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Lieber Constantin

Deine Genialität inspiriert mich seit vielen Jahren, du hast mein Denken über die Welt mitgeprägt und mich inspiriert.

Nun hast du eine eigene Kolumne begonnen und hast mich schon sehr erstaunt: Ich hätte mir von dir eine kritischere Auseinandersetzung mit dem Thema ADHS gewünscht, die Hinnahme der Diagnose hätte doch auch eine gewisse Skepsis auslösen sollen. Als Nicht-Fachunkundiger bezweifle ich ob der geschilderten Geschichte, dass du überhaupt an ADHS leidest. ADHS ist per Definition eine Störung, welche VOR dem 12. Lebensjahr auftritt. Folgender Satz stammt aus den Diagnosekriterien als notwendige Bedingung: Es sind deutliche Hinweise dafür vorhanden, dass sich die Symptome störend auf die Qualität des sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsniveaus auswirken oder dieses reduzieren. – Der Abschluss eines Gymnasiums ist mit einem unbehandelten ADHS kaum vereinbar. Die Symptom-Palette von ADHS ist riesig und sind mindestens teilweise durch unsere Zivilisation bedingt. Unter Aufmerksamkeitsschwierigkeiten leiden wir immer mehr, die Welt ist schneller und digitaler geworden, die Probleme komplexer. Dass nun eine Diagnose geschaffen wurde, diese Schwierigkeiten zu pathologisieren und letztendlich die Pharmakotherapie auf Kinder auszuweiten, war aus meiner Sicht fatal. Die Verschreibungen von Ritalin gingen innert kürzester Zeit durch die Decke (http://www.braintrainuk.com/braintr…n-numbers/), andere Therapiemethoden wurden belächelt. Es sprachen alle davon und auf einmal litten auch ganz viele darunter.

Lieber Constantin, leider erwähnst du nicht, warum du dich überhaupt in eine psychiatrische Behandlung begeben hast. Worin bestand dein Leidensdruck genau? Suchtest du nach einer Erklärung für die Schwierigkeiten oder Versäumnisse deines Lebens? Oder war der Gang dorthin fremdmotiviert?

Hat die Psychiaterin die ADHS-Abklärung überhaupt seriös gemacht, hat sie Angehörige miteinbezogen, deine Schulzeugnisse durchgesehen und sie mit einem Elternteil eine Anamnese über deine Kindheit durchgeführt?

Als brennendsten Punkt möchte ich anfügen: Warum hinterfragst du die Diagnose nicht im geringsten, sondern nimmst sie sozusagen als Erklärung für den schicksalhaften Weg deines Lebens. ADHS ist nicht wie Krebs dichotom, sondern es ist ein Kontinuum. Aber irgendwann definieren die Fragebögen Ja oder Nein. Kann auch sein, dass du in verschiedenen Fragebögen auffällig warst, in einigen nicht. Es besteht kein klarer Konsens ab wann genau die Diagnose gestellt wird, dies unterliegt meist dem Ermessen des Klinikers und dessen Einstellung bezüglich der Krankheit. Hast du dann auch eingewilligt, dich medikamentös behandeln zu lassen? Dass Stimulanzien bei gewissen ADHS-Patienten helfen können, streite ich nicht ab. Jedoch behaupte ich, dass jahrelange Stimulanzien-Einnahme sehr schädlich ist und dies sehr gut in ein therapeutisches Setting eingebettet werden muss. Gerne würde ich auch deine Erfahrungen hören, sofern du dies bereits versucht hast. Vor allem ob der Wirkung im sozialen Kontext.

Aus meiner Sicht findet eine bedenkliche Pathologisierung der Normalität statt. Ich empfehle dir dazu unbedingt, das Buch «Normal» von Allen Frances zu konsultieren. Wie absurd ist unser Klassifikationssystem, erhältst du als ein derart wortgewandter und begabter Autor eine solch schwerwiegende psychiatrische Diagnose - mit aus meiner Sicht sehr zweifelhaftem Wert für dich den Patienten. Davon dass das System krank ist, lieber Constantin, konntest du mich überzeugen, aber nicht davon, dass du dein Leben «vermasselt» hast – schau bitte mal, wie du bewundert wirst. Du kannst auf viele Errungenschaften zurückblicken, hast eine stabile Beziehung und bist glücklich! Es mag sein, dass du als Rebell und Kritiker ein turbulentes Leben hattest und dich solche Symptome stets begleitet haben – aber niemals leidest du an einer ADHS.

Liebe Grüsse Tom

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Herrn B. Wortmeldung kann ich mich voll und ganz anschliessen. Ich hatte und habe in meiner Praxis viele Kinder und Erwachsene mit dieser Diagnose zu begleiten. Meistens musste ich grosse Zweifel an der Diagnose anmelden, besonders auch bei Erwachsenen, die, wie ich bei Herrn Seibt ebenso vermuten muss, bei der Diagnosestellung schon lange cum grano salis erfolgreich im Leben gestanden haben. Die für ADHS beschriebenen Symptome sind oft so diffus und allgemein gehalten, dass man viele Personen damit identifizieren kann, unabhängig davon, ob die Diagnose im Einzelfall Sinn macht oder nicht. Das erinnert mich an das Buch von Alice Miller "Das Drama des begabten Kindes" von 1979, dessen Erfolg massgeblich damit zu tun hatte, dass sich jeder und jede darin wiederfinden konnten. Die im Buch von Miller beschriebene Symptomatik passte mehr oder weniger zur Kindheit beliebiger Zeitgenossen und löste eine Hysterie von Wehklagen über das elterliche Versagen aus.
Auch ich habe mich gewundert, warum Herr Seibt ohne jedes kritische Hinterfragen über seine Diagnose schreibt. Darunter finden sich kuriose Beschreibungen wie zu "Charme": "Treffen Sie auf eine Person mit Charme, können Sie darauf wetten, dass diese Person ein paar nicht ganz harmlose Verhaltensweisen hat. Denn Charme entwickelt man vorzugsweise dann, wenn einen die Mitmenschen ohne ihn umbringen würden." Man kann diese Zuschreibung kaum ernst nehmen, denn selbst Menschen, denen man ein ADHS zuschreiben mag, können ja auch Charme haben, ohne dass das etwas mit ihrer Krankheit zu tun haben muss.
Überhaupt: alle Punkte, die Seibt unter dem Übertitel "Wie Sie die Welt sehen" auflistet, kommen im Leben ganz vieler Menschen vor, ohne dass man ihnen deswegen eine strukturelle Diagnose zuweisen muss. Es sei denn, man führt, wie es sich alle Hirnphysiologen wünschen, das ganze menschliche Verhalten auf das Verhalten ihrer Neurone zurück. Aber das ist der klassische reduktionistische Denkfehler. Wir fühlen und Denken auf der Basis unseres Gehirns. Aber Synapsen und ihr chemisches Verhalten s i n d nicht Denken und Fühlen.
Wenn es so sein sollte, dass ADHS-Geplagte eine "enorm gesteigerte Anfälligkeit für den kompletten Katalog von psychischen Erkrankungen" haben sollen, dann kann man sich wirklich fragen, zu was denn diese Diagnose noch nützlich sein soll. Man stelle sich das einmal vor: wir haben d i e erbliche Hirndysfunktion auf der Basis von Dopamin-Reuptake entdeckt, die für alle Arten von Lebensproblemen verantwortlich zeichnet und allen anderen psychiatrischen und psychischen Störungen bis hin zum Problem der Zerstreutheit, des Charmes, der Begeisterung, der Unzuverlässigkeit, der Gewissenlosigkeit, der Langeweile, um nur einige herauszugreifen, die in der Kolumne genannt werden, zugrunde liegt!! Und jetzt? Ja, eben.

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Oh, nein. Kaum bekennt sich jemand zu seinem psychischen Problem kommen die Hobby-Freuds und Freud/Jung/Adler etc. Apologeten um die Ecke und erklären ihm, was "wirklich" Sache ist und, dass er natürlich keine Ahnung hat von dem, worüber er schreibt. Manches erinnert mich dabei wahnsinnig an Psychotherapeuten und Hobby-Freuds, die einem Depressiven oder einer Schizophrenen oder jemandem mit bipolarer Störung erklären, dass das alles mit Zuwendung, mehr Freiheit und - äxgüsi, ich werde gallig - natürlich ohne die böse Pharmaindustrie zu bewältigen sei.
Wie wäre es denn, mal den Betroffenen ernst zu nehmen? Seine Texte zu lesen und abzuwarten, bevor man ihn duzt, um ihm die eigenen Annahmen unterzujubeln? Woher wollen wir, wollt Ihr wissen, ob Constantin Seibt die Diagnose "unwidersprochen" und ohne zu hinterfragen angenommen hat? Dazu steht nichts in seinem Text (den ich übrigens exzellent finde - ich wollte, ich könnte so schreiben). Und das Eine oder Andere geht uns auch überhaupt nichts an - bzw. nur, wenn er uns das mitteilen will. Und manchmal braucht man bei psychischen Erkrankungen auch Medikamente - ob das der Fall ist oder nicht, können LeserInnen von zwei Texten nicht entscheiden.

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Wow, zum ersten Mal kann ich ADHS irgendwie begreifen und das nach 38 Jahren Lehrerdasein. Fortbildungen, Alltag, verzweifelte Eltern, militante Ritalingegner, Psychologinnen und Betroffene haben das nicht geschafft. Danke!

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Danke Consti. Du fasst in wunderbare Worte, was ich ebenfalls erlebe und erlebte. Auch eine Diagnose mit 50, nachdem bei meinem Sohn ADHS schon früher diagnostiziert wurde. Meine Frau hat ihn durch die Schule gebracht, ich war hauptsächlich wütend auf ihn (vermutlich weil er mir zu ähnlich war). Die Konsequenz mal bei mir nachzusehen, wie es um mich bestellt ist, kam dann erst später. Ich bin in der glücklichen Lage, seit 25 Jahren in einer Beziehung mit einer Frau zu leben, die mir und meinem Leben die nötige Stabilität gibt. Die letzte Diskussion über einen dieser „Level 15“ Schübe, die mich zu unverantwortlichem Tun getrieben hat, hatten wir dennoch vorgestern. Dein Satz über die Sabotage am Betriebssystem ist Erklärung & erleichternd & macht alles gleich nochmals so schwer - denn ich werde wohl erst immer hinterher darüber klar, dass Idee X oder Y, die sich spontan so toll anfühlen (und die mich jede Abmachung mit meiner Frau vergessen lassen), es doch nicht sind - dann wenn eine laute & tränenreiche Diskussion im Haus steht, bei der ich regelmässig in Erklärungsnot gerate.
Ich habe meiner Frau Deinen Text vorgelesen. Sie hat an vielen Stellen schallend gelacht. Sie versteht und akzeptiert mich zum Glück schon lange - dank deinem Humor jetzt noch etwas besser. Sie wird Deinen Text in ihrer Praxis als Psychotherapeutin auch therapeutisch verwenden. Merci!

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Merci Ihnen und Hochachtung für Ihre Frau. Das Problem mit dem 15 ist ja, dass der Drive mal in etwas Konstruktives und mal in etwas Bescheuertes geht. Meine Privattheorie ist, dass man sich selber verführen muss – damit man vom möglichst Richtigen begeistert ist.
(Aber es fühlt sich schon ein wenig an wie Seneca mit Nero – man muss als Erwachsener einen Siebenjährigen steuern, der aber im Zweifel die Macht hat.)
Aber mehr dazu nächste Woche.

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Ich freue mich darauf! Und ja - die 15 liefert sowohl grossartiges und ... reden wir nicht drüber.

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Psychologe, Träumer
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Vielen Dank, Herr Seibt, für Ihr Coming Out. Ich halte es wirklich für ausserordentlich. Es zeigt, dass psychische Probleme (und allfällige organische Zusammenhänge) real sind und nicht einfach eingebildet. Und es zeigt, dass man sich nicht einfach ein bisschen zusammenreissen muss, damit es wieder geht, eine Sicht, die geldbewusste Bürgerliche immer wieder gerne kolportieren.

Ich muss gestehen, dass ich einen Ihrer ehemaligen Kollegen kenne und von ihm gehört habe, wie er über Ihre Unzuverlässigkeit geflucht hat. Es ist eben durchaus so, dass bei psychischen Problemen nicht nur der Patient leidet, sondern in der Regel auch seine psychosoziale Umgebung. Manchmal leidet nur die Umgebung. Umstände, die ebenfalls gerne ausgeblendet werden.

Was ich aus meiner Erfahrung dazu sagen kann ist, dass Sie ein sehr kreativer Schreiber sind und dass ich Ihre Artikel ausnehmend gerne lese. So wünsche ich Ihnen alles Gute auf Ihrem Irrweg durchs Leben.

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Danke. Und geben dem fluchenden Kollegen einen Drink aus. Und sagen sie ihm: Er fluchte zu Recht. Ich teile seine sehr oft. Und tu's auch.

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Danke! Abgesehen davon, dass ich Constantin Seibt schon immer sehr gerne gelesen habe - war auch ein Hauptgrund damals, die Republik abonniert zu haben - finde ich den Text mutig und grossartig. Und das nicht nur, weil ich mich in einigen Punkten wiedererkenne und jetzt, hoffentlich, einiges mit etwas mehr Humor nehmen kann. Ein solches Thema darf, ja muss Platz haben, auch in einer Republik und nicht (nur) auf der grossen Bühne.

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Antonia Bertschinger
Ratsmitglied Project R Genossenschaft
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Vielen Dank für diesen Artikel. Zusammen mit einem ähnlichen Text, der vor Kurzem im Guardian erschienen war, hat er eine Ecke meines Weltbildes komplett verändert. Der Eindruck, den ich bisher aus den Medien gewonnen hatte, war, dass ADHS eine Modediagnose ist, etwas, das es eigentlich "nicht gibt". Wie kann das sein bei etwas, das sich so genau medizinisch beschreiben lässt? Wo man wahrscheinlich mit entsprechender Ausrüstung die Dopamin-Level messen könnte? Da bleibt doch kein Spielraum für Mode oder Subjektivität?
(Dasselbe scheint mir für andere Abweichungen von der Neuro-Norm zu gelten wie Hochsensibilität oder Phänomene auf dem Autismus-Spektrum (ich vermeide das Wort "Störung" bewusst). Alles, was einen Menschen nicht ins roboterartige Produktivitäts- und Sozialschema der Leistungsgesellschaft passen lässt, wird im Diskurs verbogen, entweder pathologisiert oder als Einbildung abgetan.)

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Olivia Kühni
Journalistin Republik
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Liebe Frau Bertschinger, Sie sprechen etwas sehr Wichtiges an, das oft vergessen geht: Methoden insbesondere der Hirnforschung (zB EEG des Gehirns) sind medizingeschichtlich/psychiatrisch unfassbar neu.

Wir stehen erst am Anfang davon, nicht nur ADHS und andere Neurodiversität, aber etwa auch Depressionen überhaupt zu verstehen. Auch über die Zusammenhänge zwischen beispielsweise Darmgesundheit und Psyche wissen wir wenig mehr, als dass sie eine Rolle spielen. Dasselbe gilt für die Rolle von Schilddrüsenhormonen, Geschlechtshormonen und Nährstoffen (insbesondere Zink, das entzündungshemmend wirkt, Magnesium, B-Vitamine, Vitamin E).

Insbesondere die neurologische Forschung hat ausserdem - verständlicherweise - immer wieder gegen Widerstände zu kämpfen, dass es darum gehe, Menschen zu kategorisieren und pathologisieren. Für viele Betroffene jedoch sind neue Erkenntnisse ein Segen.

Zu Ihrer konkreten Frage: Es gibt durchaus erste Hinweise, dass sich unter anderem ADHS (engl. ADHD) mit Methoden der Hirnforschung diagnostizieren lassen könnte.

Siehe etwa hier:
https://www.ajmc.com/newsroom/brain…g-subtypes
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/31321994
https://www.additudemag.com/brain-scans-for-adhd/

Herzlich!

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Rentner
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Nur eine kleine Präzisierung bezüglich der Methoden in der Hirnforschung und der neurologischen und neuropsychiatrischen Diagnostik : Gerade EEG ist so ‘unfassbar’ neu nicht. Elektroenzyphalographie wurde schon 1929 vom deutschen Psychiater Hans Berger erfunden und seither als Grundlagenforschungs- und Diagnosemethode eingesetzt. Und auch die Bildgebung, die auf der Magnetresonanz basiert, ist nun seit fast 50 Jahren bekannt. Das sind natürlich kurze Zeiträume, wenn man bedenkt, dass die ältesten Schädeldeckendurchbohrungen an lebenden Menschen aus vermutlich medizinischen Gründen aus mehr als 10’000 Jahre vor Christus datieren. Und der breite Einsatz von EEG und MRT erfuhr erst mit dem Computer und neuen Rechenverfahren (schnelle Fouriertransformation) ab etwa den 80-er Jahren einen Durchbruch.

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Wir stehen erst am Anfang davon, nicht nur ADHS und andere Neurodiversität, aber etwa auch Depressionen überhaupt zu verstehen.

Liebe Frau Kühni, das ist eine gewagte Aussage, die ich nicht unkommentiert stehenlassen möchte: auch wenn wir bspw. wissen, dass manche (längst nicht alle) depressiven Menschen positiv auf eine Erhöhung des Serotonin-Spiegels im Blut reagieren, und auf Hirn-Scans mehr oder weniger aktive Gehirnregionen ausmachen können, was, denken Sie, haben wir dann davon verstanden, was es für einen bestimmten Menschen bedeutet, depressiv zu sein?

Es gab vor einiger Zeit irgendwo in der Innerschweiz (genauer erinnere ich mich leider nicht) einen IV-Gutachter, der behauptete, Depressionen im Hirn-Scan nachweisen zu können. Die IV war hochentzückt: endlich eine 'objektive' Methode, echte Depressive von 'Scheininvaliden' zu unterscheiden. Die Folgen kann man sich vorstellen: wer die 'objektiven' Kriterien nicht erfüllte, verlor den Anspruch auf IV-Leistungen, unabhängig davon, wie es ihm oder ihr tatsächlich ging. Meines Wissens ist die Sache mittlerweile im Sand verlaufen (oder ist hier nur der Wunsch Vater des Gedankens? Vielleicht weiss sonst jemand mehr?), aber daraus wird vielleicht ein Stück weit nachvollziehbar, warum Menschen, die täglich mit psychisch Leidenden zu tun haben, den teilweise euphorischen (Zukunfts)Versprechen der Hirn- wie der Pharmaforschung mit Vorsicht gegenüberstehen.

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Antonia Bertschinger
Ratsmitglied Project R Genossenschaft
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Vielen Dank, das werde ich mir auf jeden Fall anschauen!

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Das Problem ist (u.a.) dass sich ADHS sehr schwer diagnostizieren lässt. Es teilt seine Symptome mit einem ganzen Strauss von anderen psychischen Auffälligkeiten und wird deshalb auch gerne mal verwechselt. Die Symptome sind dann zusätzlich auch noch individuell unterschiedlich. Die Betroffenen haben so viele Versagens- und Abwertungserfahrungen erlebt, dass wir uns höchst ungern in die Karten schauen lassen. Mit dem Überleben haben wir sehr effektive Abwehrmechanismen erlernt, die eine Diagnose zusätzlich erschweren. Viele ÄrztInnen wissen auch zuwenig über die Störung und landen dann ggfl bei einer „einfacheren Erklärung“.

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Antonia Bertschinger
Ratsmitglied Project R Genossenschaft
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Das heisst, die Diagnose erfolgt nicht per Messung der Dopamin-Levels, nehme ich an... wäre das besser, weil objektiver? Aber ich nehme an, es ist technisch schwierig zu machen, d.h. invasiv im Gehirn, das würde natürlich kaum jemand gerne über sich ergehen lassen. Oder würde es per MRI gehen? Ich verstehe leider so wenig von solchen Dingen.

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Spontan neige ich zur Ansicht, dass dieser Stoff eher auf die Grosse Bühne gehört, inszeniert von - ja von wem wohl? Ich wüsste auch, wer den Bericht von der Premiere verfassen könnte. Lasst, Götter, leidenschaftliches Theater mit mitternächtlich mondgestimmten Monologen zu, aber bitte nicht in der Republik.

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Tut mir Leid, ich verstehe Ihren Kommentar nicht. Mögen Sie ausführen?

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Nun ja, die Grosse Bühne im Mondlicht war gerade nicht frei. Also findet die Aufführung hier im Hinterhof statt zwischen Artikeln zu Politik und Wirtschaft.

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Lieber Herr Fuchs, ich meinte damit, dass ich genug habe von all den Coming-Out-Texten, erhitzt auf den Feuern von brennenden Egos. Selbstdarsteller -auch wenn sie noch so toll schreiben-mögen im Theater auftreten. Und die Texte von Herrn Seibt sind eh oft zu lang, da wünschte ich mir eine mutige Lektorin.
Nun, ich bleibe der Republik sicher treu, denn vieles ist sonst thematisch und sprachlich einzigartig.

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Die Idee mit der grossen Bühne gefällt mir. In Literatur und Theater muss es wimmeln vor ADHS-Persönlichkeiten. Drama pur, mit allen Konsequenzen. Dennoch freu ich mich auch auf weitere Republik-Kolumnen.

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Rentner
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Ein sehr eindrücklicher Text, der mich in vielem an mein eigenes Verhalten und Leben erinnert. Ganz herzlichen Dank Constantin Seibt für dieses Coming Out. Ich kenne die früher von mir als Stigmatisierung empfundenen Pseudodiagnosen aus dem Feindeskreis und Diagnosen von Fachpersonen, die meine ihnen unverständlichen Handlungen und Verhaltensweisen in bestimmten Situationen auf ADHS, Narzissmus, Hochsensibilität, Schizophrenie, oder was auch immer zurückführten. Das Studium der Neurowissenschaften, insbesondere Neuropsychologie, das ich einige Jahre vor meinem Eintritt ins AHV-Alter berufsbegleitend begann und trotz einem mäandrierenden Lebensweg als vom Leben privilegierter Erdenbürger mit einem Doktoratsstudium beenden konnte, hat mir neben intensiven Therapiegesprächen in schweren Zeiten und danach geholfen, mein Verhalten und Handeln zu verstehen und zu erkennen, welche Facetten meiner Persönlichkeit ganz gut welche Kriterien oben unvollständig aufgeführten Diagnosekatalogs erfüllten, und wie alles mit Aufbau und Funktionsweise meines Gehirns zusammenhängen könnte.
Ich finde es äusserst wichtig und wertvoll, dass, so wie es im Beitrag von Constantin Seibt geschieht, Menschen, die unter den einen Blickwinkeln ein erfolgreiches Leben führen oder geführt haben, die unter anderen, oft versteckten Blickwinkeln sichtbaren Widrigkeiten oder Beeinträchtigungen sichtbar machen und zu ihnen stehen. Das ermuntert und bestärkt diejenigen, die weniger privilegiert an den Rand unserer Gesellschaft gedrängt und auf Grund akzentuierter Persönlichkeitsmerkmale ausgegrenzt werden, an sich zu glauben, das Beste aus ihrem Leben zu machen und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben einzufordern.

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Danke Ihnen zurück! (Geht Ihnen das auch so, das trotz aller Therapie und Lektüre der geheime Verdacht nie ganz verschwindet, dass nicht Sie, sondern alle anderen einen Dachschaden haben?)

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Mir geht das auch so - ohne ADHS. Alles ist nicht der Diagnose geschuldet😎😊

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Rentner
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Nicht ALLE anderen, aber manche 😉 ! Und um bei der Metapher des Dachschadens zu bleiben : Es kann tropfen, weil es undicht ist, oder einfach weil der Regen über die Dachkante rinnt. Entscheidend ist, wer nass wird, die drinnen oder die, die draussen unter dem Dachrand stehen 😉 !

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geht mir öfter so - dann frage ich mich reuig, ob ich nicht grade mal wieder unwahrscheinlich arrogant und überheblich bin. Kurz darauf keimt der Verdacht dann gegenüber den selben Leuten wieder ;-)

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Nina Scheu
Kulturjournaleuse, Kommunikatorin (SAW)
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Meine ganz persönliche Frage an all die Diagnostizierten war, ist und bleibt (wahrscheinlich): Was ändert sich mit der Diagnose? Bzw. Kann es nicht auch besser sein, bei der Ahnung und dem gewohnten Leben zu bleiben, statt für seine Verhaltensweisen Erklärungen, Krankheitsbilder gar, zu haben? Oder kurz: Was wird besser, wenn man weiss?

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Ich erhielt meine Diagnose mit 41, vor 2 Jahren.
Davor: In behüteter ländlicher Umgebung aufgewachsen und glücklicherweise mit einer Portion "Schul-"intelligenz gesegenet, die mir Gymnasium und danach ein ETH-Studium ermöglichte.
Anschliessend durchaus befriedigende Arbeit als Ingenieur und Planer. Lange Beziehung. Das einzige Laster war langjähriges Rauchen; ich hatte also echt Glück für ein unbehandeltes ADHS.
Der Leidensdruck bezüglich Selbstorganisation wurde aber immer grösser, weil ich mich je älter ich wurde, immer mehr um mich selbst kümmern musste als um meine eingentliche Arbeit/ mein Leben etc.
Ich kam mir vor wie in einem Hamsterrad, in dem ich grad das Notwendigste zum Überleben erledigen konnte, also nur die "Pflicht" im Leben erfüllte; auf die "Kür" musste ich verzichten, weil mir dazu schlicht zu wenig Zeit und Energie zur Verfügung stand (Die brauchte ich, um Schlüssel zu suchen, Mahnungen und Betreibungen abzuwenden, nicht eingehaltene Termine zu entschuldigen und neue Termine zu versprechen, die ich dann wieder nicht einhalten konnte....). 40 Jahre (naja, sagen wir 30 Jahre, bis ins Alter von 10 ist das ja normal) lang solche Erfahrungen schlagen aufs Selbstwertgefühl: Wenn man nur zufällig mal was richtig macht, die meiste Zeit aber scheitert, beginnen Mechanismen wie das Lächerlichmachen vieler Dinge bis hin zum Zynismus; keine neuen Sachen mehr anzufangen, weil man ja sowieso scheitert etc....
Mit der Diagnose gab es plötzlich einen Namen für meine Unzulänglichkeiten: Nicht mehr ich als Person bin allein Schuld an allem Übel und all den Dingen die über mich hineinbrechen. Es spielen auch chemische Prozesse in meinem Hirn mit, auf die ich nicht und nur wenig Einfluss habe. Es soll nicht so tönen, dass ich die Verantwortung für mein Handeln nun abschieben kann, im Gegenteil: Ich kann neue Projekte oder generell neue Herausforderungen mit einem neuen Selbstbewusstsein angehen: Ich bin nicht mehr von vornherein zum Scheitern verurteilt, sondern ich bin mir meiner Krankheit bewusst und kann sie so auch bewusst berücksichtigen und so gut wie möglich managen.
Ich bin sehr glücklich, dass ich inzwischen einen Namen, eine Behandlung, einen Hebel gefunden habe, so dass ich sehr vieles in meinem Leben benennen und auch anders angehen kann, als 1000x in die gleiche Mauer zu laufen und nicht zu verstehen, warum alle andern diese Mauer überwinden können und nur ich immer dagegen pralle. Ich nehme jetzt einfach einen Schritt zur Seite und kann sie umgehen. Oder ich bitte jemanden um eine Räuberleiter, weil ich weiss, dass ich es nicht allein schaffe.

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Danke.
Das trifft es.

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Ich wurde diagnostiziert, als ich in der Mittelstufe war. Davor musste ich die Wuttiraden überforderter Lehrer_innen über mich ergehen lassen, weil meine Hausaufgaben so gut wie immer ungemacht blieben, ausser, wenn meine berufstätige Mutter mir bis neun Uhr dabei half und mir dann eine Entschuldigung für die Lehrpersonen schrieb, wenn die Zeit nicht reichte. Ohne Aufsicht sass ich den ganzen Tag am Küchentisch und sah aus dem Fenster anstatt auf meine Schularbeit. Man hielt mich für faul und uninteressiert. Als ich endlich die Diagnose und damit Medikamente erhielt, wurde ich Klassenbeste und erfuhr, dass Lernen eines der schönsten Dinge der Welt ist. Leider habe ich immer noch nicht gelernt, wie man vorausplant und weiss nicht, ob ich auch nur ein Semester an der Uni überstehen würde. Aber ohne die Diagnose hätte ich kaum die Primarschule abschliessen können. AD(H)S ist behandelbar und die Schläge, die das Selbstbewusstsein einer betroffenen Person auf täglicher Basis einsteckt, wenn sie sich der Krankheit nicht einmal bewusst ist, können verheerend sein.

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Nina Scheu
Kulturjournaleuse, Kommunikatorin (SAW)
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· editiert

Das kann ich nachvollziehen. Bei meiner Frage hatte ich eher das Erwachsenen-AD(H)S im Kopf: Was, wenn man/frau die Diagnose mit 50 (wie Constantin) oder gar 60, 70 erhält? Wenn man sich also nicht mehr mit Lehrpersonen etc. herumschlagen muss und sich quasi an sein Dasein gewöhnt hat. Die Diagnose stellt dann ja auch vieles auf den Kopf und in Frage, verlangt eventuell gar, das man sich jetzt grundlegend verändert. Soll oder muss man dann etwas dagegen tun? Medikamentös gar? Wird man zu einer anderen - (sich) letztlich fremden - Person? Und (inwiefern) ist das dann besser als das Leben vorher?

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Flavio Frei
Ratsmitglied Project R Genossenschaft
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Meine Vorfreude ist gross, von einer "betroffenen" Person zu lesen, die die eigenen Gedanken so treffend in geschriebene Worte fassen kann.

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Quer- und Vorandenker
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Lieber Consti,
Liebe wundersam Kommentierende,

„Ach, wir ADHS’ler!“ Schulterklopfend und garniert mit diesem im damaligen Moment absurd anklingenden Ausspruch, hatte ein Freund seinen tatkräftigen Einsatz beim Umzug in mein nächstes Lebensabschnittsabenteuer vor fast fünf Jahren quittiert. Nachdem ich mich bereits viele Jahre in alle möglichen Himmelsrichtungen abklären liess, kam mir dieser flapsige Einwurf gar etwas spanisch vor. Seit meinem 20sten Lebensjahr, bin ich im Selbststudium zu einem Halbgott der Psychologie gereift; hatte mich bis zu diesem Zeitpunkt mit allem was das menschliche Spektrum so hergibt, beschäftigt und darüber hinaus auch bereits selbstgewählt mehrere mehrjährige Abklärungen hinsichtlich einer potentiellen Depression, Bipolaren Störung oder einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung unternommen. Alle Abklärungen verliefen im Sande, den jeweiligen Therapeuten schien es jedoch einen heiden Spass mit mir und meiner vielschichtigen Lebensgeschichte gemacht zu haben. Mein innerer Drang und Suche nach einer eigenen Betriebsanleitung, blieb jedoch erfolglos. Und nun unten an der neuen Strasse, vor den Briefkästen – zum Abschied, dieser schulterklopfende ADHS‘ler Moment der Wahrheit.
AD(H)S gibt‘s nur bei Kinder, war mir zuvor erfolgreich von der geballten Medienindustrie ins Gehirn gemeisselt worden. Wohl auf dem falschen Fuss erwischt, hab ich mir noch am Abend dieses mässig strapaziösen Umzugstages, drei Standard-Fragebögen der WHO ergoogelt und mir diese zur Geisterstunde etwas genauer zu Gemüte geführt. Einmal 50 und zweimal 40 Fragen, welche ich schnurstraks mit einer Trefferquote von 99% erlegte. 50% hätte längstens gereicht, für die freihaus Empfehlung, sich am besten zeitnah mit einem Spezialisten in Verbindung zu setzen. Und so unternahm ich mittlerweile wohl eher gegen 3 oder 4 Uhr morgens eine weitere Web-Recherche und fand meine zukünftige ADHS Spezialistin weit oben im Google-Ranking lauernd. Normalerweise schaue ich mir immer alle 123‘768‘765 Treffer einer Suche durch. Hier schien es mir fast erstmalig nicht opportun. Am nächsten Morgen war der Termin für in zwei Monaten gefixt. Und so kam es in der Folge zu einer umfangreichen Anamnese. Nach zwei bis drei intensiven Therapiestzungen pro Woche – während fast zweier Monate, stand der klare Befund – dieser aus heutiger Sicht gemeingefährlichen Therapeutin – im kargen Raum. Auf ihre Empfehlung hin, hatte ich zeitnah meinen stressigen Job gekündet und mich bald darauf auch von der Mutter meiner damals 1 1/2 jährigen Tochter getrennt. Weitere vier Monate später, stand ich ohne Job, Geld, Selbstvertrauen und Dach über dem Kopf – auf der Strasse.
Da sich bereits mein Leben zuvor, in einem gewissen Extrembereich abspielte, verfügte ich mit meinen damaligen 38 Lenzen bereits über keinen allzu grossen Rückhalt mehr bei Family&Friends. Als dann aber auch noch diese Therapeutin (meine damals einzige Vertrauensperson), aufgrund einer offenen Rechnung (und wohl meiner vermeintlichen Auswegslosigkeit) die weiteren Therapiesitzungen von einem Tag auf den anderen sistierte, brachen bei mir fast sämtliche Dämme. Mein Selbstvertrauen und Selbstwert sank von einem bereits tiefen einstelligen Bereich, auf nahezu Null Prozent.
Gerade in einer neuen WG angekommen, verkroch ich mich über mehrere Monate im Zimmer und so nahm das Chaos an Fahrt auf. Meine bemitleidenswerte Mitbewohnerin, organisierte mir in ihrer Verzweiflung (und weil ich auch schon mit zwei Monatsmieten im Verzug war) über eine Arbeitskollegin, bzw. deren Sohnemann, eine bereits angeknabberte Packung Ritalin. Ich hatte wiederum äussersten Respekt vor diesem möglicherweise verheerenden Moment. Sollte das Ritalin, bei mir nicht die in der Fachliteratur (welche ich mir in der Zwischenzeit von der ersten bis zur letzten Seite einverleibt hatte) beschriebene Wirkung entfalten, könnte ich erneut ohne Diagnose und somit ohne Betriebsanleitung dastehen. Zum grossen, grossen Glück, kam es jedoch anders und am nächsten Morgen entfalteten diese ersten 10 mg Ritalin meines Lebens, einen absoluten Umkehrschub in mir. Ich brachte meine Tochter um 9 in die Krippe, und auf der Rückfahrt im Tram entfaltete das Methylphenidat endlich seine Wirkungsmacht. Gefühlt zum ersten Mal in meinem Leben, konnte ich mein Notizbuch aufschlagen und ohne grosse Mühe meine wichtigsten Aufgaben des Tages, sogar der ganzen Woche niederschreiben. Ich konnte meine wirren Skizzen und Einträge der Vergangenheit emotionslos betrachten und Nützliches von Unnützem unterscheiden und entsprechend priorisieren. Auch die NZZ (auf dem Nebensitz vorgefunden) konnte ich plötzlich ohne Probleme überblicken und beim einen oder anderen Text reinlesen. Zuvor war dies unmöglich, da ich am Ende jeder Zeile völlig in meinen Assoziationen abgedriftet war und es mir daher unmöglich war, einen x-beliebigen Text ohne ein wirklich gewichtiges inhaltliches Interesse, zu lesen. Nach dieser rund 15 minütigen Tramfahrt, hatte ich gefühlt mehr erreicht und erledigt, als dies mir in einer ganzen Woche zuvor möglich war. Von einem Tag auf den anderen hatte ich wieder Selbstvertrauen. Von 0.0001% auf mindestens 25% stieg dieses nach dieser Ritalinfahrt wieder an. Anstatt nach Hause, fuhr ich zum ersten Mal seit Wochen wieder zu meinem Arbeitsplatz in einer Ateliergemeinschaft und musste völlig übermannt von dieser gefühlten Wiedergeburt alle Umarmen und gleich brühwarm von dieser unglaublichen Drogenerfahrung berichten. Und so nahm ich gleichentags auch meinen ganzen Restmut zur Hand und hab mich ins Intake des zuständigen Sozialamtes gestellt. Nach kurzer Wartezeit, durfte ich meine Lebensgeschichte einer mittelalterlichen Frau ausbreiten, welche nach erdulden eines 40 minütigen Monologes, ihren Kurzhänder zog und mir kühl und knapp zu verstehen gab, dass ich als 1.90 grosser, blauäugiger und blonder Schweizer, keinerlei Chancen auf eine Unterstützung des Sozialamtes haben werde. Hätte ich in meiner nunmehr zwei-jährigen Tochter, nicht das wundervollste Geschenk und Glück auf Erden vorgefunden, so wäre ich wohl an diesem verregneten Nachmittag auch Teil dieser äusserst dramatischen und von Consti erwähnten Statistik geworden. Ich gab aber nicht auf, kam irgendwie auf‘s RAV. Hab innerhalb eines Jahres drei Bundesordner mit Betreibungen gefüllt. Erhielt eine Lohnpfändung. Wurde ausgesteuert. Wurde nach 8 Semestern eines Master in Transdisziplinarität, von der Hochschule exmatrikuliert. Kam zwei Jahre später dann doch noch auf‘s Sozialamt, wo man mich zwei Jahre lang derart runtergefahren hat, dass ich vor einem Jahr freiwillig aus dieser sogenannt letzten Absicherung unseres Sozialstaates ausgetreten bin und nun langsam aber sicher wieder festen Boden unter meine Füsse bringen konnte.
Und trotz all diesem Leerlauf der letzten Jahre, muss auch ich heute sagen, dass ich unendlich dankbar bin, dass ich als Schweizer, in ein fast bombensicheres Nest gelegt wurde und eingebettet bin, bzw. mir auch immer wieder verdammt viel Glück zu Teil wurde.
Mit einer gewissen Demut, aber auch von einer äusserst tiefsitzenden Trauer beseelt, muss ich heute konstatieren, dass die Genetik mir und vielen Anderen, dieses in einem gewissen Sinne vorsinnflutliche, aber dennoch sehr menschliche Oberstübchen bewahrt hat, jedoch einigen nicht ganz so intelligente und resiliente Gene wie mir – mit auf den Weg gab. Und ich wohl auch gerade deshalb diesen schön beschriebenen Charme – samt entsprechender Bewältigungsstrategien – entwickeln konnte, welcher mich heute wieder so hoffnungsvoll und selbstbewusst in die Zukunft blicken lässt. Der auch bereits in Kommentaren erwähnte Brian K. hatte wohl eher nicht dieses Glück. Oder einfach das Pech, eine weitaus impulsivere Form dieser äusserst vielschichtigen Disposition mit auf den Weg bekommen zu haben. An all den Sachen, welche ich zwischen 6 bis 11 Jahre veranstaltet, bzw. sehr viel eher verbrochen hatte, kann es kaum gelegen haben. Denn mein Dreck am Stecken, war sehr, sehr dreckig und der Stecken überaus langgewachsen. Ich war wohl damals einfach schon ein wenig geschickter unterwegs und als blonder, blauäugiger und schüchtern wirkender Junge, wahrscheinlich weitaus unverdächtiger als der dunkelhäutigere Brian K. Ich bin jedenfalls äusserst dankbar, kam damals niemand körperlich zu Schaden und dass ich irgendwie mit 11 (sicherlich auch dank dem Skateboardfahren) den Absprung aus dieser damals bereits sehr kriminellen Dynamik finden konnte und ich mich in den letzten 33 Jahren in eine weitaus nachhaltigere, wenn auch nicht ganz so konforme Richtung entwickeln konnte.
Bon bref... Nach mittlerweile 8 weiteren Umzügen in den letzten fünf Jahren, einer mittlerweile abgeschlossenen Therapie bei einer höchst vertrauenswürdigen Psychiaterin, einer für mich zentralen und intensiven Betreuung durch eine wahrhaftige Fee und Ergotherapeutin, einer entsprechend perfekt eingestellten Medikation und einer weiteren, wundervollen Tochter; stehe ich heute nun wahrlich wieder auf der Sonnenseite meines Lebens. Ich übe mich in Selbstmitgefühl und musste lernen auf mich zu hören, mich nicht mehr für mich zu schämen und mir nicht mehr mit unmöglichen Möglichkeiten, mein und leider auch das Leben meines Umfeldes zu zerstören. Ich lege heute enormen Wert, mich fast ausschliesslich mit Menschen, welche ich Nahe an meinem Herzen tragen kann, zu beschäftigen. Habe nach fünf Jahren aussichtsloser Suche nach einem fixen Brotjob entschlossen, wieder wie früher – aber weitaus sanfter zu mir und anderen – zu 100% als selbständiger Kreativer und Problemlöser unterwegs zu sein und so mein Leben und seine Chancen aktiv anzunehmen und anzupacken. Mir ist sehr bewusst, wie schwer und wacklig dieser Hochseilakt ist und immer sein wird, aber dank all meinen Erkenntnissen und Verhaltensänderungen der letzten Jahre, kann ich auch trotz diesem stets vorhandenen 1 oder 15 Spektrum, mittlerweile auf eine eigene (was aus meiner Sicht auch des Pudels Kern beschreibt) Berechenbarkeit zurückgreifen. Und so möchte auch ich meinen bescheidenen Beitrag an diesem Diskurs leisten. Diese Thematik einfach als einen zivilisatorischen Kollateralschaden, als ein Hirngespinnst oder als eine gravierende psychische Erkrankungen abzutun, greift aus meinem Verständnis bei weitem zu kurz. Unsere Gesellschaft ist zur Zeit genauso auf der Suche nach ihrem wahren oder sagen wir, besseren Betriebssystem und wie mir scheint, sind diese beiden Schauplätze in einem hohen Masse kongruent. Unsere heutige Gesellschaft (nicht von morgen) braucht dringend mehr Grau-/Farbwerte, besseres Zuhören und viel, viel mehr gelebte Komplexität.

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Wow. Langsam fängt die Kommentarspalte an, die Kolumne an Interessanten zu überholen.

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Quer- und Vorandenker
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Das wär aber schampar schad... aber ehrlich gesagt ist mein Glaube an dich, dann wohl doch zu unerschütterlich! HüüüūúperfoKUss Consti!!! Mit genossenschaftlichem Gruss

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Wow. Danke für die offenen Worte, Martin :)

Ich hätte da einige Fragen darüber, wie du das mit der Selbständigkeit (Struktur / Motivation) auf die Reihe bekommst, wie/wo du Therapeuten, die auch wirklich eine Ahnung haben, gefunden hast usw. :)

Wäre sehr spannend, mit dir mal einen Kaffee zu trinken.

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Quer- und Vorandenker
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Liebe Regula,

Können wir gerne machen mit dem Kaffee. Weiss aber nicht, ob ich dir dann auch wirklich konkrete und all-gemeingültige Antworten liefern kann. Halt eher ein gewisses Gespür und subjektive Erfahrungswerte... meld dich gerne auf martinloetscher@gmail.con

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Die Zusammenhänge zwischen Körper und Psyche sind hochkomplex und das Wissen darüber nimmt nur in winzigen Schritten zu. Wenn man die neurologische Forschung schon lange beobachtet, macht sich auch eine gewisse Ernüchterung breit: trotz 200 Jahren Hirnforschung stehen wir immer noch am Anfang und es gibt wenig mehr als Hypothesen. Das gilt auch für die Dopamin-Hypothese bei ADHS. Man weiss bspw. immer noch nicht sicher, ob es ausschliesslich an der Menge des verfügbaren Dopamin liegt. Ich erinnere mich, auch darüber gelesen zu haben, dass das Verhältnis zwischen den verschiedenen Neurotransmittern ebenfalls eine Rolle spiele. Die faktischen Befunde sind teilweise derart widersprüchlich, dass sie oft mehr Fragen aufwerfen als beantworten. Dagegen ist nichts einzuwenden, so funktioniert Wissenschaft. Für Betroffene kann es trotzdem extrem entlastend sein, einen Namen für und eine Vorstellung dessen zu bekommen, was ihr Leben so schwierig macht.
Spezifische Medikamente können entlasten, müssen es aber nicht. Auch für dieses Phänomen wird nach Erklärungen gesucht. Im Bezug auf ADHS ist bspw. ein interessantes Phänomen, dass die entsprechenden Medikamente Nicht-Betroffene in der Regel aufputschen (und darum auch in der Drogenszene gefragt sind), Betroffene aber beruhigen und ihnen helfen, sich zu strukturieren. Aber auch das funktioniert nicht durchgängig und bei allen gleich. Hier könnten ev. Resultate aus der Gen-Forschung weiterführende Antworten bringen.
Sich als ADHS-Betroffenen zu outen finde ich einen mutigen Schritt, für den ich Constantin Seibt Anerkennung aussprechen und danken möchte. Dass die Diagnose eine Mode-Erscheinung sei oder das Phänomen nur bei Kindern auftrete, sind ebenfalls Thesen, die nicht gänzlich falsch, aber auch nicht vollkommen richtig sind. Das Störungsbild wurde in der Euphorie der Neuentdeckung, bzw. Namensgebung tatsächlich teilweise überdiagnostiziert, und es sind viel mehr Erwachsene betroffen, als man ursprünglich annahm.
Es ist dieses sowohl-als auch, mit dem so schwierig zu leben ist, wo wir doch alle so gerne ein-eindeutige Antworten und Erklärungen hätten. Und die Betroffenen entlastet nichts davon, einen Umgang mit ihrem So- oder Anders-Sein zu finden, der ihnen und ihrer Umgebung ein gutes Leben ermöglicht. Dass das möglich und machbar ist, zeigt die Erfahrung und entsprechende Berichte Betroffener wie der hier vorliegende.
Sehr interessieren würde mich persönlich die Frage, wie die Diagnose an sich sich auswirkt, was sie verändert, wo sie entlastet, was das Wissen vielleicht auch schwieriger macht, an einer diagnostizierten psychischen Störung zu leiden.

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Geehrte Frau J.
danke für Ihr Kurzessay – es ist tatsächlich ziemlich eindrücklich, wie wenig man gesichert sagen kann. Man arbeitet mit Hypothesen (und wählt, fürchte ich, am Ende die, die einem am Gelegensten kommt).
Was Ihre Frage angeht, was die Diagnose an sich verändert – dazu werde ich noch einiges schreiben, bin aber sicher, dass ich es nicht wirklich sagen kann: Denn gleichzeitig hat sich das Leben mit der Firmengründung, einer komplett neuen Verantwortung, einem längere Zeit völlig neuen Job und neuer Rolle plus der Geburt eines Söhnchens so fundamental verändert, dass ich keinen Schimmer habe, was der Teil der Diagnose, der Medikamente, der Firma, der Familie ist.
Es lief (fast immer im Leben) wie auf dem Pausenplatz der Primarschule: Sie fallen alle gleichzeitig über dich her.

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Na dann wünsche ich guten Mut auf dem Pausenplatz, danke für die Antwort und freue mich auf mehr.

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Die Diagnose gab mir Klarheit über vieles, was ich früher als "eines der Dinge, die andere easy können und an denen ich immer scheitere" sah. Sie gab mir ein neues Selbstverständnis, liess mich manchmal geduldiger mit mir selber sein. Vor allem aber gab sie mir die Möglichkeit, Lösungen zu finden. Weil ich nun vielmehr verstehe.

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merci für die Antwort, Frau Sterchi.

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Susanne Birrer
Zeitgenossin
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Lieber Constantin - ja ich mag mich gut erinnern an den WoZ Redaktor von dem man als Abschlussredaktorin die Kolumne schon mal unter dem Schreibtisch hervorklauben musste :-) - aber Frau tat das gern, weil es eben zuallermeist die brilliantesten Texte waren. Ich meinerseits: Diagnose mit 45 aufgrund Schulprobleme meiner Tochter - und diverse private Kollateralschäden. Bis hin zum Lungenkrebstod 2019 meines lieben Partners mit 60 Jahren, der sein - erst noch viel später erkanntes ADHS - seit seiner Jugend mit Nikotin "beruhigte". Deine Strategie stimmt: fuck statistics - und immer wieder trotz allem das brave heart kultivieren. Dir und dem Abenteuer Republik weiterhin alles Gute!

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Liebe Susanne
Himmel und Hölle, danke im Nachhinein für eine Menge Geduld. Und ja, es ist ein wenig gespenstisch, zu merken, dass man gedacht hat, ganz verschiedene Leute im Leben kennenzulernen – und dann waren es es erstaunlich ähnliche, als würde man in Schwärmen leben so wie Fische in einem Riff. Und herzliches Beileid im Nachhinein: Die verdammte Zigarette funktioniert einfach zu gut. Good luck!

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Die Republik fasziniert vor allem dann, wenn inhaltlicher Scharfsinn sich mit Freude an der Sprache verbindet. Die Texte von Constantin Seibt sind diesbezüglich ein besonderer Genuss! Das Beste allerdings ist das Forum: offene Debatten, Fragen, Antworten, Anregungen. In der gedruckten Presse kann ich einen Leserbrief platzieren, eine Sprechblase ohne Echo. Anders in der Republik: das Forum wächst in alle Richtungen, relativiert und befruchtet gleichzeitig. Die vierte Gewalt in neuer Dimension. Hoffen wir, dass unsere Zeitung überlebt!

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Wenn ich die Thesen und die Statistiken für ADHS lese, muss ich stark davon ausgehen, dass auch ich an dieser Krankheit leide: vieles trifft zu, anderes überhaupt nicht. Wenn jedes zwanzigste Kind diese Krankheit hat, ist die Wahrscheinlichkeit auf jeden Fall relativ gross, dass man sie selbst hat. Das Irritierende an Diagnosen für diese Krankheit ist, dass der Empfänger nun nicht nur eine Erklärung für den Verlauf seines bisherigen Lebens hat, sondern auch ein Alibi. Gut, schon Thomas Bernhard wusste: Jede Existenz hat ihr Alibi (also auch ohne ADHS). «Die armen Teufel können sagen vor Gericht, sie seien arm gewesen, die Reichen, reich. Alle mit gleichem Recht. Wie die Dummen, dass sie zeitlebens dumm gewesen sind. Die einen geben an, sie sind zeitlebens benachteiligt gewesen, die anderen geben an, zeitlebens bevorzugt. Alles ist ein Milderungsgrund. Die einen, sie hätten die ganze Welt gesehen, die andern, sie hätte nichts gesehen. Die einen, dass sie eine hohe Schulbildung haben, die andern, dass sie überhaupt keine Schulbildung haben. Der Philosoph, dass er Philosoph gewesen ist, der Fleischhauer, dass er Fleischhauer gewesen ist. Alle diese Leute haben immer ein Alibi. Jede Existenz ist ein Milderungsgrund, mein Herr. Vor jedem Gericht, vor jedem Selbstgericht.» Hat jeder, der nichts auf die Reihe bringt, ADHS? Tatsache ist, dass nun jeder, der permanent seine Termine verpasst oder zu spät kommt, eine passende Entschuldigung hat. Von der Umwelt kann dies auch als Affront wahrgenommen werden. Ich möchte damit gar nicht in Frage stellen, dass es diese Krankheit nicht gibt. Oder dass jeder, der sie hat, nicht unsere Unterstützung verdient. Doch es bleibt ein etwas schales Gefühl, dass diese Krankheit heute etwas allzu schnell diagnostiziert wird. Und dann für alles Mögliche herhalten muss.

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Danke für das Thomas Bernhard-Zitat. Meine Ferndiagnose (posthum) wäre ja, ADHS, auch er.

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Nun ja, zum Alibi.
Das sagt Thomas Bernhard ja genau das Richtige. Jeder hat eins. (Vielleicht verdient jeder sogar eins.)
Nur das Alibi hilft einem ja nichts weiter, wenn man ein konstruktives oder auch nur fröhliches Leben führen will. Ok, es gibt die Momente der Schwäche, in denen man herumhämmert. Aber die sind nicht die interessanten Momente.
Am ehesten dient eine Diagnose ja noch dazu, ein Muster zu erkennen. Und dann mit Schlauheit eine Hilfskonstruktion zu bauen, wo der gerade Weg versperrt ist. Oder auf den geraden Weg zu pfeifen und ins Exotische ausweichen.
Letztlich ist das Leben kein Gerichtsprozess; sondern eben eine Behindertenolymiade, einfach ohne Medaillen und klare Regeln.
Ic h glaube, Schopenhauer sagte das richtig: "Das Schicksal mischt die Karten, wir spielen."

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Da Betroffene vom Versäumen von Terminen & co nie was profitiert haben... was soll der Vergleich mit dem Alibi?
Ein Alibi braucht Mensch um zu vertuschen, dass er irgendwo zu seinem eigenen Vorteil was gebogen hat. Um sein Motiv abzuschwächen. Um weniger schuldig in einer Situation zu erscheinen, von welcher er profitiert hat.

Von AD(H)S profitiert man nicht. Man leidet darunter, weil man sich anders fühlt. Weil man nie in die Gruppe der Anderen passt. Weil Niemand versteht, warum man sich nicht auf das fokussieren kann, was nicht interessiert. Man leidet unter Mobbing und die meisten auch unter schlechten Schulnoten (Es sei denn, sie haben gute Lehrer udn ein sehr breites Interesse). Man leidet. Man profitiert NICHTS. Also warum sollte man ein Alibi benötigen?

Was man in der Situation braucht, ist eine Erklärung. Und nein - sie rechtfertigt nichts. Aber sie gibt einem das Gefühl, dass es einen Grund gibt, warum man anders ist. Und dann - erst dann - kann AD(H)Sler*in endlich anfangen, bewusst Strategien & Lösungen zu suchen, die auf die Problematik passen. Weil man sie endlich versteht.

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Sie sollten meinen Kommentar nochmals lesen, Frau Sterchi. Ich schreibe nicht über diejenigen, die tatsächlich ADHS haben. Ich schreibe über diejenigen, die «dank» ADHS nun für jedes ihrer Verhalten, das unter anderem auch ADHS-Patienten zugeschrieben wird, eine Erklärung oder eben ein Alibi haben. Und aus den vielen Kommentaren zur Kolumne von Seibt muss man davon ausgehen, dass weit mehr als 5 Prozent der Bevölkerung an ADHS leiden.

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Engagierte Leserin
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Herzlichen Dank. Das ist das Beste und Eindrücklichste, was ich je über ADHS gelesen habe, obschon ich mich seit Jahrzehnten aus beruflichen und persönlichen Gründen damit befasse.

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Starkes ADHS ist in unserer Familie schon lange ein Thema. Lange bevor die meisten Medien jemals etwas von Ritalin berichteten oder die Lehrer-innen darauf sensibilisiert wurden. Gut geschrieben aber in unseren Augen zu wenig gut recherchiert Herr Seibt. Wir sind nicht ganz einverstsnden.

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Um zu recherchieren: Wo denn?

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L. K., Constantin Seibt berichtet uns über seine eigenen Erfahrungen mit ADHS. Seine "Recherche", wenn man dem so sagen will, zielt in erster Linie auf das, was er als Mensch in der heutigen Gesellschaft und als direkt Betroffener persönlich erlebt und erlebt hat, wie er damit umgeht, welche Konsequenzen er daraus ableitet usw. Für mich ist dieser Bericht das Wertvollste, was sich über dieses Thema aus eigener Erfahrung überhaupt sagen lässt. Wissenschaftliche Beiträge sind im Netz jederzeit zur Genüge und jederzeit verfügbar!

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Ja, so ist es. Als Lehrerin gibt es keine anstrengenderen und "undankbareren" Schüler (selten Schülerinnen) als ADHS-Kinder. Auch nach 40 Jahren und mit professioneller Gelassenheit rauben sie mit ihrer unfreiwilligen "Sabotage" extrem viel Energie. Sie sind der Widerspruch in Person. Und haben selber keine Möglichkeit zur Einsicht. Fassen sie Vertrauen zu der Lehrperson, lieben sie sie und lassen sich führen. Das klappt aber nur gerade bei dieser Lehr-Person, der Transfer geht nicht.
Allerdings: Wenn eine frühe Diagnose vorgenommen wird und das Kind weiss, dass es ADHS hat, verändert es vieles zum Positiven: Drum frühe Diagnosen, bitte!
An unerkannten Erwachsenen-ADHS wimmelt es, ständig begegne ich welchen. Auch mein Wohnungsnachbar. Völlig berechenbar unberechenbar... Er tut mir leid, aber wenn ich auch nur eine Andeutung mache, dass er ev. auch mal falsch gehandelt habe und das genauer anschauen sollte, expoldiert er.
Ich kann mit meinem psychologischen Wissen meist die in jedem Satz lauernde Gefahr des sich provoziert Fühlens, des völlig unangemessenen Reagierens, etc. ausweichen, aber oft bleibt dann nicht sehr viel an Kommunikations- und Beziehungsmöglichkeiten mit ihnen übrig. Auch darum sind sie allein. Weil ADHS-Menschen auch aufgrund ihrer endlos schlechten Erfahrungen gegen alles Fremde misstrauisch sind (sofern sie nicht so überbordend in Neues springen wie Seibt), vertrauen meist nur den engsten Familienangehörigen und weil dort in der Regel erbbedingt auch ein ADHS-ler ist, verstärkt sich das Ganze, (siehe "Carlos" und sein Vater, oder von mir aus gesehen auch Trump). Sie überschätzen sich oft masslos, neigen zu Verschörungstheorien und denken, sie sind die Einzigen, die den Durchblick haben. Bis sie wieder mal aus dem Job geschmissen werden.
Das Allermühsamste ist wirklich die Unfähigkeit zur Einsicht bei den "Undiagnostizierten". Deshalb: Könnte hier der Link gesetzt werden zu den ADHS-Test-Fragebögen? Danke!

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Was für Einsicht?

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Der präfrontale Kortex ist wie von Seibt geschildert die Gehirnregion, in der die anspruchsvollsten Prozesse ablaufen. Sie reift als Letztes im Gehirn: Alle vorher eingegangenen Reize und Informationen müssen angemessen kognitiv verarbeitet werden. Dazu Impulse nötigenfalls hemmen, Emotionen kontrollieren,... (exekutive Funktionen). Hinzu kommt, dass die Aufmerksamkeit so rasch gestört ist, dass jedes fallende Blatt ablenkt. (Ausser, die Person tut etwas richtig gerne und nimmt dann oft nichts anderes mehr wahr). Es ist auch die Frage, ob die Wahrnehmung ev auch bereits am Anfang gestört sein kann, weil zuviele Reize zuwenig gefiltert werden, was nicht in der Region des präfrontalen Kortex wäre. Es handelt sich um einen breiten Katalog von möglichen Kombinationen und Anteilen der Defizite. Auch das Arbeitsgedächtnis ist beteiligt. Nun verfügen wir aber auch noch über die Metakognition, quasi ein Bewusstsein, das sich des Bewusstseins bewusst ist und es ständig begutachtet und bewertet. Auch sie beansprucht den präfrontalen Kortex. Es ist mein Denken über mein Denken und ermöglicht Einsicht auf einer höheren Ebene. Weil soviele Prozesse, welche die gelingende Metakognition ermöglichen und ihr vorangestellt sind, verzerrt, ungenügend, diffus, ....ablaufen bei ADHS, kann sich keine korrekte "Gesamtbeurteilung" über sich selber (und die Defizite) aus eigener Einsicht ergeben.

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Wundervolle Beschreibung lieber Constantin, vielen Dank! Vielleicht etwas trist gegen Ende. Es könnte sich ja auch unsere Welt etwas ändern, damit Personen mit solchen extremen Verhaltensausprägungen als Bereicherung und mit weniger Kampf und Sorgen ihren Platz finden. Dein Artikel ist für mich ein grosser Schritt in diese Richtung!

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Danke!
Als ADHS-Psychologiestudent habe ich schon sehr viel, trockene und hochwissenschaftliche Erklärungen für mein Sein gelesen.
Dieser Text hier trifft mein Erleben meines Seins am besten. Wie zu erwarten auch deckungsgleich mit wissenschaftlichen Fakten. Ich werde in Zukunft jeder Chefin und jeder Partnerin diesen Text geben, so quasi als Usermanual. Ein wortgefasstes Spiegelbild eines ADHS’ler. Ich muss jetzt in die Vorlesung und dabei mir selbst eine neue Chance geben, etwas zu verkacken. Es lebe die Fehlbarkeit!

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Software-Entwickler
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Ich schliesse mich dem Lob hier dankend an: Schon die ersten zwei Texte dieser Kolumne haben mein subjektives und objektives Verständnis von ADHS deutlich erhöht. Ich bin gespannt auf die folgenden Beiträge.

Mir kommt noch eine weitere Stärke in den Sinn: Die Unberechenbarkeit zwingt uns als Gesellschaft, den Rahmen nicht zu eng zu zeichnen. Nicht zu starre Strukturen zu schaffen. Das dient der Freiheit von allen!

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Interessanter Gedanke mit dem Rahmen. Den ADHS-lern helfen fixe Strukturen aber besser, sich zu organisieren.

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Strukturen als Rahmen, ja. Im täglichen Leben. Allerdings funktioniert das AD(H)Sler*innen-Gehirn ohne jede Struktur am besten. In einer Welt, in der man nicht funktionieren muss.

Ich selber funktioniere so in den Situationen, in denen ich "Feuerwehr spiele", mit am besten: Ist eine Situation zu stressig für alle Anderen, funktioniert mein Hirn hier kühl, klar und logisch. Hier brauche ich keinerlei Leitplanken - wird mein Leben aber langweiliger Alltag, so helfen mir Strukturen, die mir sagen, wo ich Prioritäten setzen muss.

Jede*r Betroffene hat (und braucht!) also Strategien als Hilfsmittel. Ich selber habe über den Tag verteilt zB immer wieder einen Wecker/Termin, der Klingelt: Ich muss zum Zug, habe einen Termin, Muss mich für den Termin fertig machen, Heute ist Altpapiersammlung, ....

Gibt es aber eine Not-Situation, in der mein Körper mir netterweise ausreichend Dopamin zur Verfügung stellt, kann ich funktionieren, wie andere dies in ihrem tagtäglichen Leben tun... ;)

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Gestalterin
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Lieber Constantin, willkommen im Club! Ich wurde 2013, mit 51 (!) diagnostiziert; nach all den Jahren als Ausserirdische war es schon eine Erleichterung, wenigstens sozusagen zu wissen, von welchem Planeten ich komme. Schon allein dieses Wissen ist hilfreich. Zu Methylphenidat: Das ist nützlich, wenn man funktionieren MUSS, wirkt aber maschinell und kalt; privat und in der Freizeit verzichte ich lieber darauf. Bin gespannt auf die weiteren Folgen!

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im Feld
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Lieber Herr Seibt
Als Mitbetroffene empfand ich Ihren Artikel als Balsam für die Seele. Es erklärt auch etwas von dem Tempo und der Unbeirrbarkeit, die Sie in das Projekt Republik einbringen. Auf dass Ihnen die Extrapuste nie ausgehen möge!

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Marco Zaugg
Coach und Prozessbegleiter
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Vielen Dank für diese anschauliche Beschreibung.
Ein wunderbares Buch, das mir einiges über das Phänomen begreiflich gemacht hat: Scattered Minds. A new look at the origins and the healing of attention deficit disorder. Gabor Maté M.D. Leider m.W. bis jetz nicht auf deutsch übersetzt.

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Thanx, seh mir an! (Kann noch etwas Material brauchen.)

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Lieber Constantin
Ich erlaube mir, Dich als Gleichgesinnter zu dutzen und habe sogleich im Begeisterungs-Affekt (u.a. Deiner brillanten Kolumne) ein Republik-Abo gemacht. Du kennst das ja, wenn man SOFORT handeln muss ;-)
Endlich jemand, der ADHS wortgewaltig und wahrhaftig beschreiben kann ohne es zu beschönigen. Und jemand -der wie ich- auch einiges später im Leben diagnostiziert wurde.
Ich bin gespannt auf Deine weiteren Artikel über beispielsweise die Medikamente, aka Methylphenidat; denn zu diesem Thema existieren leider immernoch unglaublich unkritische, ungerechte und kleinkarrierte Meinungen, die sich hartnäckig in der Gesellschaft halten. Unter anderem ist nämlich diese Tatsache ein Grund dafür, weshalb ich ein Outing im grösseren Kreis bisher unterlassen habe.

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Wow, ganz herzlichen Dank! Ich bin überwältigt.

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Mitbetroffene
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Eine ware Freude, so einen Text zu lesen. Vielen Danke Herr Seibt für Ihr Vertrauen in uns, die Leser und Leserinnen. Ich finde es toll, wenn Menschen sich getrauen Anderen etwas von sich zu zeigen. Und Willkommen im Club!
Meine Diagnose erhielt ich mit 57 Jahren, als ich mit einer Erschöpfungs- Depression in der Klinik landete. Für mich selbst hatte ich mir die Diagnose schon über 10 Jahre früher gegeben, als eines meiner Kinder Diese erhielt.
Ich bin gespannt auf Ihre weiteren Texte zu diesem Thema. Von Fachleuten Kriegt man ja oft Meinungen dazu zu lesen und leider auch allzuoft von den nicht Betroffenen die Kritik dazu. Wirklich toll, dass Sie als Betroffener hier schreiben!
( wer Gramatik- Fehler in meiner Text findet, darf sie gerne behalten)

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Danke Herr Seibt! Für die Innensicht, für die Klarheit, für die Bereitschaft dies mit uns zu teilen.

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im Feld
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Es ist schön, dass das Wissen um die interessanten biochemischen Prozesse bei ADHS sehr zugenommen hat. Was mich etwas stört, ist die daraus hergeleitete Anmassung, Ferndiagnosen an Leuten zu stellen, die sich etwas unkonventionell benehmen. Da muss jeder und jede eigene Strategien entwickeln, um mit den Irritationen umgehen zu können , die ein solches Verhalten auslöst. Eine gute Wahl ist ein Ambiguitätstoleranztraining.
Was die Diagnose selbst betrifft, unterliegen wir vielleicht einem grundlegenden Missverständnis: Diese ist nämlich ausschliesslich für die ADHS-Betroffenen (das gilt auch und insbesondere für Minderjährige und Schutzbefohlene!) bestimmt. Eltern, Lehrpersonen, Partner, umso mehr Nachbarinnen und Mitreisende können sich nur immer wieder neu zu ihnen in Beziehung setzen, sich im Idealfall vielleicht auch von ihnen und durchaus in alle Richtungen spiegeln lassen. Die Deutungshoheit und der Interpretationsspielraum und dessen hermeneutische Grenzen obliegen ganz allein den ADHSBetroffenen selber. Alle anderen sollen und müssen sich wie auch immer geartet dazu verhalten. Sie müssen ihre Pflichten wahrnehmen, wo sie welche haben, und sind dabei aber selber verantwortlich für ihr Bedürfnis nach Dankbarkeit, nach Abenteuer, nach Distanz oder Strukturiertheit, das sie im Gestalten ihrer Beziehungen (auch zu Minderjährigen, auch zu nahestehenden Personen mit ADHS) verspüren.

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Das war der ehrlichste, beste aber auch erschütterndste Artikel zu ADHS, den ich je gelesen habe. Und wenn nun weder Glaube noch Hoffnung bleiben, rettet dann die Liebe?

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Mhmm das kommt mir alles viel zu bekannt vor. Ausser das verständnisvolle Umfeld, das gibts bei mir nicht. Vielleicht weil ich eine Frau und kein Mann bin und alles selbst im Griff haben sollte. Habe ich ADHS?

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Doch Sie sind jederzeit fähig, das Ferien­flugzeug, ein Jobinterview oder Ihr Date zu verpassen.
Und das aus absolut albernen Gründen.
Etwa, weil Sie auf Ihrem Computer Patience spielten.

Danke. Äusserst präzise!

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Liliane Wihler
Deutschlehrerin
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Das habe ich auch so empfunden... Es ist mir nämlich schon zu oft passiert, dass ich meine Bushaltestelle verpasst habe, weil ich in irgendetwas tief versunken war ...

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Köchin
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Châpeau

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Links für ein kurzen Selbsttest (der NUR ein Vorinstrument einer umfassenden Abklärung sein kann!) und das professionelle Testing-Set, das bei Diagnosen verwendet wird, zur Erfassung von ADHS bei Erwachsenen: https://adhs-muenchen.net/wp-conten…ebogen.pdf
https://www.testzentrale.ch/shop/ad…hsene.html

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(durch User zurückgezogen)
Betroffener
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· editiert

Mit knapp 45 Jahren erhalte ich die gleiche Diagnose, auch wenn es bei mir deutlich schwächer ist. Jetzt verstehe ich auch warum ich denke, dass ich immer Glück hatte im Leben. Weil es nicht selbstverständlich ist, mit so einem sprunghaften Gehirn die Dinge auf die Reihe zu kriegen. Rückblickend habe ich fast alles richtig gemacht und super kompensiert. So jetzt lese ich noch die restlichen ADHS-Kolumne, wenn mich nichts anderes ablenkt..

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Nachdem ich der Republik die wahre Ursache zu ADHS zukommen liess, müsste die ganze Kolummne neu geschrieben werden. Das Wort Mitgefühl hat die Erdlinge 2015 via Anthony William im Buch „Mediale Medizin“ über die wahre Ursache aufgeklärt, inklusive unzählige sogenannte „unheilbare chronische Schmerzkrankheiten“ wie MS, rheumatische Artritis, Diabetes, Autoimmunkrankheiten uvm.

Die tausenden auf wundersame weise Genesenen sprechen für sich, es ist wirklich die Wahrheit und ein riesen Skandal, drum wohl auch für die Republik eine Nummer zu gross um darüber zu berichten..

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