herum laufen, als in der CH gewohnt. Und erst, wenn sie wie business people herumlaufen, wie sie bei uns herumlaufen.
Bin gespannt, wie sich die Diskussion am Freitag beim Treffen entwicklet.

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Sehr tiefgründig und detailliert; allerdings etwas über meinem "Alltagsfassungsvermögen". Zudem frage ich mich, ob nicht die Richtung dieser Diskussion ("Vergleichbarkeit des Holocausts?") ablenkt von wichtigeren, gegenwartsrelevanteren Fragen: Wie es etwa zu den am Anfang des Textes erwähnten Anschlägen kommen konnte, wird durch solche Diskussionen nicht erhellt - eher davon abgelenkt. Und wo wir alle - persönlich - vom "Alltagsfaschismus" beeinflusst sind, scheint mir auch noch nicht hinreichend erforscht - oder die Resultate der Forschung noch nicht im Alltag von "Otto Normalverbraucher" angekommen zu sein.

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DPhil Politologie
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Das Durchhalten bei stellenweise schwerfälligem, wissenschaftlichen Stil lohn sich sehr! Sie haben für mich einen sensiblen Knoten aufgelöst. Herzlichen Dank.

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Secondo
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Danke für diesen aufwühlenden, sehr tief gehenden Artikel. Herr Heiser hat mir einige Aspekte zur Mechanik eines Genozids näher gebracht.
Zum Beispiel das Relativierungs-Tabu, das wohl kaum mit - entschuldigt den Zynismus - Stolz auf eine besondere Leistung zu erklären ist.

Die Diskrepanz zwischen dem was "gerecht" genannt wird und dem offenkundigen Verhalten derjenigen, die an die Macht sind, hat mich zeitlebens beschäftigt und immer wieder deprimiert.
Das rührt bei mir an existenzielle Fragen: wie die Menschen mit ihresgleichen umgehen und warum sie das tun. Und warum immer wieder offensichtlich narzisstisch gestörte Menschen an die Macht wollen und auch kommen. Verständnis - oder das was ich dann dafür halte - hilft mir, weiterzumachen.

Ich sehe - auch dank der Republik - immer deutlicher, wie schwierig und aufreibend das Regieren ist. Oder das Aufrechterhalten der Demokratie. Und auch wie wichtig es ist, dass letzteres mit aller Kraft vervolgt wird.

Eine Frage indes bleibt noch offen: ist es nicht so, dass auch schon die Römer und vor ihnen die Pharaonen Sklaven gehalten und ermordet haben? Hat die Menschheit nicht schon vor vielen Jahrtausenden damit angefangen, sich über die Umwelt zu erheben und damit diese gnadenlos auszubeuten?
Es liegt mir fern, die Grausamkeiten der Nazis oder den zerstörerischen Narzissmus von Hobbes und Locke (um beim Artikel zu bleiben) zu mindern, aber mir ist, dem Menschen sei seit der Sesshaftwerdung der Respekt für seinesgleichen und für seine Umwelt abhanden gekommen. Nicht erst seit der Renaissance.

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Michel Rebosura
Ratsmitglied Project R Genossenschaft
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Zum Neuen Historikerstreit:

  • Jürgen Habermas: «Der neue Historikerstreit» (Philosophie Magazin, 9.9.2021)

  • Maxim Biller: «Die neuen Relativierer» (Die Zeit, 1.9.2021)

  • Michael Rothberg: «Der neue Historikerstreit bedarf einer anderen Richtung» (Die Zeit, 24.7.2021)

  • Historikerstreit 2.0 über Shoah. Historiker Per Leo fordert globale Perspektive auf NS-Verbrechen (Deutschlandfunk, 11.7.2021)

  • Dirk Moses: «Der Katechismus der Deutschen» (Geschichte der Gegenwart, 23.5.2021)

  • Michael Rothberg: «Vergleiche vergleichen: Vom Historikerstreit zur Causa Mbembe» (Geschichte der Gegenwart, 23.9.2020)

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