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Simon Reber
Software Entwickler, Familienvater
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Das ganze Dilemma beginnt mit dem Begriff 'Eigenverantwortung'. Von rechtsliberaler Seite wurde dieser Begriff ins Zentrum der politischen und wirtschaftlichen Aktivitäten gedrängt um von der unerhörten, teils illegalen, persönlichen Bereicherung einer ganz bestimmten Bevölkerungsgruppe abzulenken und diese zu legitimieren.
Verantwortung kann ein Mensch zwar übernehmen, aber man kann sie niemandem aufzwingen. Das Resultat ist völlig unvorhersehbar. Einige werden sie tragen, andere werden sie delegieren und wieder andere werden daran zerbrechen. Der grösste Teil werden die Delegierer sein. Schön ist das zu sehen in Managerkreisen, welche ihre exorbitanten Löhne und Boni mit der hohen Verantwortung begründen die sie angeblich tragen. In Tat und Wahrheit jedoch verschanzen sie sich hinter Excel-Tabellen und Beraterfirmen welche ihre Entscheidungen als alternativlos belegen sollen. Von Eigenverantwortung keine Spur.
Genau der gleiche Vorgang spielt sich in der Justiz ab. Die Richter verstecken sich hinter den Gutachten von Experten und versuchen sich so aus der Schusslinie der bissigen Boulevardpresse und der Rechtspopulisten zu halten.
Aber auch auf Familienebene wird viel Verantwortung delegiert. Zwischen Ehepartnern, zwischen Eltern und Schule und selbst zwischen Eltern und Kindern wird die Verantwortung hin und her geschoben, bis sie jemand wahrnimmt oder jemand daran zerbricht.
Der Vorgang ist kaum aufzuhalten, solange wir daran festhalten, dass Fehler ein Tabu sind.
Wie alle Tabus ist die Null Fehler Erwartung extrem schädlich, weil sie komplett gegen die Natur des Lebens verstösst.
Nur durch Fehler kann man lernen wie es besser gemacht werden kann. Fehler können in vielen Varianten immer wieder gemacht werden, es gibt Leute die das Muster nicht erkennen können und jeden Fehler in jeder Variation machen müssen um daraus zu lernen.
Diese simple Logik ist uns abhanden gekommen. Die urkapitalistische Erwartung, dass sich jeder zum höchstmöglichen Preis vermarkten müsse bringt es mit sich, dass für den hohen geforderten Preis eben keine Fehler mehr erlaubt sind.
Wer die Natur genau beobachtet wird feststellen, dass dort nichts zum Maximalpreis angeboten wird. Überall sind Reserven und Toleranzen verbaut, so dass nicht jeder Fehler zu einer Katastrophe führt, sondern zu einem Lernvorgang.
Wir täten gut daran den Optimierungszwang des Konkurrenzdenkens zu durchbrechen und wieder mehr das Miteinander zu betonen, mehr Fehlertoleranz anzustreben statt Perfektion zu fordern.

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Die Analyse ist sicher richtig.
Dennoch bin ich nicht sicher, ob die Tendenz zum präventiven Wegsperren so allgemein besteht oder nicht doch auch wieder aus extremen Einzelfällen, über die vermehrt berichtet wird (sicher zu Recht).
Persönlich erlebe ich es nämlich sehr anders. Zum Beispiel im Fall einer Bekannten, die vor ziemlich genau einem Jahr von ihrem Exfreund fast totgeschlagen wurde (inkl. Würgen bis zur Ohnmacht). Der Täter hatte bereits ein laufendes Verfahren wegen Gewalt in einem anderen Fall. Das Einzige, was ihm passierte bis jetzt, war ein Verbot, sich meiner Bekannten zu nähern. Er ist seit einem Tag nach der Tat auf freiem Fuss.
Und natürlich kommt einem die Frage auf, ob der wirklich jemanden umbringen muss, bis etwas geschieht.
Ich weiss, dass man mit solchen Einzelfällen keine sinnvolle Diskussion führen kann und ich bin absolut gegen diese Wegsperrerei ohne Perspektive für die Täter.
Aber ich verstehe auch die Angst potenzieller Opfer.
Vermutlich gibt es dafür einfach keine Lösung, die beiden Seiten gerecht wird.

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Liebe Frau L., dazu ist mein subjektiver, ebenfalls nur auf Einzelfällen beruhender Eindruck, dass Gewalt in nahen Beziehungen tendenziell immer noch milder bewertet wird als gegenüber fremden Opfern. Ich lasse mich aber noch so gern eines Besseren belehren, wenn jemand dazu fundiertere Angaben machen kann.

Binswangers Überlegung, dass das zunehmende Gewicht des Präventionsgedankens im Strafrecht eine Kompensation sein könnte für andernorts zunehmende Unsicherheit finde ich einleuchtend (oder vielleicht besser: ein mit grosser Wahrscheinlichkeit misslingender Kompensationsversuch sein könnte)

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Liebe Frau J., das könnte tatsächlich so sein. Wäre vielleicht mal eine Recherche wert. Ich glaube, es würde der Diskussion sehr helfen, diese gefühlten Tendenzen mit Zahlen zu be- oder widerlegen.

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Ich denke nicht, dass es an der Beziehung/ bzw. Fremde liegt. Der Strassenverkehr ist das Gegenbeispiel. Da werden jedes Jahr 1000 Velofahrer und 1000 Fussgängr umgefahren bzw. verletzt. Und diese Fälle schaffen es kaum in die Medien, werden nicht diskutiert sondern als "Unfälle" abgetan. Und hier werden meistens Fremde geschädigt. Wenn eine Frau von einem Mann vergewaltigt wird, kommt das gross in den Zeitungen. Wenn dieselbe Frau auf dem Velo vom selben Mann umgefahren wird, nehmen wir das einfach so hin. Es wird nie hinterfragt was da eigentlich so grundsätzlich falsch läuft. Ich denke Gesellschaften sind nicht sehr rational, einige Dinge kann sie skandalieren, und sie werden ganz wichtig, und andere Dinge kann sie verharmlosen und ignorieren. Wie Modeerscheinungen.

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Simon Reber
Software Entwickler, Familienvater
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Unser Rechtssystem beruht grundsätzlich auf Abschreckung. Es ist klar, dass ein Mord aufwändig aufgeklärt wird und der Mörder am Ende für 15 oder 20 Jahre ins Gefängnis wandert. Wer hier jemanden vorsätzlich tötet, wird mit fast 100%iger Sicherheit verhaftet und verurteilt. Darum sind Morde hier eher selten. In Mexiko oder Brasilien, wo die Aufklärungsrate sehr tief ist, ist das nicht so.
Ganz anders sieht es mit Verstössen gegen die Verkehrsvorschriften aus. Hier ist der Fall gerade umgekehrt. Man kann mit fast 100%iger Sicherheit davon ausgehen, dass eine Geschwindigkeitsübertretung oder das Unterschreiten des Mindestabstands keinerlei Folgen hat. Das überfahren eines Rotlichts hingegen, führt recht häufig zu einem Unfall und viele Ampeln sind mit Kameras ausgerüstet.
Bei Gewaltdelikten in Beziehungen ist die Situation wohl so, dass es häufig für den Täter keine Folgen hat, weil das Opfer ihn gar nicht erst anklagt. Meine Beobachtungen im Bekanntenkreis, wo so etwas auch schon vorgekommen ist, haben mir gezeigt, dass selbst eine selbstbewusste Frau sich jahrelang von ihrem betrunkenen Mann verprügeln liess ohne rechtliche Gegenmassnahmen zu ergreifen. Erst als die Situation völlig ausser Kontrolle geriet und nicht mehr zu verstecken war, leitete sie die Konsequenzen ein. Es gab auch mir bekannte Fälle, wo das ganze Dorf von den gewalttätigen Übergriffen wusste, die Frauen aber jeden behördlichen Eingriff verhinderten weil sie Angst vor dem Leben nach der Trennung hatten. So wird die Dunkelziffer der häuslichen Gewalt extrem gross sein, Männer die Gewalt ausüben können sich recht sicher sein nicht dafür belangt zu werden. Um das zu ändern, müsste der Opferschutz massiv ausgebaut werden. Die materiellen Abhängigkeiten müssten vollständig abgebaut, Beziehungen mit solchen Vorfällen müssten längere Zeit begleitet werden. Aber auch Männer müssten vor falschen Anschuldigungen geschützt werden.
Das alles kostet natürlich viel Geld, darum wird darauf fast vollständig verzichtet. Aber es ist auch politisch gewollt, denn als eines der reichsten Länder der Erde hätten wir die Ressourcen um so etwas zu machen.
Und wie auch bei der Kindererziehung hätte die Konsequenz auch für die Täter eine stabilisierende Wirkung. Es sollte genau so klar sein, dass man jemanden nicht schlagen darf, wie es klar ist, dass man jemanden nicht töten, oder bei rot über die Kreuzung fahren darf. Diese Konsequenz fehlt in unserer und fast allen anderen Gesellschaften auf dieser Welt.

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Ja, Herr Reber, vielleicht ist Ihnen entgangen: sowohl Frau L. wie ich reden von Gewaltdelikten und dem Umgang damit, nachdem sie angezeigt wurden. Dass die Dunkelziffer gerade hier enorm hoch ist und vieles (das meiste?) aus den erwähnten, aber auch aus anderen Gründen gar nicht erst zur Anzeige kommt, ist bekannt.

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Ich sehe das genauso.

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D. Binswanger analysiert die schauerliche Entwicklung unseres Rechtssystem haargenau und beängstigend klar. Mit seiner umsichtigen Recherche malt er keinen Teufel an die Wand, sondern zeigt unmissverständlich, dass diese justiziare Fehlentwicklung, manipuliert durch Presse und laute Politiker, früher oder später jeden Straftäter, was immer er, oder sie auch getan haben mag, für immer und ewig verschwinden lassen kann. Irgendwie kommt mir das bekannt vor. Muss Geschichte sich wirklich stetig wiederholen?

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Pensionierte Sozialarbeiterin
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Die Risikoangst schlägt immer wieder den Rechtsstaat, wenn medial ein Fall so hochgespielt wird, wie im Fall von „Carlos- Mike-B.K“ oder wie auch immer der Name lautet. Alle versuchen sich dann auf Grund der Schlagzeilen ihre Meinung zu bilden und stellen sich das Beschriebene in ihrem persönlich Umfeld vor. Wer möchte da nicht vor einem im Umfelde dieser Schlag-Zeilen entstehenden Risiko geschützt werden? Verständlich! Und mit der Zeit wollen wir uns präventiv davor schützen, um die Angst nicht mehr fühlen zu müssen. Wir delegieren es an andere Instanzen an den Rechtsstaat und hoffen wieder in Ruhe gelassen zu werden.
Ich frage mich allerdings auch, welches Risiko wird mit solcher Risikobekämpfung erst geschaffen. Und ich frage mich auch, was wäre aus mir geworden, wenn ich über Jahre in einem Regime, wie der junge Mann hätte gross werden müssen. Ich kann seine ungebremste Wut verstehen und ich bin mir sicher, dass er nicht ungeschützt in die sogenannte Freiheit entlassen werden kann. Er wird nicht frei sein können, weder drinnen noch draussen. Ich wünsche ihm, dass er sich, in geschütztem Raum frei von medialer Öffentlichkeit, von seinen eigenen Mauern befreien kann. Und manchmal denke ich, dass sich die „Schlag-Zeilen-Medien“ an den Kosten seiner „Genesung“ beteiligen müssten, die aus ihren Schlag-Zeilen profitierten. Wir, die wir ihren wertenden Schlagzeilen auf den Leim krochen, müssen es so oder so als Steuerzahler*innen.
Ich wünsche diesem jungen Mann alles Gute! Und uns wünsche ich für ein nächstes Mal mehr Besonnenheit.

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Man lese dazu "Minority Report" von Philip K. Dick.

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Michel Foucault ist sicherlich der Soziologe/Philosoph, der die Prozesse der Kontrolle und Strafe exemplarisch erfasst hat. Unsere Staatsanwaltschaften, unsere Polizeibehörden, unsere Richterkasten, unsere Justizvollzugsorgane selbst müssen einer radikalen Kontrolle und Überwachung unterzogen und in die Schranken gewiesen werden. Sie benehmen sich, befeuert von einer Rechtsaussenpartei mit kruden Sicherheitsvorstellungen, deren Durchsetzung immer nur kontraproduktiver Natur ist, als Staat im Staat, als ein sich selbst perpetuierendes System, mit Gewaltausübung und pseudolegaler Entrechtung Einzelner, einer Anorderung, die letztlich lediglich darauf angelegt ist, Menschen in ihrem System gefangen zu halten und sowohl Schuldige wie Unschuldige als Objekte ihrer kleinbürgerlichen Allmachtsfantasien zu missbrauchen.
Augenwischerei und gleichzeitig unreflektierte Andienung an eine neue Adelsklasse im Kontext des spätkapitalistischen Absolutismus; Binswangers Analyse ist brilliant.

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Danke. Erstaunlicherweise sind die Abläufe und Entscheidungen im heiklen Feld des Sanktionenvollzugs unglaublich wenig kontrolliert und mit grandiosen kantonalen Qualitätsunterschieden versehen. Ist mein Eindruck an der Front

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Unsere Staatsanwaltschaften, unsere Polizeibehörden, unsere Richterkasten, unsere Justizvollzugsorgane selbst müssen einer radikalen Kontrolle und Überwachung unterzogen und in die Schranken gewiesen werden.

Gut gebrüllt und nur kurz gefragt: von wem?

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Wir können Menschenschicksale als Unterhaltungsquelle missbrauchen, wie es beim Boulevard üblich ist, oder wir können aus diesen Schicksalen lernen, was anders sein sollte, damit Menschen nicht mehr sinnlos in Kontrollmaschinerien und Strafsystemen eingeschlossen bleiben. Soweit dürfen wir durchaus denken, in diesem Medium, auch ohne zu brüllen, ganz leise nachgedacht und völlig ohne vorgefasste Rezepte.
Ihre Frage ist allerdings gut gestellt: Sie ist aber je nach Organ anders zu beantworten.

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Frau C., Ihr Rundumschlag inkl. Ihre m.E. absurde Behauptung, das Justizsystem in der Schweiz sei ein [staat im staat] (https://de.wikipedia.org/wiki/Staat…C3%A4ndern), ist für eine differenzierte Diskussion hier eher hinderlich. Taktisch geschickt loben Sie im letzten Satz D. Binswanger und implizieren, dass Ihrer beiden Ansichten zum Thema gleich seien: und hops haben Sie selbst Ihrem Kommentar ein Gütesiegel (brilliante Analyse) verpasst.

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Ich weiss nicht, wie Sie darauf kommen, dass meine Ansicht zum Thema mit der von Binswanger übereinstimme. Ich habe, ausgehend von seiner Kolumne und einigen sorgfältig recherchierten Artikeln in der Republik, eine eigene These aufgestellt. Ich habe dabei weder einen Rundumschlag gemacht, noch gebrüllt. Ich habe auch nicht impliziert oder behauptet, dass mein Kommentar brilliant sei. Aber wenn Sie das so lesen wollen, bestätige ich es Ihnen doch gerne. Mein Kommentar gehört in der Tat zum Feinsten, was in der Republik je publiziert worden ist.

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"Frappierend ist, dass ausgerechnet in den 1990er- und in den Nuller­jahren, in einer Phase des Start-up-Kultes, der allgegenwärtigen Valorisierung von Risiko­bereitschaft und des permanenten Lobpreisens der Eigen­verantwortung, im Bereich des Straf­rechts eine Vollkasko­mentalität voranschritt."
Der Vergleich hinkt: Die Eigenverantwortung greift nur bei Handlungen, das heisst auf Aktionen, auf die man selbst Einfluss hat. Zum Opfer wird man aber weitgehend ohne eigenes Zutun. Oder würden Sie sagen, die Opfer seien zum Teil selbst schuld?

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Kann es sein dass extrem hohe Mobilität über viele Kulturen hinweg und auch innerhalb der Länder ganz neue Anforderungen an Straf- und Sicherheitsbehörden stellt? Als man vorwiegend lokal wohnte hat man sich gegenseitig kulturell überwacht. Das ist in modernen Grossstädten schlicht nicht mehr realistisch.

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Herr B., viele Menschen, die in einer dörflichen Struktur aufgewachsen sind, ziehen in die Städte, auch um der allgegenwärtigen sozialen Kontrolle zu entkommen und sich freier und in diesem Sinne anonymer bewegen und selbstbestimmter leben zu können. (PS: Auch wenn Sie hier mal ausnahmsweise das von Ihnen oft gelobte totale staatliche Überwachen in China als Lösung nicht explizit erwähnen, in Kenntnis Ihrer gesammelten Kommentare kann davon ausgegangen werden, dass Sie dieses meinen.
Nein, danke.)

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Natürlich findet Ladendiebstahl wahrscheinlich öfter in grossen Kaufhäusern statt als im Tante-Emma-Laden, aber ich denke, man sollte die stärkere soziale Kontrolle in kleinräumigen Verhältnissen nicht überbewerten. Vielleicht sind die Straftaten hier einfach auch andere, weniger augenfällige?

Wozu die hohe Mobilität, die Globalisierung und Effiziensteigerung von uns fordern, aber sicher beiträgt, ist Entwurzelung und Verunsicherung, die dann irgendwo kompensiert werden will. Dazu bietet sich u.a. das Strafrecht an. Mit dem angenehmen Nebeneffekt, dass die Bösen immer die andern sind, über die wir dann genüsslich in der Zeitung lesen können. (Zumindest, solange wir uns nicht selber in den Netzen des Strafrechts verfangen. Dann werden in der Regel die Justizorgane zu den Bösen.)
Für mich geht aber auch der immer auffälligere Körper- und Ernährungskult in die gleiche Richtung: in einer zunehmend unkontrollierbar erlebten Welt wollen wir wenigstens irgendwo noch die Kontrolle behalten, und sei dieses 'Irgendwo' auch nur der eigene Körper.
Hier wie dort geht es m.M.n. um eine Illusion von Sicherheit. Um die aufrechtzuerhalten, machen wir ganz viel kaputt. Man kann ein Problem nicht an einem Ort lösen, wo es nicht liegt. Das erinnert an den Mann, der den Schlüssel, den er anderswo verloren hat, unter der Strassenlampe sucht. Weil es dort hell ist.

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Man lese: Michel Foucault, Überwachen und Strafen

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Michel Rebosura
Ratsmitglied Project R Genossenschaft
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Interessant dazu auch: Geoffroy de Lagasneries [*verurteilen - der strafende staat und die soziologie*] (2017).

Im Herzen des liberalen Rechtsstaats und seiner Idee der Gerechtigkeit entdeckt de Lagasnerie ein Paradox: Um jemanden verurteilen zu können, muss eine individualistische Erklärung der Tat und ihrer Ursachen kreiert werden; aber zugleich wird jede Straftat als Aggression gegen die »Gesellschaft« und den »Staat« aufgefasst.

Damit folgt er Foucaults Spuren, der das Verhältnis des Staates zu Bevölkserungsmitgliedern als Bio-Politik bestimmt und diese entsprechend sub-jektiviert.

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Ich erlebte kürzlich einen tragischen (Justiz-)Fall in meinem Verwandtenkreis. Schlimmer hätte er nicht enden können. Der Kommentar von Daniel Binswanger hilft mir, noch etwas besser zu verstehen, was da mit welchem juristischen und gesellschaftlichen Hintergrund geschehen ist. Meine spontane Einschätzung aus persönlicher Erfahrung ist, dass Binswanger einige Nägel haargenau auf den Kopf trifft.

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Informatik-Ingenieur und Ökonom
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Das Risikodenken prägt nicht nur zunehmend das Strafrecht, sondern auch viele andere Rechtsbereiche von Strassenverkehr über Terrorismusbekämpfung bis zum Finanzmarkt. Besonders dysfunktional scheint mir das amerikanische Rechtssystem zu sein. Man denke beispielsweise an das Vorgehen gegen die Schweizer Banken vor einigen Jahren. Unter amerikanischem Recht hätte bereits eine Klageerhebung gegen eine Bank zu einer sofortigen Ausschluss derselben aus dem Dollar-Clearing geführt und damit deren Ende bedeutet. Man kann von den Schweizer Banken halten, was man will, aber ein Rechtssystem, bei dem die Todesstrafe am Anfang des Prozesses steht, und nicht am Ende, ist kaputt. Leider gibt es bei uns auch Tendenzen in diese Richtung. So hat beispielsweise die NZZ diese Woche einen Fall aufgedeckt, wo ein Bankangestellter seinen Job verloren hatte, bevor er überhaupt Gelegenheit hatte, seine Unschuld zu beweisen.
(https://www.nzz.ch/schweiz/justizir…ktcid=smsh)

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Um genau zu sein: fristlos freigestellt nach einem Herzinfarkt hat den Bankangestellten sein Arbeitgeber, mit unbekannter Begründung; und nicht das Rechtssystem.
Was die Einstelltage beim Arbeitslosengeld betrifft: neben dem Sicherheitsanspruch prägt auch der Spardruck unser System, der sämtliche sozialen Auffangmassnahmen aufs Korn nimmt.

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Verurteilt per Strafbefehl wurde er von der Bundesanwaltschaft. Die Bank hat ihn anschliessend entlassen.

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Scharfsinnige Analyse von Binswanger.

Einige Bemerkungen:

Stationäre Massnahmen und Verwahrungen betreffen nur ganz wenige Straffälle. Für den Grossteil der Straftäter sind die Strafen in den letzten 50 Jahren wesentlich milder und weniger stigmatisierend geworden. Deshalb kann ich auch die von einigen LeserInnen vertretenen Theorien von Foucault, dass der Rechtsstab an den Straftätern kleinbürgerliche Allmachtsphantasien ausleben, - im Grunde genommen nur die alte marxistische Leier vom Recht als Überbau der bürgerlichen Gesellschaft - nicht teilen. Die betroffenen Täter stehen so weit ausserhalb der bürgerlichen Realität, dass sie sich als exemplarische Unterdrückungsobjekte wenig eignen. Ich denke mir eher, dass es "das Volk" ist (Verwahrungsinitiative), das Druck auf Richter und Psychiater ausübt. Ich habe den Begriff bewusst in Anführungszeichen gesetzt, weil das Volk natürlich über seine populistischen Vertreter handelt. Iimmerhin dürften deren Bemühungen, Sicherheit zum dominanten Thema zu machen, in vielen Menschen eine Saite anschlagen.

Die heutige Entwicklung muss historisch eingeordnet werden. In den 60-er und 70-er Jahren war das Strafrecht rechtssoziologisch geprägt. Social Engineering oder Rehabilitation war die Parole, der Sühnegedanken im Hintergrund. Typischer Ausdruck der damaligen Zeit war die ambulante Massnahme (meist eine Psychotherapie) mit Strafaufschub, wobei nach Abschluss der Massnahme meist auf die Strafe verzichtet wurde, wiel man diese für desozialisierend hielt. Strafen über 8 - 10 Jhren hielt man ohnehin für kontraproduktiv.

Ab den 80-er-Jahren schlug das Pendel in die andere Richtung aus. Die Medien befassten sich intensiv mit missglückten Resozialisierungen (Fall Hauert) und der Sühnegedanke, den man für tot gehalten hatte, trat wieder in den Vordergrund. Typisch waren und sind die Klagen, die Justiz widme sich zu viel dem Täter und zu wenig dem Opfer, was aus hier nicht zu erläuternden Gründen ziemlicher Unsinn ist. Ich denke, dass der Sühnegedanke ("so einer verdient es nicht mehr in die Freiheit zu kommen und dem Opfer ist es nicht zuzumuten, ihn in Freiheit zu sehen") neben der Risikoaversion ein Grund für die jetzige Entwicklung ist.

Wo Binswanger voll und ganz Recht hat, ist, dass der Grundsatz "in dubio", der gilt, wenn ein Richter die empirischen Beweise für eine in der Vergangenheit begangene Tat würdigt (was eine juristische Kernaufgabe ist) bei forensischen Gutachten, die eine Prognose über die zukünftige Gefährlichkeit des Täters enthalten, nicht spielen kann. Der Grundsatz besagt ja, dass keine vernünftigen Zweifel an der Tat bestehen dürfen. Ein solcher Ausschluss vernünftiger Zweifel ist für die Zukunft nicht möglich. Der Richter kann also ein forensisch-psychiatrisches Gutachten nicht nach der strafprozessualen Unschuldsmaximen beurteile, er kann es eigentlich überhaupt nicht beurteilen (auch wenn die Urteilsbegründungen dies pro forma tun), sondern muss es übernehmen. Damit geht die Entscheidungsgewalt an die Psychiater über, die sich im heutigen Umfeld in der Regel hüten werden, in Zweifelsfällen eine positive Prognose zu stellen, weil dies auf sie zurückfallen würde, wenn der Betroffene rückfällig würde. Der berühmte Urbanioksche Fragenkatalog mag relativ treffsicher sein, er muss aber Fehlprognosen in Kauf nehmen und damit eben auch in Zweifelsfällen dem Betoffenen die Freiheit nehmen.

Nur, man muss vorsichtig sein. In der heutigen Zeit, wo so viele Menschen den Resozialisierungsgedanken ablehnen und "Gerechtigkeit" (vide Sühne) wollen, würde eine Abschaffung oder zetiliche Begrenzung der Verwahrung unter Umständen gar nicht so viel ändern. Anzunehmen ist, dass dann viel längere Strafen ausgesprochen würden und namentlich bei Tötungsdelikten mehr lebenslängliche Freiheitsstrafen (ohne bedingte Entlassung) zu erwarten wären. Dann wären wir wieder zum handfesten juristischen Handwerk zurückgekehrt und brauchten die forensischen Psychiater nicht mehr (dies ist im amerikanischen Modell weitgehend der Fall). Das Problem der Prognose würde sich dann erst nach 15 Jahren (bzw. bei temporären Strafen nach 2/3 der Strafdauer) stellen.

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Danke für Ihre sorgfältige, 'historische' Beschreibung der CH-Rechtsentwicklung. Ich sehe ganz vieles ganz anders als Sie, aber ich schätze Ihre Beiträge sehr.
Inhaltlich möchte ich anfügen:
Psychiatrische Gutachten spielen in Strafverfahren eine wichtige Rolle, sei es bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit oder bei Prognosen.
Darf die Verteidigung am Explorationsgespräch mit der beschuldigten Person teilnehmen? Die bundesgerichtliche Antwort lautet: Nein. Grundsätzlich sollen bei psychiatrischen Begutachtungen von Beschuldigten deren Anwältinnen und Anwälte nicht anwesend sein.
Unter den bestehenden verfahrensrechtlichen Bedingungen ist kein faires Verfahren im Sinne der EMRK gewährleistet. Überprüfbarkeit des Sachverständigenbeweises sowie die Wahrung der Rechte der beschuldigten Person erfordern eine audiovisuelle Aufzeichnung des Explorationsgesprächs sowie ein Teilnahmerecht der Verteidigung.
Die EMRK ist kein marxistisches Konzept.
Traurig aber bezeichnend, dass die Schweizer Gerichte wiederholt vom Europäischen Gerichtshof zurückgepfiffen werden müssen.

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Ein Faktor für die Bewertung der Verwahrung wird im Artikel nicht erwähnt: die Kosten für den langen Aufenthalt. Wenn man diese mit in die Waagschale werfen würde, dann ist das sparwütige Volk vermutlich plötzlich nicht mehr so begeistert vom ewigen Wegsperren. Allerdings werden dann vermutlich auch bald Rufe nach Billigkerkern oder der Todesstrafe laut.

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Auch in anderen Bereichen ist man risikobewusster geworden. Helme beim Ski- und Velofahren, Sicherheits-Features in den Autos, Anlegerschutz an den Finanzmärkten, usw. In vielen Fällen sicher sinnvoll, in anderen könnte man durchaus mehr der Eigenverantwortung des einzelnen überlassen. Eigenverantwortung hilft aber nicht weiter bei der Frage, wie viel Risiko und Gefahr von potentiell rückfälligen Straftätern akzeptabel ist. Und hier ist die Risikobereitschaft der Öffentlichkeit in den letzten Jahren sicher gesunken.

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Scharfes Denken! Danke.

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