Einmal böse, immer böse?
Jugendliche Mörder sollen in der Schweiz künftig verwahrt werden können. Der Bundesrat und die meisten Parteien sind dafür. Die Fachleute aber warnen – die Vorlage kollidiere mit der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Von Brigitte Hürlimann, 11.09.2023
Journalismus kostet. Dass Sie diesen Beitrag trotzdem lesen können, verdanken Sie den rund 29’000 Leserinnen, die die Republik schon finanzieren. Wenn auch Sie unabhängigen Journalismus möglich machen wollen: Kommen Sie an Bord!
1956 schreibt der amerikanische Autor Philip K. Dick eine Kurzgeschichte, die es Jahrzehnte später auf die ganz grossen Leinwände schaffen soll. Steven Spielberg hat den Stoff in einen Science-Fiction-Thriller mit Starbesetzung gepackt, der 2002 erstmals in die Kinosäle kommt. Er trägt den gleichen schlichten Namen wie das ursprüngliche Werk: «Minority Report».
Die Story ist erstaunlich aktuell und reell.
Es geht um ein systematisches, vorsorgliches Wegsperren von Menschen, die in der Zukunft eine Gewalttat begehen könnten. Im Kinothriller spürt Super-Cop Tom Cruise potenzielle Mörder und Totschlägerinnen auf – bis er selbst in Verdacht gerät, in naher Zukunft eine Gräueltat zu begehen.
Der Jäger wird nun zum Gejagten und beginnt (erst jetzt) an der Zuverlässigkeit der «Vorkriminalitätsbekämpfung» zu zweifeln – wie sein Job im Thriller genannt wird.
Cruise stösst bei seinen Nachforschungen auf die titelgebenden Minderheitenberichte, die unter Verschluss gehalten und verschwiegen werden, weil sie das ganze System infrage stellen. Die Behörden befürchten, die Bevölkerung könnte das Wegsperren potenzieller Verbrecher nicht mehr dulden, wenn die Unsicherheiten in den Prognosen öffentlich bekannt würden, die in den «Minority Reports» festgehalten werden.
Die Botschaft von Buch und Film hat im Hier und Heute nichts an Brisanz verloren.
Wie weit gehen die Menschen, um Verbrechen zu verhindern, die in der Zukunft vielleicht geschehen könnten? Besteht wirklich ein Konsens darüber, dass es nicht mehr ausreicht, Mörder und andere Gewalttäterinnen für ihre Verbrechen «nur» zu bestrafen? Sollen sie übers Strafende hinaus präventiv eingesperrt bleiben – weil nicht komplett auszuschliessen ist, dass sie nochmals zuschlagen könnten?
Zynischerweise gilt in der Strafrechtslogik eine Verwahrung – die strengste Sanktion überhaupt – nicht als Strafe, sondern als eine sogenannte Massnahme. Das klingt harmlos, ist es aber nicht. Wer zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wird, weiss auf den Tag genau, wann er das Gefängnis verlassen kann. Verwahrte bleiben auf unbestimmte Zeit eingesperrt; zu Entlassungen kommt es unter diesem Vollzugstitel höchst selten. Sie gelten als untherapierbar, unverbesserlich, latent gefährlich – als hoffnungslose Fälle, die man besser drinnen lässt.
Doch hat eine, die getötet hat, keinen Anspruch mehr auf Empathie? Und was ist mit den Angehörigen? Gehört es nicht zum Strafrecht, Verurteilte, die ihre Sühne geleistet haben, zurück in die Gesellschaft zu führen? Ihnen eine Perspektive zu bieten?
Es sind solche Fragen, die derzeit die Politik wieder bewegen, im Moment gerade in der Rechtskommission des Nationalrats. Konkret geht es um eine angebliche Lücke im Gesetz: die Verwahrung von Jugendstraftätern, die in der Schweiz neu eingeführt werden soll. Einfache Antworten gibts hier nicht. Der richtige Umgang mit Mördern wird noch deutlich komplexer und belastender, wenn es um Minderjährige geht.
Sieben Kapitel eines ungemütlichen Themas:
1. Wie funktioniert das Jugendstrafrecht?
Seit 2007 gibt es in der Schweiz ein separates Jugendstrafrecht, das 2011 mit einer Jugendstrafprozessordnung ergänzt wurde. Beide Erlasse grenzen sich deutlich vom Erwachsenenstrafrecht ab. Beim Umgang mit jugendlichen Straftäterinnen geht es in erster Linie um deren Schutz und Erziehung.
Dahinter steckt der Gedanke, dass junge Menschen eher form- und beeinflussbar sind als Erwachsene. Und dass es sich lohnt, mit einem breiten, pädagogisch ausgerichteten Instrumentarium auf sie einzuwirken, sie nicht einfach eine Strafe absitzen zu lassen.
«Die jungen Täter sollen an sich arbeiten, was manche von ihnen als viel lästiger und mühsamer empfinden, als in einer Zelle zu hocken und abzuwarten, bis die Strafe verbüsst ist», sagt der Leiter der Jugendanwaltschaft Zürich-Stadt, Patrik Killer.
Zu den Besonderheiten des hiesigen Jugendstrafrechts gehört, dass bereits Kinder ab 10 Jahren strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können. In Deutschland und Österreich beginnt die Strafmündigkeit erst mit 14 Jahren. Wer 18 Jahre alt wird und gegen das Gesetz verstösst, wird als Erwachsener nach den Regeln des Erwachsenenstrafrechts behandelt – kann also verwahrt werden.
Die Untersuchung der Delikte von Minderjährigen obliegt den Jugendanwaltschaften. Kommt es zum Prozess, sind Jugendgerichte für die Beurteilung zuständig.
Ab voraussichtlich dem 1. Januar 2024 gilt für die sogenannten Übergangstäter ein neues Regime, das durchaus als eine Verschärfung des Jugendstrafrechts bezeichnet werden kann.
Es geht um folgende Konstellation: Jemand begeht eine Serie von Delikten, eine Reihe davon als Minderjährige, eine Reihe als Volljährige. Die Strafverfolgung dieser Deliktserie wird künftig aufgesplittet, es kommt zu zwei parallelen Untersuchungen. Die Jugendanwaltschaft ist für jenen Teil zuständig, der vor dem 18. Altersjahr begangen wurde, die Staatsanwaltschaft für den anderen. Bisher blieb das ganze Verfahren bei den Jugendanwaltschaften, die für die «Erwachsenendelikte» allerdings das Erwachsenenstrafrecht anzuwenden hatten.
Vor allem bei schweren Verbrechen werden die jugendlichen Täter im Laufe des Vollzugs volljährig. Sobald sie 25 Jahre alt sind, müssen sämtliche jugendstrafrechtlichen Massnahmen aufgehoben werden. Diese Obergrenze wurde erst 2016 von 22 auf die heute geltenden 25 Jahre erhöht – es ist ebenfalls eine Verschärfung, um den Sicherheitsbedenken gerecht zu werden.
Doch auch wenn ein Jugendstraftäter 25 Jahre alt geworden ist, wird er nicht einfach auf die Strasse gestellt und sich selbst überlassen. Bei heiklen Fällen besteht die Möglichkeit, die zivilen Behörden, zum Beispiel die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde, einzuschalten. So ist es explizit im Gesetz geregelt.
Und darum, sagt Marcel Riesen-Kupper, Leitender Oberjugendanwalt im Kanton Zürich – die mit Abstand grösste Jugendanwaltschaft der Schweiz –, verstehe er nicht, warum in der Politik von einer Lücke die Rede sei.
«Wir haben mit den pädagogisch ausgerichteten Instrumenten des Jugendstrafrechts eine gute Chance, bei den jungen Tätern eine Verhaltensänderung und eine Stabilisierung zu erreichen, sie auf ein deliktfreies Leben vorzubereiten. Unsere Berufskollegen aus Deutschland und Österreich beneiden uns regelmässig ums schweizerische System. Wir brauchen keine weiteren Jugendgefängnisse. Die bringen nicht die besseren Resultate. Und wir sollten unser bewährtes Jugendstrafrecht nicht mit der Einführung der Verwahrung gefährden», sagt Riesen-Kupper.
2. Wie oft morden Jugendliche in der Schweiz?
In seiner Botschaft zur geplanten Änderung des Jugendstrafgesetzes erwähnt der Bundesrat 12 Minderjährige, die zwischen 2010 und 2020 wegen Mordes verurteilt wurden. Längst nicht alle dieser Fälle führten zu Schlagzeilen, was auch daran liegt, dass Jugendstrafprozesse fast immer unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden.
Zu den breit diskutierten Mordfällen von Jugendlichen ab den Nullerjahren gehören folgende drei:
2008 verschafft sich ein 17-Jähriger Zugang in einen Aargauer Erotiksalon, vergewaltigt und erdrosselt dort eine 40-jährige Sexarbeiterin.
2009 erschlägt ein 16-jähriger Aargauer im Tessin ein 17-jähriges Mädchen bei einem Spaziergang im Wald. Sie habe ihn genervt, weil sie zu viel geredet habe, sagt er später aus.
2013 werden im bernischen Spiez ein Heimleiter und seine Freundin tot aufgefunden. Beide Körper weisen weit über hundert Messerstiche auf. Mehr als ein Jahr später werden die beiden Täter gefasst: ein zur Tatzeit 16-Jähriger und sein Vater.
Dass Minderjährige nicht nur ein Schwerstverbrechen begehen, sondern nach Abschluss der jugendstrafrechtlichen Sanktionen immer noch als gefährlich gelten, kommt nach Auffassung des Bundesrats «sehr selten» vor. Es handle sich jedoch um «durchaus mögliche allerschwerste Fälle», schreibt er in seiner Botschaft.
Der Leitende Oberjugendanwalt Marcel Riesen-Kupper hat es pro Jahr mit rund 6000 Fällen zu tun. «Etwa drei Viertel der Jugendlichen kommen nur einmal zu uns. In den meisten Fällen geht es um Bagatellen. Es sind wenige, die uns stark beschäftigen, vielleicht 2 bis 3 Prozent. Bei den schwierigen Fällen ordnen wir neben einer Strafe regelmässig eine Schutzmassnahme an. Das kann eine Betreuung oder Aufsicht, ein Rayon- oder Kontaktverbot sein – aber auch eine geschlossene Unterbringung.»
Die fünf regionalen Jugendanwaltschaften im Kanton Zürich arbeiten in gemischten Teams, Juristinnen zusammen mit Sozialarbeitern. Sie stehen in engem Kontakt mit der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde, den polizeilichen Jugenddiensten sowie weiteren Fachbehörden.
3. Wie werden sie bestraft?
Der Bundesrat gibt in seiner Botschaft auch Auskunft darüber, was mit den 12 erwähnten jugendlichen Mördern geschah. 4 von ihnen kamen im Rahmen einer Schutzmassnahme in eine geschlossene Anstalt, 2 wurden zusätzlich noch zur Höchststrafe von 4 Jahren Freiheitsentzug verurteilt.
In 2 Fällen reichte eine persönliche Betreuung mit einer Aufsicht aus (das sind ebenfalls Schutzmassnahmen), die mit einem 3-jährigen Freiheitsentzug als Strafe kombiniert wurde.
In einem Fall gab es einen Freiheitsentzug von 180 Tagen, kombiniert mit einer ambulanten Behandlung; in einem anderen Fall eine offene Unterbringung ohne Freiheitsentzug. Und in 4 weiteren Fällen wurde ein Freiheitsentzug als Strafe angeordnet (zwischen 3 und 4 Jahren) – ohne zusätzliche Schutzmassnahme.
Davon, dass jugendliche Mörder nach der Verbüssung ihrer Strafe oder Schutzmassnahme erneut getötet hätten, ist nirgends die Rede. Keine der Praktikerinnen, mit denen die Republik gesprochen hat, kann sich erinnern, dass es so etwas in der Schweiz jemals gegeben hätte.
Aber genau dieser Fall soll nun gesetzlich geregelt werden.
Die Expertinnen, die vom Bundesamt für Justiz angehört worden waren, gehen schweizweit von einem halben Dutzend Jugendstraftäter aus, die nach Abschluss der Sanktionen weiterhin «gesichert» werden sollten – weil sie als gefährlich gelten. Einer, der unter dieses Label fiel, war der «Aargauer Prostituiertenmörder».
Der Täter war 2011 von einem Jugendgericht zur Höchststrafe (4 Jahre) und zu einer geschlossenen Unterbringung verurteilt worden, um seine psychischen Störungen zu behandeln. Diese Schutzmassnahme musste jedoch nach dem damaligen Recht beendet werden, als der Mann 22 Jahre alt wurde; heute gilt, wie erwähnt, eine Altersobergrenze von 25 Jahren.
Weil ihn die Behörden nach wie vor als akut gefährlich einschätzten, kam er nicht auf freien Fuss, sondern wurde in den Sicherheitstrakt eines Gefängnisses verbracht – unter dem Titel der fürsorgerischen Unterbringung; ein Instrument des Zivilrechts, das eigentlich dazu dient, kranke Menschen zu schützen, medizinisch zu betreuen und zu behandeln.
Beim jungen, inzwischen erwachsenen Mörder ging es jedoch ausschliesslich um seine angebliche Fremdgefährdung. Also darum, dass er sich erneut einer Gewalttat schuldig machen könnte. Eine Selbstgefährdung wurde von den Gutachtern in den neuen Diagnosen ausgeschlossen.
Beda Meyer Löhrer vertrat den jungen Mann bei seinem Kampf um die Freilassung. Der Zürcher Rechtsanwalt beschreibt in verschiedenen wissenschaftlichen Beiträgen, wie die «Fürsorge» für seinen Mandanten konkret aussah. Der Jugendstraftäter, der in seiner Kindheit und Jugend schwer vernachlässigt, mehrfach fremdplatziert und von einem Pflegevater sexuell missbraucht worden war, wurde 3 Jahre lang im Zentralgefängnis Lenzburg mit erwachsenen Schwerverbrechern zusammengepfercht.
Die meiste Zeit war er in seiner Zelle eingeschlossen. Arbeitsbeschäftigung, so banal und monoton sie auch war, gab es selten. Besuch durfte er nur hinter einer Glasscheibe empfangen, Telefonieren am Abend und am Wochenende war verboten. Therapeutische Gespräche fanden bloss während 50 Minuten pro Woche statt.
«Es war ein strafrechtliches Regime, obwohl mein Mandant seine Sanktion verbüsst hatte und zivilrechtlich untergebracht war», sagt Meyer Löhrer. «Der Freiheitsentzug und die Unterbringung im Gefängnis – beides war klar rechtswidrig. Das Instrument der fürsorgerischen Unterbringung wurde zu reinen Sicherungszwecken missbraucht.»
Der Anwalt zog den Fall bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg. Und bekam recht. Der Gerichtshof rügte die Schweiz und stellte klar, die fürsorgerische Unterbringung sei keine gesetzliche Grundlage dafür, einen Menschen ausschliesslich wegen einer befürchteten Fremdgefährdung einzusperren – und schon gar nicht im Gefängnis.
Das Verdikt aus Strassburg führte zur Entlassung des jungen Mannes. Seit über 4 Jahren lebt er wieder in Freiheit. Offenbar unauffällig. Von neuen Delikten weiss sein Rechtsvertreter auf jeden Fall nichts.
4. Gibt es eine «gefährliche Lücke»?
Wenn sogar die Jugendanwälte fast einhellig betonen, das geltende Recht funktioniere gut, und wenn kein einziger Fall bekannt ist, bei dem ein jugendlicher Mörder nach seiner Entlassung ein zweites Mal zugeschlagen hätte: Warum ist in Bundesbern trotzdem von einer «gefährlichen Lücke» die Rede, die es unbedingt zu schliessen gelte?
Es ist FDP-Ständerat Andrea Caroni, der das Thema 2016 mit einer Motion auf die politische Bühne gebracht hat und beim Bundesrat sowie bei den meisten Parteien auf offene Ohren gestossen ist. Die «gefährliche Lücke», sagt Caroni, bestehe dann, wenn ein Jugendlicher mit 25 Jahren aus allen Schutzmassnahmen entlassen werden müsse, die Sicherheit Dritter aber immer noch «schwerwiegend» bedrohe.
Solche Leute kämen frei, so der Appenzeller Rechtsanwalt in seinem Votum im Ständerat, auch wenn sämtliche Alarmsignale auf Rot stünden. Nur weil diese Leute eine bestimmte Anzahl Kerzen auf ihrem Geburtstagskuchen ausblasen dürften.
Um Dritte «rechtsstaatlich korrekt» vor schwerwiegender Gewalt zu schützen, müssten für die Jugendstraftäter neue Massnahmen angeordnet werden können, fordert Caroni.
Betroffen seien in erster Linie psychisch gesunde Täterinnen, weil für sie kein fürsorgerischer Freiheitsentzug infrage komme. Und ja, es gehe um wenige Fälle, «zum Glück sind es wenige Fälle. Zum Glück laufen in diesem Land nicht reihenweise junge Mörder herum», so Ständerat Caroni vor seinen Ratskollegen. «Aber wir sprechen vom schlimmstmöglichen Fall, den es eben auch gibt; einem pro Jahr. Auch diesem sollten wir mit einem guten Sicherheitsdispositiv begegnen können.»
Und nein, er sei kein strafrechtlicher Hardliner, sagt Caroni. Es gehe um den Schutz der Bevölkerung.
5. Was wird als Lösung vorgeschlagen?
Wie diese Gesetzeslücke zu schliessen ist oder ob überhaupt eine Lücke besteht, darüber wurde in der Bundesverwaltung lange und kontrovers diskutiert, auch unter Einbezug von externen Fachleuten. Die Version, die der Bundesrat dem Parlament heute vorschlägt, sieht Folgendes vor:
Minderjährige, die zur Tatzeit mindestens 16 Jahre alt waren und wegen Mordes verurteilt wurden, sollen nachträglich verwahrt werden können; wenn die Gefahr besteht, sie könnten erneut einen Mord begehen.
Für eine nachträgliche Verwahrung braucht es den Antrag der Vollzugsbehörde, eine neue psychiatrische Begutachtung, die Beurteilung einer Fachkommission sowie die Anhörung der Betroffenen.
Werden die jugendlichen Mörder «nur» zu einem Freiheitsentzug, nicht aber zu einer Schutzmassnahme verurteilt, muss eine allfällige Verwahrung bereits im Urteil des Jugendgerichts vorbehalten werden.
Umfasst das Urteil neben der Strafe auch noch eine Schutzmassnahme, braucht es diesen Vorbehalt nicht – die frühere Massnahme wird durch eine neue abgelöst: die Verwahrung.
Diesem Vorschlag stimmten in der Vernehmlassung 15 Kantone zu, 9 Kantone lehnten ihn ab. Was auffällt: Sämtliche politischen Parteien, die daran teilnahmen, äusserten sich (zumindest grundsätzlich) positiv. Die Expertinnen, Fachorganisationen und die Rechtsgelehrten hingegen lehnten die Gesetzesänderung ziemlich einhellig ab.
Eine Diskrepanz, die es in Strafrechtsfragen des Öfteren gibt.
Doch ganz so einstimmig kommt auch die Politik nicht daher. Die Rechtskommission des Ständerats sprach sich im Februar dieses Jahres mit Mehrheitsentscheid (7 zu 5 Stimmen) gegen ein Eintreten auf die Vorlage aus – sie wollte keine Verwahrung von Jugendstraftätern. Der Rat ist der Kommissionsempfehlung allerdings nicht gefolgt: mit 22 gegen 17 Stimmen.
Zu den Argumenten vom Bundesrat und von den ihm zustimmenden Kreisen für eine Verwahrung von Jugendstraftäterinnen
Die Mörder, um die es geht, sind inzwischen volljährig geworden.
Nach Abschluss der jugendstrafrechtlichen Sanktion oder mit dem Erreichen des 25. Altersjahrs besteht nach wie vor eine Gefährlichkeit für Dritte, die es aufzufangen gilt.
Auch eine geschlossene Unterbringung nach dem Jugendstrafrecht dient Sicherungszwecken. Damit wird der reine Schutz- und Erziehungsgedanke heute schon relativiert.
Minderjährige Täter können in Anstalten für junge Erwachsene untergebracht werden, auch das ist eine Aufweichung der Sonderbehandlung für Jugendliche.
Mit der Verwahrung steht im Erwachsenenstrafrecht eine geeignete Sicherheitsmassnahme für gefährliche Täter zur Verfügung – es ist nicht nötig, ein neues Instrument zu schaffen. Auch nicht im Zivilrecht.
Bei einer strafrechtlichen Massnahme wie der Verwahrung trägt der Kanton die Kosten. Bei der fürsorgerischen Unterbringung müssen die Gemeinden aufkommen, was zu einer übermässigen Belastung führen kann.
6. Was sagen die Expertinnen?
Der deutlichste Widerspruch gegen die Gesetzesänderung kommt also ausgerechnet von jenen Fachkräften, die direkt und regelmässig mit Jugendstraftätern oder mit dem Jugendstrafrecht zu tun haben. Sie wollen dezidiert nichts von einer Verwahrung wissen – mit nur vereinzelten Ausnahmen.
Zu den Argumenten der Kritikerinnen einer Verwahrung von Jugendstraftätern
Die Verwahrung widerspricht dem Ziel und dem Grundsatz des schweizerischen Jugendstrafrechts (Schutz und Erziehung); es ist ein eigentlicher Paradigmenwechsel.
Gerade bei jungen Tätern lässt sich keine zuverlässige Prognose über ihr künftiges Verhalten erstellen; sie befinden sich in der Entwicklungsphase, ihre Hirnreifung ist noch nicht abgeschlossen.
Gefährliche jugendliche Delinquentinnen können heute schon jahrelang in geschlossenen Einrichtungen untergebracht werden, wo sie intensiv und altersadäquat betreut werden.
Das Damoklesschwert der Verwahrung könnte sie daran hindern, sich in der Therapie zu öffnen. Es drohen Scheinanpassungen.
Es geht um eine Gesetzesänderung für ein paar wenige Extremfälle, die mit den bestehenden Instrumenten aufgefangen werden können. Die Interventionsmöglichkeiten der Polizei und das Bedrohungsmanagement sind bereits deutlich ausgebaut worden.
Die vorgeschlagene Regelung verletzt zwingendes Völkerrecht.
«Wäre die Verwahrung für Jugendstraftäter in Kraft, sässe mein Mandant wohl heute noch im Gefängnis», sagt Beda Meyer Löhrer, der Anwalt des «Aargauer Prostituiertenmörders». Der Fall seines Mandanten zeige eindrücklich, wie unzuverlässig die Prognosen seien.
Sämtlichen Gutachten und richterlichen Entscheiden zum Trotz habe sich der Mann in der Freiheit bisher bewährt.
«Beim Ruf nach absoluter Sicherheit verlieren die Täter fast alle Rechte. Ist das fair und gerecht? Wir verabschieden uns damit von jeglicher Barmherzigkeit, von sämtlichen christlichen Werten und Gedanken», sagt Meyer Löhrer. «Wir sollten die guten Kräfte im Menschen aktivieren – und das geschieht nicht im Gefängnis. Es stimmt einfach nicht, dass harte Strafen zu weniger Kriminalität führen, das zeigt die Situation in den USA. Auch in jenen Bundesstaaten, in denen es die Todesstrafe gibt.»
«Hard cases make bad law» heisst das geflügelte Wort, das unter Strafrechtsexperten kursiert: Extreme Fälle sind eine schlechte Grundlage, um weitreichende Gesetzesänderungen zu beschliessen.
Grosse Zweifel an der geplanten Gesetzesänderung äussert auch der Luzerner Kantonsrichter Chris Lehner, der sich in seiner preisgekrönten Doktorarbeit mit dem Massnahmenrecht befasst. «Es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass der Vorschlag des Bundesrats die Europäische Menschenrechtskonvention gleich mehrfach verletzt», sagt Lehner.
«Es geht ums Verbot der Doppelbestrafung, ums Recht auf ein faires Verfahren sowie ums Recht auf Freiheit und Sicherheit; in der letzteren Norm werden die Voraussetzungen für einen Freiheitsentzug geregelt. All diese Bestimmungen gehören zum zwingenden Völkerrecht. Sie müssen von den schweizerischen Behörden angewandt werden.»
Die nachträgliche Anordnung einer Sanktion aus Gründen, die sich erst nach der jugendstrafrechtlichen Verurteilung ergeben, sei nach diesen Grundsätzen nicht zulässig, so Lehner. «Die Vorlage des Bundesrats sieht aber genau das vor.» Die ernsthafte Gefahr, der jugendliche Mörder könnte erneut einen Mord begehen, werde frühestens nach Eintritt der Volljährigkeit geprüft. «Vorher, da sind sich die psychiatrischen Experten einig, kann eine solche Prognose nicht zuverlässig gestellt werden.»
Mit der Verwahrung, sagt der Luzerner Kantonsrichter, würde die härteste aller Sanktionen ins Jugendstrafrecht eingeführt. Die Aussicht auf ein unbestimmt langes Wegsperren, ohne Hoffnung auf eine Wiedereingliederung, habe nichts mit der Idee des Jugendstrafrechts zu tun.
Dazu komme, dass in der Schweiz die Verwahrung wie eine Strafe vollzogen werde: «Auch das ist menschenrechtswidrig.»
7. Wie gehts weiter?
Es ist Wahlherbst. Politikerinnen wollen eine gute Falle machen, landauf, landab. Wer sich für mehr Sicherheit ausspricht, das Leid der Opfer erwähnt und all die Gewalttaten, die es um jeden Preis zu verhindern gelte, kommt gut an beim Wahlvolk.
Deutlich schwieriger haben es die Mahner und Warnerinnen. In der Schweiz flitzt kein Super-Cop Tom Cruise durch die Gegend und deckt auf, wie unmenschlich, unverhältnismässig und unzuverlässig die «Vorkriminalitätsbekämpfung» ist.
Im Hier und Jetzt liegt das Geschäft der nachträglichen Verwahrung von Jugendstraftätern bei der Rechtskommission des Nationalrats. Sie hat an ihrer Sitzung vom 1. September die Beratung aufgenommen – und beschlossen, nicht entscheiden zu können; auch nicht darüber, ob auf die Vorlage eingetreten werden soll. FDP-Nationalrätin und Kommissionspräsidentin Christa Markwalder sagt auf Anfrage der Republik, es bestünden so viele Unsicherheiten, dass die Kommission zuerst Expertinnen aus der Praxis anhören wolle.
Und ja, das sei ein eher ungewöhnlicher Entscheid, weil ja schon die Schwesterkommission, jene des Ständerats, ausführliche Hearings durchgeführt habe (und danach ein Nichteintreten empfahl). Es habe sich gezeigt, dass die nationalrätliche Rechtskommission von der Vorlage noch nicht überzeugt sei.
Die Anhörung wird zwar noch dieses Jahr, aber erst nach den Wahlen stattfinden – was allenfalls die Chance auf eine unaufgeregte, sachliche Debatte erhöht.
Übrigens: In Spielbergs Thriller spuckt der futuristische Computer die Namen der potenziellen Gewalttäter, die unverzüglich zu verhaften sind, auf Holzkugeln aus. Sie sehen jenen Kugeln, die bei der Ziehung der Lottozahlen zum Einsatz kommen, verblüffend ähnlich.