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Interessierte Durchschnittsbürgerin
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Ihr - interessanter und lesenswerter - Artikel entspricht genau einer der von Ihnen beschriebenen mathematischen Gleichung und vermag kühl zu erklären, was geschehen ist und warum. Ich frage mich einfach, wie viele unzählige Geschichten sich die Welt erzählt hat in den letzten Dekaden, um zu rechtfertigen, dass Putin sich so viel Macht sichern konnte. Und all die anderen Despoten und Narzissten dieser Welt, die nicht alle Diktatoren heissen, sondern auch CEOs et al. Wo setzt man den Hebel an, um solches Treiben zu regulieren? Ich lese zurzeit David Graeber und David Wengrows "Anfänge"... diesen Fragen geht das Buch auf die Spurensuche. Ob ich fündig werde?
https://www.perlentaucher.de/buch/d…aenge.html

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Verlegerin
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Danke für diesen Satz
„ …all die anderen Despoten und Narzissten dieser Welt, die nicht alle Diktatoren heissen, sondern auch CEOs et al.“

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Die Davids verraten nicht wirklich, wo ihrer Meinung nach der Hebel anzusetzen ist.
Ich habe das Buch als Versuch gelesen, einerseits die Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte in Archäologie und Anthropologie zusammenzufassen und andererseits zu umreissen, was daraus folgen sollte/könnte. Sie zeigen damit wunderbar, dass unterschiedlichste Gesellschaftsformen machbar sind - Menschen als Wesen, die in der Lage sind mit dem Zusammenleben bewusst zu experimentieren. Gewissermassen ein Kampf den Ideologien die Alternativlosigkeit und Unveränderbarkeit suggerieren...
Dicke Leseempfehlung.

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Interessierte Durchschnittsbürgerin
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Ja, dass keine Antwort(en) für Hebel zur erwarten sind, habe ich mir schon gedacht. Aber was eben spannend ist, ist der Gedanke, dass unsere Schubladen zu einfach gedacht sind. Sogar die Davids fallen rein, was keine Kritik ist sondern aufzeigt, wie wir fast ausschliesslich basierend auf der Vergangenheit leben und das Sortieren bestandteil davon ist: Weil man so eben Alles mathematisch/wissenschaftlich einordnen kann/darf/muss. Aber dass Putins Handlungen (und eben allen anderen dieser Welt) mit mathematischen Gleichungen hinterhergerannt wird, ist nicht wirklich zielführend. Erklärungen sind schon wichtig. Aber Ziele, wie wir es anders wollen, sind wichtiger. Man könnte zum Beispiel damit anfangen, das Wort Utopie zu entstauben und von ihren müden Vorurteilen zu befreien. Es macht mich ganz krank, wenn ich mich daran erinnere, wie ich 2012 schon meinte, ich wolle mit einer Gasheizung nicht von Putin abhängig sein, dem sei nicht zu vertrauen. Nütz nix, wenn ich die Vision nicht durchsetze und die Gasheizung installiert ist. Zweiter Hebel: nie den bequemeren Weg nehmen.

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Sir Arthur Ponsonby war anfangs des 20. Jahrhundert britischer Diplomat.
In seinem 1928 erschienenen Buch "Lügen in Kriegszeiten" lieferte er einen Entwurf für Kriegspropaganda, der sich folgendermassen zusammenfassen lässt:

 1.  Wir wollen keinen Krieg.
 2.  Die Gegenseite ist allein schuldig am Krieg.
 3.  Der Feind ist von Natur aus böse und gleicht dem Teufel.
 4.  Wir verteidigen eine edle Sache, nicht unsere eigenen Interessen.
 5.  Der Feind begeht absichtlich Gräueltaten; unsere Missgeschicke sind
unfreiwillig.
 6.  Der Feind benutzt verbotene Waffen.
 7.  Wir erleiden kleine Verluste, die des Feindes sind enorm.
 8.  Anerkannte Künstler und Intellektuelle stehen hinter unserer Sache.
 9.  Unsere Sache ist heilig.
10. Alle, die unsere Propaganda anzweifeln, sind Verräter.

aus der Einleitung:

"Die Lüge ist eine anerkannte und ausserordentlich nützliche Kriegswaffe, und jedes Land gebraucht sie mit voller Überlegung, um das eigene Volk zu täuschen, Neutrale für sich zu gewinnen und den Feind irrezuführen. Die unwissenden und unschuldigen Massen in jedem Lande bemerken nicht, daß sie irregeführt werden, und wenn alles vorüber ist, werden nur hier und dort Lügen entdeckt und blossgestellt....
Eine kurze Überlegung würde jedem vernünftigen Menschen sagen, daß eine solch offensichtliche Einseitigkeit unmöglich die Wahrheit darstellen kann. Aber diese kurze Überlegung wird nicht gestattet. Mit der größten Geschwindigkeit werden Lügen in Umlauf gesetzt. Die gedankenlose Masse macht sie sich zu eigen, und durch ihre Erregung beeinflußt sie die übrigen. Die Fülle von Unsinn und Schwindel, die in Kriegszeiten in allen Ländern unter dem Namen von Vaterlandsliebe kursiert, treibt anständigen Leuten, wenn sie in der Folge von dem Wahne befreit sind, die Schamröte ins Gesicht...
In den Jahren von 1914 bis 1918 muss auf der Welt mehr planmässig gelogen worden sein als je zu einem anderen Zeitabschnitt der Weltgeschichte."

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Michel Rebosura
Ratsmitglied Project R Genossenschaft
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Zum Nationalismus als die Ideologie für das kollektive wie individuelle kohärente Selbstbild und die daraus entspringende Selbst­achtung sowie Verachtung der Anderen kommt mir Bertold Brechts «Vaterlandsliebe, der Haß gegen Vaterländer» in den Sinn:

Herr K. hielt es nicht für nötig, in einem bestimmten Land zu leben. Er sagte: «Ich kann überall hungern.»
Eines Tages aber ging er durch eine Stadt, die vom Feind des Landes besetzt war, in dem er lebte. Da kam ihm entgegen ein Offizier dieses Feindes und zwang ihn, vom Bürgersteig herunter zu gehen. Herr K. ging herunter und nahm an sich wahr, daß er gegen diesen Mann empört war; und zwar nicht nur gegen diesen Mann, sondern besonders gegen das Land, dem der Mann angehörte; also daß er wünschte, es möchte vom Erdboden vertilgt werden.
«Wodurch», fragte Herr K., «bin ich für diese Minute ein Nationalist geworden? Dadurch, daß ich einem Nationalisten begegnete. Aber darum muß man die Dummheit ja ausrotten; weil sie dumm macht, die ihr begegnen.»

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Es gibt noch einen Grund für Lawrows Lügen: So funktionieren diktatorische Organisationen.

  1. Der Diktator hat Angst vor einem Putsch. Er fragt sich: Welchen Mitarbeitern kann ich trauen?

  2. Wie können seine Mitarbeiter ihre Loyalität beweisen? Durch das Wiederholen von Lügen des Diktators.

  3. Haben alle Mitarbeiter diesen Loyalitätstest bestanden? Dann müssen sie noch offensichtlichere Lügen wiederholen („Wir führen keinen Krieg, aber wir befreien das Nachbarland von drogensüchtigen Neonazis“).

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Leserin
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Vielen Dank Hr. Strassberg!
So wahr!

Mythen, Märchen, Religionen, Ideologien als ein System von Weltanschauungen, Grundeinstellungen und Wertungen sind zunächst einmal kultur- und gesellschaftsbildend. Sie können den Vielen eine gemeinsam geteilte Identifikations- und Reflexionsmöglichkeit vermitteln, wie auch Massen manipulieren und gleichschalten (vgl. auch Y. Hararis „Eine kleine Geschichte der Menschheit“).
Es gilt also hilfreiche Narrative von toxischen zu unterscheiden.

Meine Frage wäre dann: Woran erkenne ich, dass eine Ideologie toxisch ist/ins Toxische kippt?

(Edit) Erfolg oder Misserfolg sind es nicht. Trotzdem mobilisieren sie die Vielen, die sich identifizieren, anpassen, mitlaufen, sich einordnen, profitieren etc. Das Argument lebt von der Fähigkeit der „mündigen“ Bürger*innen von „ihrer Vernunft Gebrauch zu machen“: da gibt es (urmenschliche) Vorschläge wie die „Goldene Regel“ oder (aufklärerische) wie „Kants kategorische Imperative“, (humanitäre) die Menschenrechte…
Wie wird man aber mündig?
Wie bildet Mensch eine „gesunde“ (nicht toxische) Urteilskraft heraus?

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Daniel Strassberg
Kolumnist@Republik
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Danke für die Vorlage: Ich finde jede Ideologie toxisch. Dazu mehr nächstes oder übernächstes Mal

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Michel Rebosura
Ratsmitglied Project R Genossenschaft
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In der Tat, wenn die (funktionalistische) Definition des Begriffs «Ideologie» ist:

  • Vorstellungen werden verdrängt, wenn sie mit der Selbst­achtung nicht vereinbar sind.

  • Was nicht in die Geschichte passt, die ich mir und anderen erzähle, wird verdrängt.

  • Sie schafft eine Erzählung, in die selbst diese verpönten Teile passen.

  • Sie offerieren einen plausiblen Kontext, eine stimmige Erzählung für im Grunde inakzeptable Handlungen, oder anders gesagt: für Handlungen, die in jedem anderen Kontext völlig inakzeptabel wären.

  • Wer in jeder anderen Erzählung nur Massen­mörder genannt werden kann, ist nun plötzlich der Retter der Welt.

  • Solange Geschichten Sinn und Zusammen­hang vermitteln, spielen Argumente keine Rolle. Das Gefühl der inneren Kohärenz ist für die menschliche Psyche derart zentral, dass sie bereit ist, dafür jeglichen kritischen Sinn preiszugeben.

Dann ist tatsächlich jede Ideologie quasi per definitionem «toxisch» bzw. «(alltags-)psychopathologisch».

«Nicht-toxisch» bzw. «gesund» wäre dann nicht mehr «Ideologie» zu nennen, sondern ex negativo eine «therapeutische» Selbst-Erzählung, also ein unendliches Selbst-Gespräch, das das Unterdrückte aufdeckt, bewusst macht und durcharbeitet, so dass eine Geschichte erzählt wird, welche die «disparaten, unintegrierbaren Teile der eigenen Geschichte» nicht verdrängend «integriert», sondern als solche «integriert» – denn «Fremde sind wir uns selbst».

Damit einher ginge auch eine veränderte Form der Selbst­achtung, welche weniger von Stolz und Eitelkeit dominiert wäre, sondern mehr von Demut, Kritik- und Lernfähigkeit, welche die Vulnerabilität und Fragilität aller anerkennt, so dass – so die Hoffnung – man gegen sich selbst und gegen andere keine psychische und physische Gewalt mehr anwenden würde.

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Bisher war ich der Ansicht, eine Ideologie sei ein grundsätzlich offenes Gedankengebäude, das meistens von Einzelnen entwickelt wurde. Toxisch wird sie erst, wenn gläubige Anhänger des „Meisters“ - meistens erst nach seinem Tod - daraus eine Religion machen. Dann ist es vorbei mit der Offenheit, und aus den Präferenzen des Meisters werden Wahrheiten, Dogmen und ein Regelwerk, das der Ausgrenzung dient.

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Leserin
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Freue mich! Danke!

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Das erklärt auch wieso die Erzählungen der Rechten weder Sinn ergeben noch inhärent konsistente sein müssen.
(Und wieso man mit Fakten nicht weit kommt)
Wieso Ausländer gleichzeitig faul sein sollen und "uns unsere Jobs wegnehmen", oder wie in Umberto Ecos Ur-Faschismus - der Gegner gleichzeitig zu stark und zu schwach ist.

Eine Lektion ist, dass man Gegennarrative braucht.
Eine andere ist, die eigenen Geschichten die man so glaubt mal kritisch beäugt werden könnten. (Z.B. "Frauen sind biologisch eher Familieninteressiert" oder "Menschen sind im Grunde egoistisch")

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Danke für diese Erklärung. Ich fühle mich erinnert an mein ungläubiges Entsetzen im Miterleben der Geschichten, welche D.T. verbreitete und noch verbreitet.

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Gelogen wird überall, aber dass man Lügen von solch einer Tragweite verbreiten kann und - jetzt kommt's - im Bewusstsein, dass die ganze Welt weiss, dass ich Mist erzähle. Wir erinnern uns an Lukaschenko, der vor die Presse getreten ist und gesagt hat, er habe die Wahlen mit 82% gewonnen. Eine Spur weniger doof wäre gewesen er hätte 58% gesagt. Dass solche Leute weder ein Gewissen noch irgend ein Verantwortungsbewusstsein haben ist klar. Aber eine Spur von Selbstachtung müsste doch noch vorhanden sein - aber vermutlich auch nicht.

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Nein, genau in dem genannten Beispiel Lukaschenkos hätten es eben nicht 58% sein können. Denn das hätte ja bedeutet, dass 42% gegen den Herrscher gestimmt hätten. Was wiederum nicht in Lukaschenkos eigene Geschichte gepasst hätte, mit der er seinen Machterhalt legitimiert. Denn es hätte ja besagt, dass ihn eine grosse Minderheit seiner Untertanen los werden wollte. Da hätte es dann wieder nur zwei Wege gegeben (mal abgesehen von einem Rücktritt als Folge der Wahrheit): Entweder man bemüht sich darum, die 42% zu überzeugen - was aber nicht mit "das Volk liebt mich so wie ich bin und will mich" zusammenpasst. Oder man bemüht sich offensichtlich (und öffentlich), die 42% endgültig los zu werden. Was aber auch mit der Sage der grossen Beliebtheit kollidiert. Die 82% dagegen passen in die eigene Erzählung: Die grosse Mehrheit will den Chef behalten, die relativ schwache Gruppe der blöden GegnerInnen kann man deshalb hart angehen - denn die grosse Mehrheit liebt ja ihren Führer, den diese "Blödmänner" bekämpfen. Verantwortungsbewusstsein besteht bei solchen Figuren nur gegenüber sich selbst.

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Verlegerin
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Der Mann hat ein Ziel, sagt und macht was er für nötig hält.
Erschreckend!

Dieser Artikel aus der „Zeit“ passt gut dazu:
https://epaper.zeit.de/article/3273…8cdce9782c

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Danke für den Link. Gräuslich.

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Слава Україні!
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Vielleicht noch eine Ergänzung:
jeder Krieg bietet die Chance, Geschichte umzuschreiben.
Und diese Möglichkeit wird ausgebiebigst genutzt. Und nur allzugerne geglaubt - so lange es der Partei zugeschrieben wird, der man glauben will.

Nicht umsonst wird permanent darauf hingewiesen, dass in Kriegen die Wahrheit zuerst stirbt. Aber wir wollen immer nur glauben, dass dies nur für die andere Seite gilt. Nie für unsere eigene...

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jeder Krieg bietet die Chance, Geschichte umzuschreiben. Und von Verlierern wieder zu Gewinnern zu werden. Was der Selbstachtung förderlich wäre, um Strassbergs Gedanken aufzugreifen.

Historiker sind ohnehin eher Spurenleser und selbst Geschichtenerzähler als exakte Wissenschaftler. Weil Gesellschaften so komplex sind, dass keiner sagen kann, wie Geschichte verlaufen wäre, wenn ein Land oder Staatsmann anders abgebogen wäre. Historiker streiten sich dann über Fährten, von denen oft unklar ist, ob sie echte oder gelegte sind: War es Stalins Plan, die sowjetische Armee zu enthaupten? Hat er sie enthauptet, weil deutsche Geheimdienste es über den tschechoslowakischen Präsidenten Benesch geschafft haben, das Gerücht eines Putsches zu verbreiten? Siehe diesen Beitrag des Instituts für Zeitgeschichte München aus dem Jahre 1996.

Die Geschichte wird von den Siegern geschrieben wird, heißt es oft. Das mag sein, aber die Verlierer erzählen dann trotzdem ihre eigenen Narrative. Deutschlands Geschichte nach dem 1. Weltkrieg wurde wesentlich von den Verlierern erzählt: als Dolchstoß von Novemberverbrechern, als Versailler Diktat, als jüdische Weltverschwörung.
Wobei das mit den Siegern und Verlierern ohnehin relativ ist. War Gustav Stresemann ein Verlierer des 1. Weltkriegs? War der senegalesische Schütze des französischen Heeres ein Gewinner?

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Was das deutsche Beispiel angeht: Die Verlierer des Krieges konnten die Geeschichte neu schreiben, weil das von ihnen erfundene Narrativ des Dolchstosses und der Demütigung durch die Sieger bei einem grossen Teil der Gesellschaft der Verlierer verfing. Sie behielten ihre Selbstachtung dadurch, dass sie eben nicht durch eigene Schuld verloren hatten, sondern durch Intrigen und Bösartigkeit nicht gewinnen "konnten". Also mussten sie anschliessend sofort damit beginnen, alls zu tun, um die angeblichen Intriganten (die Demokraten) wieder los zu werden. Als dann die Anhänger der "Verlierer" in der Wahl gegen die zerstrittenen "Gewinner" den Sieg davon trugen, waren sie zu Siegern geworden, die eine eigene Geschichte lancieren konnten - bis sie wieder Verlierer wurden und die neuen Sieger... Wer einmal Sieger ist, bleibt es nicht unbedingt. Die Sieger wechseln - und damit auch der Blick auf die Geschichte.

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Multifunktional
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Auch Putin wird daran zugrunde gehen.

Hoffentlich haben Sie recht.
Hoffentlich dauert es nicht zu lange.
Hoffentlich nimmt er uns nicht alle mit in den Abgrund.

PS. Wie wäre es mit einer Kolumne zur Hoffnung, welche einen über schwierige Zeiten tragen kann?

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Daniel Strassberg
Kolumnist@Republik
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das Regal ist leider im Moment vollkommen leer

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Multifunktional
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Was für eine traurige Antwort.

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Zuerst vielen Dank Herr Strassberg und ihrem inspirierenden Artikel folgend allen Mitdenker/innen. Die Vorstellung von leeren Regalen ist tieftraurig und fragwürdig, ich frage mich, wie können wir uns dies erlauben, wir die in grosser Sicherheit leben? Ist dies ein Luxus, sich Hoffnungslosigkeit zu erlauben.? Was würden Menschen, die vom Krieg gebeutelt, bedroht, traumatisiert werden dazu sagen? Ist nicht auch Hoffnung Nahrung , um Widerstand leisten können. Was ist, was nährt Hoffnung? Dazu würden mich ihre Gedanken sehr interessieren.

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Danke für diese Überlegungen. Sie helfen, die Absurdität und den Wahnsinn dieses Krieges etwas verständlicher zu machen. Die Ohnmacht bleibt. Und die eigentlich undenkbare Perspektive, dass Putin und seine Lakaien ihre Ideologie ohne jegliche Rücksicht auf irgendetwas und mit immer mehr Gewalt und Zerstörung bis zum bittersten Ende – und sei dieses Ende auch das Ende der Menschheit – durchführen werden, diese Perspektive (wenn man hier überhaupt noch von Perspektive sprechen kann) wird leider immer wahrscheinlicher.

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Spannend! Also ich biege mir meine Argumentation so zurecht, dass sie meine Selbstachtung nicht verletzt. Stimmt, leider. Wenn sich die Selbstachtung nach dem kategorischen Imperativ von Kant richten würde, wäre das ja weiter nicht so schlimm. Wenn Sie sich jedoch an den Ansprüchen von Peter dem Grossen oder Napoleon ausrichtet... dann haben wir effektiv wieder den Schlamassel. Ein sehr kleiner Trost bleibt mir: Wenn das in Bezug auf Putin stimmt, dann ist er wenigstens nicht verrückt geworden. Aber das nützt den Ukrainern leider nichts.

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Sehr einleuchtend und überzeugend, danke. Auch wenn ich überzeugt bin, dass "wir" ( die überwiegende Mehrheit der westlichen Demokratien) in diesem Konflikt auf der richtigen Seite stehen - auch wir zimmern uns aktuell ein Gedankengebäude: dass wir unser Möglichstes tun, um der Ukraine zu helfen. Obwohl wir wissen, dass dies nicht zutrifft. Aber andere Optionen haben einen zu hohen Preis: die Eskalation des Krieges wäre für die gesamte Menschheit eine Katastrophe, der sofortige Stopp von russischem Gas und Öl würde unsere Gesellschaften "zuviel" kosten...

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Kohärenz ist ein etwas grosses Wort. Meist ist es bei genauem Hinschauen ein durchaus widersprüchliches Konstrukt. Zum "Selfenhancement" ist alles geeignet, was einen "erhöht", bzw negativ ausgedrückt vor Verachtung schützt, die Selbstachtung stützt.
Freud hat das zuerst rein sozial formulierte noch zu Lebzeiten näher an das psychologische Konstrukt des Individuums gebracht.
Heute ist es "mathematischer", da empirisch geforscht wird und auch biochemische Prozesse bekannt sind: Es ist ein grosser Stress, wenn Status zusammenfällt, die vertraute Welt verschwindet. Traditionelle Männlichkeit wurde zudem damit "gekränkt", ihr Weltbild lässt nur Stärke zu, im Zarenreich zudem nur Grösse.
Kohärent im psychisch stabilen Sinne wäre, sich moderne Formen von Stärke und Grösse anzueignen, die mit der aktuellen Welt übereinstimmen. Immer in Verantwortung für alle Menschen einer Nation. Das konnte leider nur Gorbatschow. Er brauchte dafür keine Ideologie.
Aber die Russischen Männer haben ein extrem übersteigertes Männlichkeitsideal, lieber hart sein und sich zu Tode saufen, als zB. "weich" erscheinen. So sind sie u.a. wegen der Sauferei am untersten Ende der Lebenserwartungsskala fast aller Länder. Die jüngeren Generationen hängen diesen Idealen zum Glück immer weniger nach.
Putin hat nicht das Saufen gewählt, seine Härte ist körperliche Disziplin. Siegen. Manipulieren. Und man liess ihn, feierte ihn. Nun spielt das keine Rolle mehr, ob sie es tun, er hat alle ausgeschaltet, bis auf wenige enge Gleichgesinnte.
Die bestätigen sich gegenseitig der "Kohärenz" ihrer Weltbilder vom Wiedererstellen des grossen Imperiums, so genau schaut aber keiner mehr hin. Mittlerweile ist es wohl zwischendurch vor allem Schutz vom Stress der Zweifel, der Verzweiflung und tiefem persönlichen Fall.

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On ne peut gouverner l’homme que par l’imagination ; sans l’imagination, c’est une brute ! Ce n’est pas pour cinq sous par jour ou pour une chétive distinction que l’on se fait tuer ; c’est en parlant à l’âme que l’on électrise l’homme.

-- Napoleon

Und so ist es auch heute: Wenn der Herr im Kreml Hundertausende seiner Landsleute dazu bringen will, in der Ukraine ihr Leben zu riskieren muss er sie bei ihren Gefühlen packen. Bei ihrem Nationalstolz. Bei ihrem Gerechtigkeitsempfinden. Und deshalb muss jeder Krieg zumindest der eigenen Seite gerecht erscheinen.

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Leserin
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Jaaaa! Aber! Ist das nicht nur die Vorderseite der Medaille, die uns immer wieder aufgetischt wird?
Was ist mit der inneren Lähmung der Massen aufgrund von permanenter Bedrohung? Mit der Verdrängung um die Selbstachtung noch zu wahren? Mit der Angst? Mit dem Traumasog? …
Ist dann Nationalstolz, Jubeln oder in den Krieg ziehen nicht wie eine verquere Katharsis?

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Ich wollte mit meinem Beitrag nur erklären, weshalb die russische Elite Dinge von sich gibt die sie selbst nicht glaubt, und die auch international kaum jemand glaubt: Wir sind nicht die Zielgruppe.

Die Frage, warum diese Rechtfertigungen verfangen, zum Teil auch hier im Westen, ist natürlich auch sehr spannend. Mir ist dazu einfach nichts erhellendes eingefallen.

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Wie schafft es denn der Herr im Weissen Haus, seine Landsleute dazu zu bringen, in Afghanistan, Libyen, Syrien (...) oder im Irak ihr Leben zu riskieren?

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Wie ich bereits sagte muss jeder Krieg zumindest der eigenen Seite gerecht erscheinen. Da gilt natürlich auch für die USA. Freilich musste die USA in den meisten genannten Fällen dazu nicht so krass lügen und konnte meistens auch international überzeugen:

  • In Afghanistan hat die ganze NATO nach 9/11 den Bündnisfall ausgerufen.

  • In Lybien verabschiedete der UN-Sicherheitsrat einstimmig Resolution 1973, die Mitgliedstaaten ermächtigte, die Flugverbotszone militärisch durchzusetzen.

  • In Syrien scheiterte eine UN-Resolution nur am Veto Chinas und Russlands, die anderen 13 Mitglieder stimmten zu.

  • Im Irak waren die USA mehrmals. 1991 setzten sie zusammen mit 35 anderen Nationen die vom UNO Sicherheitsrat einstimmig verabschiedete Resolution 678 um. 2003 konstruierten die USA aus der systematischen Behinderung internationaler Abrüstungsinspektoren durch den Irak eine akute Bedrohung mit Massenvernichtungswaffen, die von den meisten Staaten bezweifelt wurde und sich im Nachhinein als unwahr erwies.

Von den 5 genannten Kriegen kann man meines Erachtens nur beim Irakkrieg 2003 von einer materiellen Täuschung sprechen. Und wenn sie die USA dafür kritisieren wollen bin ich ganz bei ihnen. Aber Lybien, Syrien, und den ersten Irakkrieg finde ich mit der russischen Invasion der Ukraine, deren einstimmige Verurteilung durch den UNO Sicherheitsrat nur durch das Veto des Agressors verhindert wurde, und die von der UNO-Vollversammlung mit 141 zu 5 Stimmen verurteilt wurde, nicht vergleichbar.

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(Wie immer) Interessant und stimulierend; Danke, Daniel!
Ich habe zwei Fragen:

  • eine philosophiegeschichtliche: Gibt es Deines Wissens irgendeine Verbindung von Thomas Sprat (1635-1716, NB. ohne eigene wissenschaftliche Meriten, Theologe und Bischof, und PR-Mann für die Royal Society) zum «mos geometricus» von Spinoza (*1632)?

  • und aktuell: warum können es sich Lawrow und die ganze Clique erlauben, so uninspiriert ihre Lügen aufzutragen? Ist das schlicht die Dummheit und Trägheit der Macht (die sich aber wohl unweigerlich später mal rächen werden)? Andere Kriegspropaganda – nimm nur Hitlers 1939 oder Bushs 2003 – war wohl ähnlich verlogen, aber sie gab sich zumindest den Anschein, von der Sache überzeugt zu sein

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Die Erklärungen von Daniel Strassberg treffen den Kern des Problems.

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Michel Rebosura
Ratsmitglied Project R Genossenschaft
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Vielen Dank, Daniel, für deine Ausführungen. Vielleicht schlägt ja gerade in Zeiten der Kriegswirren und Lügen die Stunde der Wahrheit – und damit auch der Philosophie. So war in China die Zeit der Streitenden Reiche auch die Blütezeit der chinesischen Philosophie. So wie in Griechenland im Nachgang des Peloponnesischen Krieges.

Davon zeugen auch die frühen Sokratischen Dialoge Platons, in der es bei der ethischen Frage nach dem Guten im Grunde um das politische Problem ging, wie man das Gesetz des Stärkeren durch das Gesetz des Wahren überwinden könnte.

Eine Bemerkung noch zu Deinem Satz:

Allerdings funktioniert eine Ideologie nur, solange sie Erfolg hat. Im Moment der Niederlage ist plötzlich niemand mehr bereit, seinen kritischen Sinn hintan­zustellen.

Spannend – auch in psychoanalytischer Hinsicht – ist hierbei ja gerade das gegenteilige Phänomen, dass das Scheitern oft den Glauben an eine Ideologie oder Figur verstärken kann. Zufällig stiess ich kürzlich über folgende Passage in Baudrillards Buch «Amerika» (1984/2004):

Das in [insert name of a (charismatic) leader] investierte Vertrauen ist ein paradoxes Vertrauen. Wie man den realen und den paradoxen Schlaf unterscheidet, so sollte man das reale und paradoxe Vertrauen unterscheiden. Ersteres wird einem Menschen oder einem Chef aufgrund seiner Qualitäten oder seines Erfolgs zugestanden. Das paradoxe Vertrauen dagegen schenkt man jemandem für sein Scheitern oder für seinen Mangel an Qualitäten. Der Prototyp davon ist eine Prophezeiung, die nicht eintrifft, ein in der Geschichte des Messianisms und des Chiliasmus wohlbekannter Prozess, als Folge dessen sich die Gruppe, anstatt ihrem Führer abzusagen und sich aufzulösen, vielmehr noch enger um ihn schart und zur Befestigung des Glaubens religiöse, sektiererische und kirchliche Institutionen ins Leben ruft. Die Einrichtungen sind um so dauerhafter, je mehr Energie sie aus der fehlgeschlagenen Prophezeiung ziehen. Dieses «überschüssige» Vertrauen erleidet keinen Schwund, da es aus der Verneinung des Scheiterns entspringt.

Eine Folge davon ist womöglich auch die «Selbst-Viktimisierung», oft eine Täter:in-Opfer-Umkehr, durch welche die Anderen als «Täter:innen» gesehen werden, gegen die es legitim wird, sich präventiv offensiv zu verteidigen.

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Daniel Strassberg
Kolumnist@Republik
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Das ist tatsächlich ein interessanter Widerspruch. Könnte es vielleicht einen Unterschied geben zwischen einer nicht eingetroffenen Prognose über die Endzeit, wie Marx' Vorstellung, die Revolution werde in England stattfiinden, und einem Krieg, der die Endzeit herbeiführen soll?

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Michel Rebosura
Ratsmitglied Project R Genossenschaft
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· editiert
  1. nicht eintreffende Prognose über die Endzeit

  2. stattfindender Krieg, der die Endzeit herbeiführen soll

Da besteht sicherlich ein Unterschied, der in manchen Fällen vielleicht weniger ein logischer als vielmehr ein temporaler ist, denn zwischen beiden besteht ein Zusammenhang: Die Prognose über die Endzeit provoziert einen Krieg, der die Endzeit herbeiführen will («Reich Gottes», «Klassenlose Gesellschaft», «Tausendjähriges Reich», «Tausendjähriges Grossrussland» usw.).

Der Krieg findet also tatsächlich statt, doch mit der Niederlage trifft auch die Prophezeiung nicht ein. Doch daraus folgt für manche nicht die Rejektion, die Verwerfung der Prophezeiung und Ideologie, sondern deren Anpassung: «Gottes/der Geschichte Wege sind unergründlich». Das Scheitern ist nur temporär, weil das Prophezeite, das Erhoffte, das Begehrte, gleichsam a-temporal, «ewig», weiter-«lebt», an-«west». Man verfolgt es weiter bzw. es verfolgt einem weiter.

  • Aus der Niederlage folgt nicht die Aufgabe, sondern die Revanche.

  • Aus der Ohnmacht folgt nicht die Machtabgabe, sondern das Ressentiment.

  • Aus der Demütigung folgt nicht die Demut, sondern der Hochmut.

  • Aus der narzisstischen Kränkung folgt nicht ein selbst-kritisches und realistischeres Selbstbild, sondern Angst, Wut und Hass.

Ein weiterer zusammenhängender, verstärkender Faktor ist die «toxische» und damit gleichzeitig «fragile Männlichkeit», durch die man(n) Abfuhren, Altern und Machtverlust eben als narzisstische Kränkung, als Demütigung auffasst, dergestalt, dass man(n) lieber alle in den Abgrund reisst, als den angeblichen Gesichtsverlust zu akzeptieren und dazu im schlimmsten Fall einen «erweiterten Suizid» begeht.

Übrigens: Die Figur, die in Baudrillards Passage vorkommt, ist Reagan. Heutige Leser:innen denken wohl vielleicht eher an Trump.

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Mathematiker in IT, Bildung und Beratung
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Neben dem Dank an den Verfasser auch ein Dank an die immer wieder sehr spezifischen Referenzen auf frühere Artikel am Ende. Besonders empfehlenswert „Doppeldenk“ auf Russisch.

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"Menschen glauben – entgegen der naiven Fehleinschätzung der meisten Philosophen – nicht an die besseren Argumente, sondern an jene Narrative, die ihnen ein kohärentes Selbst­bild erlauben."
Treffender kann koginitive Dissonanz und Ideologie wohl kaum beschrieben werden. Vielen Dank dem Hausphilosophen Strassberg!

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Danke. Ich lese Ihre Ausführungen immer wieder gerne.

Es ist wohl ein Glück, dass die Sowjetische Ideologie in Russland nicht ausgespielt wird.

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Daniel Strassberg
Kolumnist@Republik
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Vielen Dank! Leider verstehe ich nicht genau, was Sie damit meinen. Könnten Sie das noch etwas ausführen?

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Ich meine, das Zaristische Grossrussland ist eine Idee mit weniger Tragweite als die Sowjet-Union.

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Theologe & Religionspädagoge
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Spannender Gedankengang. Daniel Strassberg zeigt die kranke Version des Zusammenspiels von quasi tranzendentem Einbruch, Narrativ einer Gruppe und Selbstfindung eines narzisstisch-kranken Individuums darin, wodurch das Ganze einen destruktiven Drall erhält. Wie würde aber eine gesunde Version davon aussehen, und wie kann sie die kranke Version zurückdrängen?
Ein paar Pinselstriche: Menschen machen Transzendenzerfahrungen. Gefühlserlebnisse von Verbundenheit mit allem, tiefster Dankbarkeit, Lebenssinn, vollendungsnaher Selbstwirksamkeit, aber auch von Todesangst und übergrossem Schmerz machen viele. Gedeutet werden solche Erlebnisse verschieden, wenn sie überhaupt als der Rede wert erachtet werden. Bei First Nations wurde ein solches Erlebnis auf der Vision Quest gesucht und markierte den Eintritt ins Erwachsenenleben. Propheten haben aufgrund persönlicher Visionen herrschende Zustände angeprangert. Wir heutzutage, säkulare Bildung und institutionalisierte Religion, beschränken solche Sinneinbrüche auf biblische und mythische Vorzeit und schreiben sie lediglich glorifizierten literarischen Gestalten zu. Diese werden dann zu Vorbildern für heutige selbsternannte Messiasse. Krank.
Hätten wir ein Narrativ oder mehrere Narrative, das individuelle Zugänge zur Transzendenz zulässt oder sogar fördert und jedes so mit persönlichem Sinn beschenkte Individuum in der Gemeinschaft willkommen heisst mit seinen ganz persönlichen Beiträgen, wäre meines Erachtens der Nährboden für Ideologien und Weltenretter/zerstörer weitgehend ausgetrocknet.
Spuren solcher gesunder Narrative finde ich in Geschichten, die gerne belächelt werden, in der Jugendliteratur, in Animations- und Spielfilmen, in Dichtung und Drama, in Märchen, Fantasy, Science Fiction und altem Gestein wie der Bibel.
Neueste Religionspädagogik kommt (wieder) auf die Orientierung am Subjekt, seinen inneren Erlebnissen und seinen Bedürfnissen und am Handeln der Einzelnen für die Gemeinschaft. Damit wird allerdings ein grosser Teil der gegenwärtig verwendeten Sprache im religiösen Bereich möglicherweise obsolet. Neue, verbindende Worte für Allzumenschliches müssen gefunden werden. Ein Wagnis.

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