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Beiträge zu «Nix Styx»



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Antonia Bertschinger
Ratsmitglied Project R Genossenschaft
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Vielen Dank für diesen Beitrag. Ich kann jetzt ein sehr einschneidendes Erlebnis mit der Todesfuge besser einordnen - leider wird es dadurch aber nur noch erschreckender.
In der Schule (RG Rämibühl Zürich, irgendwann vor 1990) hatten wir im Deutschunterricht eine Doppellektion bei einem Praktikanten (Lehramtskandidat? Weiss ich nicht mehr.) Er nahm mit uns die Todesfuge durch. Die Aufgabe? Mit farbigen Stiften die musikalische Fugenstruktur mit Dux und Comes etc. einzeichnen.
Ich sass die ganze erste Stunde mit Schweissausbrüchen da und haute in der Pause ab. Kann also sein, dass in der zweiten Stunde "auch noch" auf den Inhalt eingegangen wurde, aber irgendwie bezweifle ich das. (Bemerkenswerterweise kamen nach der zweiten Stunde unsere beiden jüdischen Mitschüler zu mir und versuchten mich mit der Bemerkung zu trösten, der sei halt ein Idiot wie viele andere...)
Damals und bis vor einer halben Stunde vermutete ich auch etwas in der Richtung - der Student war ein Idiot, der irgendwie nicht verstanden hatte, dass es in dem Gedicht um den Holocaust geht und dass das tamisiech wichtiger ist als die Fugenstruktur. Aber nach Lektüre dieses Artikels sehe ich, dass das wohl kein individueller Ausreisser eines Tubels war, sondern in einem ganz klaren Kontext steht.
Und das Sahnehäubchen ist, dass ich ziemlich sicher bin, dass der betreffende Praktikant derjenige war, der später im NZZ-Feuilleton schrieb... (Aber nicht ganz sicher - wir hatten mehrere Praktikanten, und ich habe während dieser grauenhaften Lektion kein einziges Mal nach vorne geschaut und habe daher kein Bild mehr vor mir von diesem Tubel.)

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Ich kann Ihre Wut verstehen.

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Antonia Bertschinger
Ratsmitglied Project R Genossenschaft
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Generell kam ja das Thema Holocaust/Nazis/Zweiter Weltkrieg im Unterricht nicht vor - bei der Matur waren wir in Geschichte erst bis 1920 gekommen, und andere Fächer fühlten sich dafür sowieso nicht zuständig. Wirklich unsäglich. ((War das evtl. Absicht ...?))

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"In der Schule hatten wir im Deutschunterricht eine Doppellektion bei einem Praktikanten. Er nahm mit uns die Todesfuge durch."
Sätze wie aus einem Entwicklungsroman

Ich teile mit Ihnen den Eindruck des Versagens der Mittelschule als bürgerlicher Bildungsinstitution in diesem Kontext. Bemerkenswert für diejenigen von uns, die sie nicht nur von früher, sondern allenfalls auch aus der Sicht eigener Kinder kennen, dass sich scheinbar gar nicht viel verändert hat (This be the verse)

Auf dem Formular der Kandidatinnen für den Gymnasiumsschuldienst bis Mitte 90er Jahre die Frage nach dem militärischen Dienstgrad, der pädagogischen Ansicht geschuldet, dass einer, der auf dem Kasernenhof laute Töne anschlug, auch auf dem Schulhof seine Erfüllung fände (ob - unter ganz anderen Umständen - das Unfassbare auch an unserer Schule normal gewesen wäre? worauf uns die beiläufigen Erniedrigungen der Schwächeren vorbereiteten?)

Erleichterung, es längst überstanden zu haben, auch wenn (selten) ein Nachttraum die Jahre dazwischen verwischt

Es gab andere, einen Franzlehrer, dem ein Bilingue in der Klasse sagen konnte, was wir lesen sollen ('Le Grand Meaulnes' wollte er), einen Geschichtslehrer mit ansteckender Begeisterung für sein Fach, obwohl auch er es nur bis ca. 1920 schaffte, aber die Begeisterung war übertragbar auf Themen, die mir wichtig waren

Persönliche Erfahrung (des Leidens), Nachdenken über die Beschränktheit von Autoritäten (knapp post-wilhelminische Karikaturen), (kurze) Hesse-Hingerissenheit gefolgt von (lebenslangem) Hesse-Ekel, systemisches Nachdenken über eine Institution, Entsetzen, dass Wesentliches wie die Shoah unterschlagen wurde, Sinnieren über den Fortlauf der Zeit, Erinnerung an erste Liebe

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Sehr geehrter Herr Graf
Ich bin Germanistin und habe mich während meines Studiums mit Celan beschäftigt – und ihn dann ein wenig vergessen. Jetzt möchte ich mich aber ganz herzlich für diesen differenzierten und informativen Artikel bedanken! Es hat mich geradezu beglückt, ihn zu lesen, und mich auch dazu angeregt, mich wieder einmal mit Celan zu beschäftigen. Froh bin ich auch um die reichhaltige Angabe zu Sekundärliteratur.

Ein ganz grosses Kompliment.
Herzlich R. K.

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Dieser Beitrag berührt mich tief und rüttelt an mir, obwohl ich bis anhin nichts wusste über Paul Celan, noch nie einem seiner Gedichte begegnete. Wie kommt es, dass wir Kinder in der Schule vom Thema Holocaust nichts erfuhren? Warum nur wühlt mich dieser Bericht auf? Die Gedichte ebenso wie das Leben von Paul Celan?

Danke für den Bericht.

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Erinnererin
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Danke für die anregende Lektüre, ich werde Paul Celan wieder lesen und auch die literarischen Tipps beherzigen. Meine Erinnerungen zu seiner Todesfuge eben auch an einem Zürcher Gymnasium aber sicher viel länger zurück liegend sind ganz andere als die beschriebenen. Ich erlebte als Arbeiterkind, das zufällig schulgescheit, war eine intensive, prägende und durchaus nachhaltige menschlich bewegende Zeit gerade im Deutschunterricht bei einer jungen Lehrerin. Sie suchte ein Bild der Margarethe, goldenes Haar, sah sich suchend um und sagte: „Ja, wie Sie, Monica“. Wir lasen, interpretierten, hörten zu, waren alle bewegt, betroffen. Nix wurde verheimlicht. Und ich wäre so viel lieber Sulamith gewesen. Das merkte meine Lehrerin und nahm es zum Thema, über unsere eigene Empathie zu sprechen, die Paul Celan so genial ausgelöst hatte.

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Bleibt die Frage, wie die goldene Margarete mit der Tatsache umgeht, dass ihr Geliebter ihr, wenn es dunkelt, Liebesbriefe schreibt und tagsüber Gräber für die aschegewordene Sulamith ausheben lässt. Wird sie unter dem Wissen brechen oder verbiegen?

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Wieder so ein Beitrag: Erhellend, klärend, vertiefend, anregend. Ich habe Celans Gedichte immer wieder gelesen, sie blieben mir unerschlossen, ich hatte, bei allem Zauber, das Gefühl, nur wenig oder nix zu verstehen... und war doch gefesselt. So vieles wusste ich nicht, so interessant ist dieser Artikel!
Wieder so ein Beitrag, der mich dazu anstachelt, meinem Freundeskreis erneut bei Gelegenheit unterzujubeln: Lest doch die Republik!

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Marco Zaugg
Coach und Prozessbegleiter
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Ja, danke an den Autor für diesen breit recherchierten, klar gedachten und erhellenden Text. Da ist Vieles neu für mich - und sei es auch nur die Herkunft von Celans Namen - und mir scheint, dass ich jetzt ein paar Dinge besser verstehe, zumal ich mich bisher nie vertieft mit Celan befasst hatte. Solche Texte, aus einer beobachtenden und gewichtenden Distanz und nicht in von der überbordenden Hektik unmittelbarer Auseinandersetzungen gespiesen, sind wichtig und auch zutiefst politisch. Danke auch an die Republik, die der Kultur wichtige Räume zur Verfügung stellt.

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"Das ist es ja: Mit den Texten von Paul Celan wird man nicht fertig."
Ja, sie begleiten einen wohl ein ganzes literarisches Leben lang, verunsichern, irritieren, verstören, beglücken aber auch durch ihre Kraft der Bilder, der Sprache und der oft dissonanten Melodien.
Die Gedichte lassen sich genau so wenig wie der Mensch Celan in eine Eindeutigkeit bringen. Durch ihre Widersprüchlichkeit und Uneindeutigkeit regen sie an, bleiben sie lebendig und eröffnen so immer wieder neu Denk- und Sprachwege.
Vielen herzlichen Dank für diese einfühlsamen und differenzierten Gedanken.
P.S. Als Einführung in das Leben und das Werk des Dichters kann ich das Buch von Thomas Sparr "Todesfuge - Biographie eines Gedichts" auch sehr empfehlen.

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Ein Trost und eine Aufforderung an alle, die aufgrund des Handicaps ihrer späten Geburt im Deutsch an Celan und in der Geschichte am Holocaust (ich hör's kann's aber nicht glauben!) "vorbeisegelten" - man kann das alles auch jetzt noch nachholen, also holt's nach! Jetzt! Sofort!

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Bitte ändert diesen unsäglichen Artikelhinweis. Die "Todesfuge" war keineswegs "eines der ersten Zeugnisse der Ermordung von Juden in deutschen Todeslagern". Schon ab 1942, also mindestens zwei Jahre vor seiner EntstehunG. K.nnte die Welt sehr genau wissen, was da passierte. Man lese dazu z.B. Gaston Haas' Dissertation, die das selbst für die Schweiz nachweist... Solche Aufmacher sind Teil des kritisierten "Verschweigens".

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Simplicissimus
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Vielen Dank an den Autor des Artikels für diese feinsinnige Erinnerung an einen grossen Poeten und sein Werk. Werde wohl bald auf den Dachboden gehen, da schlummert noch so das ein oder andere aus meiner Schulzeit das wieder einmal gelesen werden will.

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Sind Sie ein Computer? Der Spracherkennungs-Algorhythmus auf 2 sind mehr als 0 eingestellt. Ich lese "eines der ersten Zeugnisse..."
Ich reagiere so, weil die "Todesfuge" 1975 ! bei mir eine tiefgreifende Erschütterung und Erkenntnisse ausgelöst hat - "nachhaltig bis heute: mit dem Suchen nach Verstehen. Jawohl, ich bin zur Schule gegangen, sogar in weiterführende Schulen; zugänglich waren mir die literarischen Abteilungen der Bibliotheken und nicht die akademischen Dissertationen.
"Nyx Styx" , ein Beitrag, der mir viel, sehr viel Stoff bietet, mir weiterhin daraus die Kleidung zu nähen, um eingiermassen durch die erkalteten Tage zu kommen.

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Herzlichen Dank für diesen wunderbaren Artikel!

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Dem schliesse ich mich gerne an.

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Herzlichen Dank für Ihre Rückmeldungen!

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Rudolf Weiler
Enthusiast und Feedbäcker
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Danke für eine ausführliche Darstellung zu PC/Ancel (nicht Antschel). Kommt ein bisschen spät, besticht aber durch den weiten Blick und die Erwähnung des übersetzerischen Schaffens Celans, was nicht nur bei ihm, sondern auch bei anderen Autorinnen und Autoren oft gerne vergessen geht.

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Wenn es beim Unterstreichen geblieben ist, ist das tatsächlich schrecklich und bleibt hinter der Wucht des Textes sehr armselig zurück. Vielleicht hat sich der arme Praktikant ja arg in der Zeit verschätzt, und da wäre noch etwas nachgekommen? Wo ich respektvoll widersprechen möchte: Man kann sich der Unsagbarkeit schon von der Struktur her annähern, meine ich. Vielleicht wird der Abgrund, der sich in der Todesfuge auftut, nicht nur fühl-, sondern auch sichtbarer, wenn man sich erst überlegt, welche Struktur da ist und wie sie bricht?

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Nur eine Fußnote zu Ihrem glänzend geschriebenen Beitrag: Die Bedeutung der Celan-Goll-Affäre für Werk und Vita des Dichters habe ich in einem - an entlegener Stelle - publizierten Artikel aus juristischer und literaturwissenschaftlicher Sicht vor Jahren analysiert (siehe P.G.: „“Eber“, Urheber: Das „schicksalhaft Einmalige“ und die juridische Individualität in Celans Dichtung, Scientia Poetica - Jahrbuch für die Geschichte der Literatur und der Wissenschaften 2004, 128 - 169)

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