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2009 schlenderte ich durch ein nobles Kaufhaus in Peking und wusste, dass ich mir hier nichts leisten werden (Kleider in der Schweiz sind günstiger). Nachdem ich doch auch sehr einfache Verhältnisse kennengelernt habe, philosophierte ich: Schreit dieser glänzende Luxus nicht nach einer kommunistischen Revolution? Ist die aktuelle Führung dagegen resistent, weil sie sich selbst kommunistisch nennt?

„Direktor Wu gehört nun mal zu den Gross­grund­besitzern und Kapitalisten“; diesem Zitat folgend und der Befürchtung der Grossmutter, sie würden alles konfiszieren, hoffte ich etwas zu lesen über die Ungleichheit damals und heute. Nun bin ich etwas enttäuscht, die aktuelle Ungleichheit wird zwar illustriert, aber nicht diskutiert. Das leichte Leben des Director Wu, der noch nicht einmal an der Spitze der Hierarchie steht, ist fast beneidenswert. Sein adliger Ursprung faszinierend - aber weshalb lässt die Autorin die Herren nicht darüber diskutieren, wie China wohl heute aussehen würde, wenn der Adel nicht gewaltsam enteignet worden wäre? Inwiefern das Ausebnen der Einkommensungleichheit heute wieder ein Thema sein könnte/sollte?

Auf Seite 403 realisiere ich, dass es eine spannende Geschichte ist, aber man doch nicht zu viel von ihr erwarten kann. Richtig, ein Buch kann China nicht erklären.

In Europa hatten wir die französische Revolution - aber das Eigentum wurde kaum je angetastet - selbst die Sklavenhalter wurden bei der Entlassung der Sklaven entschädigt (nicht die Sklaven). Die psychische und physische Gewalt, welche mit der Enteignung in China einher ging, ist abscheulich. Aber wie überheblich der Adel mit dem einfachen Volk umging, kann man auch nach dieser Lektüre kaum repräsentativ beurteilen.

Was mir im Buch auch fragwürdig oberflächlich thematisiert ist, ist das „Banditentum“. Was hat die Leute zu Banditen gemacht? Mir kam unweigerlich Robin Hood in dem Sinn - aber gelobt wird nur der glorreiche Sieg der Armee. Insofern scheint mir das Buch nicht sehr kritisch gegenüber der Geschichte. Kritik an der Bodenreform kann die Geschichte nicht ändern, aber eine Kritik an der kommunistischen Partei, dass sie es nicht geschafft hat, erneutes Aufblühen von Ungleichheit zu verhindern, wäre doch interessant.

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Interkultureller Coach
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Vielleicht sollten Sie wieder mal die Geschichte der französischen Revolution studieren mit der "psychischen und physischenGewalt", die damals in unserem Nachbarland ausgeübt wurde. Eine Frage: Wo sehen Sie in China ein Aufblühen der Ungleichheit?

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Stimmt, die französische Revolution war sehr gewalttätig. Aber so wie ich Pikettys „Kapital und Ideologie“ lese, wurde geerbtes Eigentum juristisch nicht angetastet.

Das China, in dem alle im gleichen Mao-Anzug trugen, kenne ich nur vom hören sagen. Aber zumindest das China, das ich 2009 auf Geschäftsreisen kennen gelernt habe, zeugte von hoher Einkommensungleichheit. Aber ja, der allgemeine Anstieg vom Einkommens-Niveau ist bewundernswert. Trotzdem; wie man sich gleichzeitig kommunistisch nennen und Hausangestellte und Luxuswagen leisten kann, kann ich nicht verstehen.

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Ich finde Ihre Buchbeschreibung richtig spannend, frei von den üblichen Vorurteilen: Sie haben mich überzeugt, das Buch sogleich zu kaufen. Vielen Dank, Frau Schneider.

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Wo finden Sie die "üblichen Vorurteile" und welche wären das?

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Danke für diese sehr anregende Buchbesprechung! Ich füge diesen Buchtitel gerne meiner langen Leseliste bei.
Nur etwas möchte ich anfügen: „Komplex, veränderbar und widersprüchlich“ - gilt das nicht auch für unsere Welt hier im Westen? Ich vermute, dass für Aussenstehende unsere „Kultur“ genau so schwierig zu verstehen ist und dass wir uns mit unserer Komplexität und Widersprüchlichkeit genau so schwer tun.

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Das ist ganz sicher so, ich gehe mit Ihnen völlig einig. Wichtig scheint mir, das politische System (nicht nur als Struktur, sondern mitsamt seinen Menschen) von der im Alltag wirkenden Bevölkerung zu unterscheiden. Das würde auch helfen, unsere Europäischen Nachbarn besser zu verstehen.

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Kritiker
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Gute Rezension, die Lust auf das Lesen des Romans macht. Nur ein kleiner Schnitzer ist zu korrigieren: Einen Adel hat es in China zumindest nach dem 9. Jhdt. nicht mehr gegeben: Er ist damals mit Stumpf und Stiel ausgerottet worden. Die Führungsschicht unter den Kaisern setzte sich aus konfuzianisch geschulten Literaten-Beamten zusammen. Im Wesentlichen war China danach eine Meritokratie: Die erste der Weltgeschichte. China war überhaupt bis zum katastrophalen Absturz im 19. Jhdt. auf vielen Gebieten führend. Es lohnt sich, sich mal mit der langen Liste chinesischer Erfindungen zu beschäftigen. Ohne sie hätte weder die industrielle Revolution noch das kurze Strohfeuer der europäischen Weltherrschaft stattgefunden.

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Fantastische Rezension! Merci!

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Danke für die anregende Buchbesprechung und Danke für weitere Empfehlungen dieser Art. Ich werde es sicher anschaffen, nur schon um meine Reiseerlebnisse vor zwei Jahren in China (Peking) besser einordnen zu können.
Wie wäre es mit einer ähnlichen tiefgründigen Empfehlung für Literatur von Südkorea, Taiwan?

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Robert Stadler
"Pensionierter" China-Reisender
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Die "üblichen Vorurteile" findet man in unseren westlichen Medien fast täglich in Berichten und Meldungen über oder aus China. Die Folge ist ein ausgesprochen negatives und wenig differenzieren Bild über China in weiten Teilen unserer Bevölkerung. Mein Tipp: Selber nach und in China reisen oder mit Menschen dort in Kontakt treten.

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Bloss meie ich, auch schon von Chinareisenden "die üblichen Vorurteile" bestätigt erhalten zu haben.

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Da kann ich Ihnen nur zustimmen. Ich habe dort an verschiedenen Orten im Bereich Anlagenbau gearbeitet und kenne die andere Seite der Medaille auch. Die meisten Reisenden und Touristen werden zwar vordergründig höflich und korrekt behandelt, aber als Arbeitskraft und "longnose" siehts dann anders aus; das geht dann zu offen rasistischen Bemerkungen von Parteimitgliedern bis zu Zurückhalten und Einschliessen, um den Arbeitgeber in der CH unter Druck zu setzen; prinzipiell ist bei Problemen der Nichtchinese an allem schuld und die chinesischen "engineering" Titel sind nicht das Papier wert - da hat doch noch jeder einen Cousin, der in der Partei genug hoch dabei ist um ein Papier zu organisieren.

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Ich weiss, ich bin etwas spät dran mit meinem Kommentar aber ich möchte doch noch etwas zur Diskussion stellen. China sei ein autoritäres Regime ohne Presse­freiheit, aber kein Terror­staat wie Nordkorea, schreibt Frau Schneider. Was man von Nordkorea hört und liest ist teilweise schrecklich. Nur: Was macht China mit den Uiguren, was haben sie in Tibet angerichtet, wie gehen sie in Hongkong vor und mit ihren Mitbürgern im ganzen Land in Sachen Überwachung? Ich jedenfalls möchte nicht in China leben, da wäre ich wahrscheinlich schnell hinter Gittern. Was mich nicht überrascht, ist die heuchlerische Haltung des Irans, deren Mullahs am liebsten jeden umbringen würden, der nicht Muslim ist, aber mit den Chinesen neue Handels- und wer weiss, was für Abkommen abschliesst. Sie haben von den Uiguren wahrscheinlich nichts gehört. Wir sollten uns gut überlegen, in welche Abhängigkeit wir uns von diesem Land begeben wollen. Mir wäre auf jeden Fall ein Rahmenabkommen mit der EU lieber.
Wahrscheinlich hat mein Kommentar nichts mit der Erzählung im Roman zu tun aber ich denke, die heutige chinesische Gesellschaft wird geprägt von der gegenwärtigen Politik, die für uns nicht durchschaubar ist.

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Ob partielle Übereinstimmungen des Romans mit der Wirklichkeit vorhanden sind, weiss man nie.
Was bedenklicher ist für mich, ist das Nichterkennenwollen der Kultur - und natürlich des Sports - als Tarnkappe für jegliche möglichen Verbrchen und Verstösse gegen die Menschenrechte durch solche Diktaturen.
Teils lesen sich gewisse Kommentare wie die verharmlosenden Berichte Frölichers aus Berlin ans EPD und an den Bundesrat.
Das ganze wird natürlich von Ueli Sigg noch getoppt, der die Sicherheit und Bekanntheit seiner Sammlung in HK über die Freiheitsrechte der Einwohner von Hongkong stellt.
Nachzulesen in art net.
‘Better Days Will Come’: Swiss Collector Uli Sigg on Why Even a Less Free Hong Kong Remains the Best Home for His Peerless Chinese Art Collection

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Interkultureller Coach
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Haben Sie den Roman gelesen? Und wenn ja, wo orten Sie Diskrepanzen mit der Wirklichkeit?

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Ihren Link auf das Interview konnte ich nicht ganz lesen:

以下是该参考资料在北京时间2020年11月07日 09:12:24的网页快照。此快照仅用于佐证词条内容来源,如果对快照内容有疑问,可点击投诉反馈。

原网址被百科词条引用后,内容可能发生变更。继续
Und wenige von Ihnen. Das Buch von Fang Fang werde ich lesen. Da ich einmal in Zentralasien reisen konnte, hoffe ich auch, mehr über den Vielvölkerstaat zu erfahren.

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Leser
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Super Beitrag! Insbesondere da mich aktuell die "verrückte" Zeit von Mao, Stalin, Hitler speziell interessiert. Gibt es ein ähnliches Buch die UdSSR betreffend - respektive, ich müsste wohl schreiben - Russland betreffend? Danke für weitere Tipps.

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Wassili Grossmann: Leben und Schicksal

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Das Buch secondhand Zeit von Swetlana Alexijewitsch dokumentiert die Lebensumstände Einzelner in der ehemaligen Sowjetunion und den Nachfolgestaaten.

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Mir hat das Buch von Fritz Pleitgen/Michail Schischkin "Frieden oder Krieg - Russland und der Westen - eine Annäherung" sehr geholfen, viel Irritierendes und Widersprüchliches in unserer Russland Wahrnehmung etwas besser verstehen und einordnen zu können.

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Oder "Limonow" von Emmanuel Carrière

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Interkultureller Coach
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Danke für diesen Beitrag. Das Buch von Fang Fang habe ich mir gleich heruntergeladen … spannend … hier finde ich das China wieder, das ich kenne und so auch erlebt habe.

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Besten Dank für den Hinweis auf das Buch von Fang Fang, das ich noch nicht kenne!

An einem Punkt möchte ich Lea Schneider widersprechen. Sie schreibt von der "nicht vorhandenen Vergangenheits­bewältigung in der Volks­republik". Das ist eine im Westen sehr gängige Behauptung, die aber nicht den Tatsachen entspricht. Den Gegenbeweis tritt das unlängst veröffentlichte Buch des deutschen Soziologen Daniel Leese an, das den Titel trägt: "Maos langer Schatten. Chinas Umgang mit der Vergangenheit" (Verlag C.H. Beck, München 2020). Leese weist darauf hin, dass sich die Kommunistische Partei Chinas "in weitaus grösserem Umfang als bisher angenommen" mit historischem Unrecht auseinandergesetzt habe (S. 32). Es wäre schön, wenn die "Republik" auch auf dieses Buch ausführlich eingehen könnte!

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Danke, ich Habermas Buch gleich bestellt. Kennt jemand das unten empfohlene Buch von Wassili Grossmann?

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Druckfehler: nicht Habermas Buch, sondern: ich habe das Buch

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:-) Und ich dachte schon, es hätte "ich Heidegger Buch" heissen sollen.

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"Leben und Schicksal" ist das "Krieg und Frieden" des 20.Jh., ein Jahrhundertroman.

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Auch sehr empfehlenswert: "Wild Swans" von Jung Chang.
Diese (Auto-) Biographie erzählt von drei Generationen von Frauen, von der Grosssmutter über die Mutter bis zur Autorin, und verdeutlicht dabei die ungeheuren Umbrüche, die sich im China des letzten Jahrhunderts ereigneten.
Mir zeigte dieses Buch auf, wie nicht-linear und komplex die moderne Geschichte von China verlief.
Das Buch gibts auch in deutscher Übersetzung:
https://de.wikipedia.org/wiki/Wilde…ung_Chang)

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Ich denke, ein solch undiplomatisches Vorgehen ginge in der CH auch nicht. Vielleicht nicht einmal in den USA, und die sind ja nicht zimperlich.

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