Israelis trauern um einen ermordeten Angehörigen. Das Massaker zeigt, dass die Hamas den Begriff der Zerstörung nicht nur politisch, sondern genozidal interpretiert. Amir Levy/Getty

Bewältigung

Warum die Ereignisse vom 7. Oktober für die jüdische Gemeinschaft ein unfassbares Trauma bedeuten. Und wo auch in dieser Situation Funken der Hoffnung einer Erneuerung aufleuchten.

Von Alfred Bodenheimer, 18.10.2023

Vorgelesen von Danny Exnar
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«In der Stadt des Massakers» lautet der Titel eines der einfluss­reichsten Gedichte der jüdischen Moderne. Geschrieben hat es Chaim Nachman Bialik im Jahr 1904. Das Gedicht bezog sich auf das Pogrom von Kishinev im zaristischen Russland vom April 1903, in dem 49 jüdische Menschen ermordet und Hunderte verletzt wurden. Bialiks Gedicht wurde in erster Linie deshalb so bedeutungsvoll, weil es als energische Absage an die passive Märtyrer­rolle verstanden wurde, die seit dem Mittel­alter die jüdische Gemeinschaft gekenn­zeichnet hatte. Es wurde zum Aufruf für die jüdische Jugend jener Zeit, sich zu organisieren und zu wehren.

Auch der Selbstwehr­gedanke der zionistischen Bewegung wurde von diesem Gedicht mitgeprägt, und lange vor der Schoah wurde die Notwendigkeit eigener Wehrhaftigkeit zu einem festen Bestand­teil des Selbst­verständnisses. Die Verteidigung der zionistischen Siedlungen und Kibbuzim in der Zeit vor der Staats­gründung Israels, später die Gründung der Verteidigungs­organisation Hagana, die zum Vorläufer der israelischen Armee wurde, sind indirekt die Folge der Lehren von Kishinev. Lange vor der Schoah hatte sie sich der Zionismus zu eigen gemacht.

Erst wenn man die Konnotationen des Begriffs «Kishinev» in der jüdischen Erinnerung kennt, wird die Überschrift eines Artikels, den der Historiker Yuval Noah Harari dieser Tage in einer israelischen Tages­zeitung veröffentlicht hat, verständlich: «Der Weg zurück nach Kishinev».

Das Massaker der Hamas, stellt Harari fest, habe genau jene Pogrom-Situation in das Staats­gebiet Israels getragen, deren Verhinderung der eigentliche Existenz­zweck des Staates sei.

Zum Autor

Alfred Bodenheimer ist Professor für jüdische Literatur- und Religions­geschichte an der Universität Basel. Er ist Verfasser zahlreicher wissenschaftlicher Studien und unter anderem Heraus­geber einer Geschichte der Israelitischen Cultus­gemeinde Zürich. Bekannt geworden ist Bodenheimer als Autor von Kriminal­romanen, die auch Milieu­studien des Zürcher Judentums darstellen. Er lebt mit seiner Familie in der Schweiz und in Israel.

Neun Monate lang sind seit Jahres­beginn in Israel Woche für Woche Hundert­tausende gegen die Regierungs­politik und insbesondere ihre gegen den Rechts­staat gerichteten Reform­pläne auf die Strasse gegangen. Neun Monate lang haben Medien­schaffende, Sicherheits­experten, Ökonominnen, Juristen und Anführerinnen der Protest­bewegung alle möglichen Szenarien beschrieben, die auf eine existenzielle Gefährdung des Staates hinaus­liefen. Man sprach von der grössten Gefahr für das Land seit dem Jom-Kippur-Krieg 1973, von der Angst vor einer «Zerstörung des dritten Tempels», womit der Staat Israel gemeint war.

Im Zentrum standen Szenarien etwa einer ökonomischen Auszehrung durch ausbleibende Investitionen in einem nicht mehr wirklich demokratischen Land, in dem Investoren vor der Willkür der Politik nicht geschützt sind. Oder auch eine Schwächung des Militärs durch die Verweigerung des Reserve­dienstes von Soldatinnen, die den Eid auf den Dienst in einem jüdischen, demokratischen Staat als nicht mehr eingehalten betrachteten und befürchteten, sich beim Wegfall glaubwürdiger Gerichts­barkeit im eigenen Land vor dem Inter­nationalen Gerichtshof in Den Haag wieder­zufinden.

Viele sahen das Ende des Staates auch in der Gefahr einer Diskriminierung von Minderheiten durch die Ideologie einer jüdischen Suprematie, wie die extrem rechten Koalitions­partner sie vertreten. Damit geriet nicht nur der demokratische, sondern mindestens so sehr der jüdische Charakter dieses Staates in Gefahr – durch eine verheerend fehlgeleitete Interpretation der in den Beschwernissen des Exils geformten Religion mit ihrer Ausrichtung auf Pragmatismus und Menschlichkeit.

Aber niemand glaubte, auch in den schlimmsten Albträumen nicht, dass der Staat unmittelbar vor der grösst­möglichen Infrage­stellung seiner Existenz­berechtigung schlechthin stand, wie sie nun Harari beschrieben hat.

Wenige Wochen ist es her, da hat der israelische Premier­minister Benjamin Netanyahu, der zuletzt innen­politisch immer mehr als schwächliche, selbst­bezogene und korrupte Figur wahrgenommen worden ist, seine Rede vor fast leeren Rängen in der Uno-Vollversammlung gehalten. Dort versuchte er staats­männische Gestalt zurück­zugewinnen, befeuerte den Plan eines saudisch-israelischen Friedens­abkommens und gab zugleich den Palästinenserinnen zu verstehen, dass für sie allenfalls Brosamen vom Tisch der Reichen und Mächtigen abfallen würden. Diese Nachricht war in erster Linie an die Autonomie­behörde in der Westbank gerichtet, die mit Israel bis heute in einem gewissen Ausmass kooperiert und in Verhandlungen einbezogen ist, nicht an die Hamas, deren Charta nach wie vor die Zerstörung Israels fordert.

Benjamin Netanyahu hat in den letzten Jahren gemeint, die Unversöhnlichkeit der Hamas politisch instrumentalisieren zu können. Es existiert ein Presse­bericht von einem Treffen der Likud-Partei im März 2019, in dem Netanyahu folgender­massen zitiert wird: «Wer die Entstehung eines palästinensischen Staates verhindern will, muss sich für die Stärkung der Hamas und für das Transferieren von Geld an die Hamas einsetzen. Das ist ein Teil unserer Strategie, die Palästinenser in Gaza von den Palästinensern in Judäa und Samaria (das heisst der Westbank) zu isolieren.»

Aus der vermeintlich genialen Taktik des schlauen Fuchses, für den seine Bewunderer den Premier­minister hielten, ist über Nacht die verheerendste «Torheit der Regierenden» geworden, um den berühmten Titel einer politologischen Studie von Barbara Tuchman zu zitieren.

Das Massaker vom 7. Oktober war nichts weniger als die symbolische Zerstörung des Staates selbst und machte deutlich, dass die Hamas den Begriff der Zerstörung nicht nur politisch, sondern genozidal interpretiert. Es hat gezeigt, dass letztlich dasselbe gilt wie in den 1990er-Jahren, als es vor allem Serien von Selbstmord­attentaten waren, die alle Friedens­chancen nach dem Oslo-Abkommen in Blut ertränkten. Jüdinnen sollen sich hier nie, zu keinem Zeitpunkt zu Hause fühlen, der nächste Holocaust wartet um die Ecke.

Er würde übrigens, ginge es nach den Aber­tausenden von Anhängern, die diese Ideologie mittlerweile auch unter Musliminnen im Westen besitzt, gleicher­massen auf die Juden in den Ländern der Diaspora um die Ecke warten. Es ist, auch in der Schweiz, nicht Zwängerei, es ist fundamentale Angst, die die jüdische Gemeinschaft dazu drängt, Solidarität und Schutz einzufordern.

Was die Hamas am 7. Oktober getan hat und was ihre Anhänger feiern, hat mit der Vertretung der Rechte und Interessen der Palästinenserinnen rein gar nichts zu tun. Gelder und Rohstoffe, die in den Gaza­streifen flossen, wurden häufig nicht ihrem humanitären Zweck zugeführt, sondern für die Aufrüstung der Hamas und den Ausbau ihres unterirdischen Tunnel­systems verwendet. Die israelische Armee hat erklärt, dass die Hamas den Bewohnern im Norden des Gaza­streifens empfehle, die israelische Aufforderung zur Flucht zu ignorieren, und sie auch aktiv daran zu hindern versuche. Dies wäre nur eine Fortsetzung der zynischen Politik, Zivilistinnen als Schutz­schilde zu gebrauchen, wie es die Hamas schon in früheren Konflikten mit Israel praktiziert hat.

David Grossman hat in einem Beitrag zur Lage die Mutmassung angestellt, Israel werde in Zukunft «viel rechter, viel militanter und viel rassistischer» werden. Das mag sein, und Grossman, der selbst einen Sohn im zweiten Libanon­krieg verloren hat, kennt wie kaum jemand sonst die durch Krisen immer wieder beförderten Bewegungen weiter nach rechts. Doch es sei hier die Vermutung gewagt, dass diese leidvolle Erfahrung Grossmans Denken vielleicht in einer Weise geprägt hat, die eine Krisen­reaktion der Israelis ausserhalb dieses Schemas nicht mehr vorstellbar erscheinen lässt. Dennoch gibt es einige Indikatoren, die auf andere Szenarien hindeuten könnten.

Der erste und vielleicht wichtigste Indikator ist, dass der Begriff «rechts» von vielen Israelis – auch solchen, die etwa mit Siedlungen oder messianischen Träumen der National­religiösen wenig am Hut haben – jahre­lang mit der Gewähr­leistung einer kompromiss­losen Sicherheits­politik gleich­gesetzt wurde, während man die «Linken» gegenüber einer überall lauernden Gefahr seitens der Palästinenserinnen und der israelischen Araber als abgehoben, gutgläubig und fahrlässig betrachtete. Nun, unter einer Regierung, die sich stolz als «einschränkungslos rechts» bezeichnete, hat dieser Nimbus vollständig Schiff­bruch erlitten.

Rechte Portale und Stimmen im Umfeld Netanyahus versuchen zwar verzweifelt, allen möglichen anderen Faktoren die Schuld am Desaster zuzuschieben: dem Militär und den Geheim­diensten (deren Chefs teilweise auch rasch Mitverantwortung eingestanden) oder gar der Protest­bewegung, die die Gesellschaft geschwächt habe. Aber die Manipulierbarkeit der Bürgerinnen hat unter dem Schock der Ereignisse arg nachgelassen, und kaum mehr jemand lässt sich die absurde Behauptung gefallen, am Versagen des Staates sei nicht dessen Führung schuld, sondern diejenigen, die über Monate gegen die Probleme demonstrierten, die diese Führung verursachte.

Dass die Mitglieder der Regierung in den ersten Tagen nach dem Desaster nirgends auftauchten, um Trost zu spenden oder Hilfe zu leisten, dass Verwirrung und Chaos herrschten, dass ein prominenter Parlamentarier von Netanyahus Likud-Partei in den Tagen höchster Not mit Freunden im Strassen­café gefilmt wurde, hat die Wut der Bürger noch verstärkt. Als sich die ersten Regierungs­mitglieder aufmachten, um Besuche in Spitälern zu absolvieren, wurden sie vor laufender Handy­kamera von Angehörigen der Verwundeten und vom Spital­personal beschimpft und zum Teufel gejagt.

Das hatte mit den «Bushah»-(Schande-)Rufen, denen Mitglieder der Koalition schon zuvor an allen möglichen Orten von Anhängerinnen der Protest­bewegung ausgesetzt waren, nichts zu tun. Hier wurden eine Wut und eine Verzweiflung herausgeschrien, die zuvor undenkbar waren: «Haut einfach ab. Keiner braucht euch, ihr stört nur», hiess es da etwa gegenüber der Umwelt­ministerin. Das Auto der Verkehrs­ministerin, einer besonders ergebenen Loyalistin Netanyahus, wurde, nachdem sie sich darin in Sicherheit gebracht hatte, mit einem gefüllten Getränke­becher beworfen. Dazu erklangen Flüche, die, wer die israelischen Soziolekte kennt, ziemlich genau zuordnen kann: jenen Kreisen nämlich, deren Angehörige sich noch Tage zuvor stolz mit der Ministerin hätten fotografieren lassen.

Nur ein einziges Mitglied des Kabinetts, der Erziehungs­minister, hat während der ersten Woche unverblümt die Schuld der Regierung eingestanden: «Wir sind verantwortlich. Wir haben uns mit Idiotien beschäftigt», sagte er und kündigte an, dass aus dieser Verantwortung die Konsequenzen gezogen würden.

Hinzu kommt, dass die Israelis innert Stunden nach dem Desaster das entwickelten, was ein Journalist treffend als «umgekehrte Anarchie» bezeichnet hat. Während das Militär und sämtliche anderen Behörden vollständig überfordert waren, übernahmen Bürger die Initiative. Das begann schon damit, dass einige Kriegs­veteraninnen auf eigene Faust loszogen, während die Armee erst langsam in die Gänge kam, und teilweise im Allein­gang Menschen aus der von der Hamas kontrollierten Zone heraus­holten.

Trauer an der Beerdigung eines israelischen Soldaten, zwei Tage nach dem Überfall der Hamas. Avisha Shaar-Yashuv/The New York Times/Laif

Besonders hervorgetan hat sich dabei der einstige stellvertretende Generalstabs­chef Yair Golan, der nach seiner Armeezeit ein linker Parlamentarier und zuletzt einer der Anführer der Protest­bewegung war. Vor kurzem noch von Regierungs­vertretern als «Verräter» bezeichnet, riskierte er sein Leben, um Menschen zu retten, während von der Regierung nichts zu sehen war.

Aber auch im weniger spektakulären Bereich der Spenden für die Opfer, der Erstellung von Logistik zur Verteilung der Spenden, des Heraus­holens von traumatisierten Menschen aus ihren Häusern nahe der Grenze während des Raketen­beschusses und ihrer Evakuierung an sicherere Orte waren Private in grossen Massen aktiv. Es gab weit mehr Anfragen zur Freiwilligen­arbeit, als es überhaupt zu tun gab. Zu Tausenden kehren Israelis von Auslands­aufenthalten heim, um für ihr Land da zu sein, zu kämpfen oder zu helfen.

Wenn Netanyahu in seiner ersten Ansprache erklärte, das Land sei jetzt nach all den Streitereien vollkommen geeint, dann mochte er noch meinen, dieses geeinte Volk habe sich nun hinter seiner Führung versammelt. Eher stimmt das Gegenteil. Das Volk hat für die Zeit der Not die Gräben überwunden, die er dauernd zu vertiefen sich bemühte. Die meisten scheinen ihn im Moment schlicht auf seiner Position zu lassen, weil jetzt einfach nicht die Zeit ist, sich mit ihm zu beschäftigen.

Der Journalist Chaim Levinson ist davon überzeugt, die Mehrheit der Menschen werde nach dem Krieg versuchen, ein Israel zu schaffen, dessen Politik auf Augenmass, Ehrlichkeit und Konsens beruhe. In einem solchen Szenario hätte ein Likud unter Netanyahu keinen Platz mehr. Die immer konservative, aber einst aus vielschichtigen Kräften bestehende Partei ist unter dem jetzigen Premier über die Jahre zu einer Klientel­vereinigung geworden, in der nicht mehr Kompetenz und Einsatz, sondern Loyalismus, Lautstärke und Vulgarität die Türen zu Parlaments- und Kabinetts­sitzen öffneten.

Interessant ist auch, dass die arabische Bevölkerung innerhalb Israels bisher stillhält oder sogar Solidarität und Identifikation mit den Opfern zeigt. Die grosse Angst, dass sich da eine fünfte Kolonne befinde, die nur darauf warte, von innen über die Juden herzufallen, sobald sie beim Staat Schwäche orteten, hat sich bisher nicht als begründet erwiesen. Sollte die Beziehung zwischen Jüdinnen und Arabern innerhalb des Landes diesen schweren Test bestehen, wäre der Boden bereitet für eine vertrauens­vollere Zusammen­arbeit in der Zukunft.

Wir wissen nicht, was der morgige Tag bringt. Wir wissen nicht, was den Menschen in dieser Region, was Juden in der Diaspora noch alles bevorsteht und wie sie das einordnen, was ihnen geschieht. So werden etwa, auch auf jüdischer Seite, seit dem Massaker des 7. Oktober unzählige irrational-messianische Nachrichten verbreitet, die angstvoll stimmen können. Traumata sind meist nicht die besten Voraus­setzungen, um weise Entscheidungen zu treffen, und das Entsetzen über das Geschehene und all seine Begleit­umstände, jenes Kishinev-Momentum, wird Israel noch über Jahrzehnte verfolgen.

Doch es könnte auch die Voraus­setzung dafür werden, dass Israel nicht nur seinen demokratischen, sondern gerade auch seinen jüdischen Charakter neu überdenkt und stärkt. Nach grossen, lebens­gefährlichen Erschütterungen sich wieder zu sammeln, weiter­zumachen, weder in Verzweiflung noch in Bestialität zu versinken, sondern neue, tauglichere Konzepte der Weiter­existenz zu finden, ist vielleicht das Kennzeichen schlechthin dessen, was das Judentum seit der Antike immer wieder ausgezeichnet hat. Wenn das auch jetzt gelingen sollte, dann wäre das ein erneuter Sieg der Zuversicht über die Trauer, eine gewaltige Manifestation dessen, was Jüdischsein immer bedeutet hat und hoffentlich weiter bedeutet.

Das ist nicht als stupide Durchhalte­parole gemeint, wie sie der rechts­extreme Sicherheits­minister Itamar Ben-Gvir jüngst äusserte. Er nannte bei einem Besuch in der schwer gezeichneten Grenz­stadt Sderot einige Traumata der jüdischen Geschichte wie die Inquisition oder die Schoah. Wie man diese überlebt habe, werde man auch die jetzige Katastrophe überleben, äusserte er sich, bevor er unter wütenden Beschimpfungen der Bewohnerinnen umgeben von seinen Sicherheits­leuten davonstapfte. Ben-Gvir, seine Draufhau-Mentalität, die Araber und «Linke» als Feinde stigmatisiert, sie fertigzumachen versucht und zur miserablen Verfassung Israels schon vor dem Desaster des 7. Oktober beigetragen hatte, stehen genau nicht für das Judentum.

Das Judentum hat vielmehr im Laufe seiner langen Geschichte immer dort seine Stärken entwickelt, wo es der Auseinander­setzung mit der eigenen Schwäche und der nihilistischen Gewalt seiner Gegner ausgesetzt war. Das Böse kann man nur überwinden, wenn man sich zum Ziel nimmt, es mit Humanität, Solidarität und Geist zu versuchen. Optimismus ist das Gegenteil von Messianismus, er braucht und will kein Armageddon, sondern sucht jede Nische, in der sich etwas pflanzen liesse, was irgend­wann blühen kann. Diese Nischen erkennt man in der Brand­landschaft des aktuellen Israel in der Bereitschaft, weiter­zumachen, sich zu organisieren, zu helfen, über ideologische und religiöse Grenzen hinaus.

Man kann das Judentum in seinem tiefsten Inneren als Bewältigungs­religion bezeichnen. Der Weg zu einer solchen Bewältigung ist jedenfalls lang, unendlich schmerzvoll und kompliziert. Aber das war der Weg des Judentums in den vergangenen zweitausend Jahren immer schon.

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