Was machen wir hier? Es ist schwierig, Entscheidungen zu treffen für Situationen, die wir noch nie erlebt haben. Elliott Erwitt/Magnum Photos/Keystone

Ich wusste, was ich denke. Doch die Erfahrung rüttelte an allem

Wie man Entscheide fällt in Lagen, die man nicht kennt.

Von Marie-José Kolly, 29.05.2023

Vorgelesen von Miriam Japp
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Letzten Frühling sass ich mit zwei Kolleginnen in einem Zürcher Café schlotternd auf der Terrasse. Ich wollte mir auf keinen Fall ein Virus einfangen, denn ich wusste: Das Kind in meinem Bauch könnte jeden Tag kommen. Ich wusste auch: Es würde vermutlich per Kaiser­schnitt kommen. Und ich erinnere mich, wie ich zu den beiden sagte: dass ich ja schon lieber spontan gebären würde. Aber wenn es halt nicht möglich sei – tant pis. Ich könne es ja nicht beeinflussen.

Dieses seis drum kam aus einer ganz klaren Haltung heraus: Aus meiner grossen Abneigung gegenüber der gesellschaftlichen Erwartung, rund ums Kinder­kriegen müsse alles möglichst natürlich ablaufen. Das tant pis speiste sich aus meiner Überzeugung, dass das, was wir Menschen anders machen als unsere jagenden und sammelnden Vorfahren, auch gut sein kann.

Jede Frau soll selbst entscheiden können, was mit ihrem Körper geschieht. Niemand hat das zu bewerten. Klar, es gibt in gewissen Situationen eindeutige medizinische Empfehlungen, wissenschaftliche Ergebnisse zu Risiken und Chancen. Aber jenseits davon: Warum sollte ein Kaiserschnitt weniger wert sein als eine Spontan­geburt? Warum die Flasche weniger gut als stillen? Weil die Frau und ihr Körper seit jeher für Natur stehen?

Zur Hölle damit, dachte ich: Ich habe mich umfassend auseinander­gesetzt mit Studien und deren Daten, habe Bücher gelesen und Gespräche geführt, ich möchte zwar die Spontan­geburt, ich bekomme sie vermutlich nicht – tant pis.

Drei Tage später lag ich in einem Spital­zimmer. Zu meinem Wissen und meinen Gedanken hatte sich gesellt: ein Erlebnis. Und die Gefühle dazu. Nur passte das alles nicht zusammen.

Ich wusste: Es ist okay, wenn man nicht spontan gebärt.
Ich meinte: Es ist nicht weniger wert.
Ich fühlte: Es ist ein riesiges Versagen.

Diese Diskrepanz zwischen Denken und Fühlen, die Frauen während oder nach der Geburt eines Kindes erleben, sei typisch, sagt die Psycho­therapeutin Angela Häne in ihrer Praxis für frauen­spezifische psychische Beschwerden. Während der ersten Schwangerschafts­monate entstünden automatisch – und häufig unbewusst – sogenannte Imaginationen: Gedanken, Träume, Vorstellungen. Dazu, wie die Geburt sein wird, wie das Kind, wie man selbst. In den letzten Monaten vor der Geburt träten diese Gedanken in den Hinter­grund, sagt Häne. «Und dann treffen sie plötzlich auf die Realität.» Eine Realität, die den früheren Vorstellungen häufig nicht entspricht. Diese Kluft erzeuge Reibung, sagt die Psycho­therapeutin, Stress.

In verschiedensten Publikationen zum Kaiserschnitt steht immer dasselbe Wort: «Versagen». Häne sagt: «Wenn unsere Geburts­erfahrung nicht so war, wie wir uns das vorgestellt haben, haben wir indirekt das Gefühl: Ich bin nicht erfolgreich. Und das löst Schuld­gefühle aus.»

Vor einem Jahr habe ich viel über diese Kluft nachgedacht. Wie war es möglich, dass mein Wissen und meine Gefühle so weit auseinander­klafften?

Ist es die Sozialisierung in einer Gesellschaft, die von Frauen Natürlichkeit erwartet beim Zeugen, Gebären und Ernähren, die mich unter­bewusst so stark geprägt hat? Der rousseausche Ruf von der Rückkehr zur Natur bleibt mächtig: Was im 18. Jahrhundert als Gegen­programm zur Industrialisierung entstand, beschwört heute noch romantische Bilder herauf. Von unberührter Wildnis und freien Menschen, die sie schützen. Der Ruf hallt durch verschiedenste Lebens­bereiche: Unsere Umwelt muss natürlicher sein, unser Essen weniger verarbeitet, Verhütungs­mittel nicht hormonell, Medikamente pflanzlich, Geburten eingriffsfrei.

Daran ist vieles richtig. Darum ist es schwierig, sich gegen das Gefühl zu stemmen, natürlich sei zwingend besser. «Welche Mutter fühlt nicht mindestens eine Prise Schuld, wenn sie sich nicht an die Natur­gesetze anpasst?», schreibt die französische Philosophin Elisabeth Badinter.

Ist die Sozialisierung schuld?, fragte ich mich also.

Oder muss man die Kluft zwischen Wissen und Erfahren vielmehr anthropologisch erklären? Vielleicht ist das Gefühl des Versagens tief verankert in der, nun, Natur der Menschen. Wir haben Bibliotheken gefüllt und Technologie angehäuft, aber unser Gehirn verhält sich unter Stress noch genau so wie das unserer nomadischen Vorfahren. Für sie hatten Herzklopfen und angespannte Muskeln – zum Kämpfen oder zum Fliehen – mehr Erfolg versprochen als das Wissen aus all den Büchern, die sich heute auf meinen Regalen stapeln. Ist es in uns angelegt, dass wir spontan gebären wollen – weil Frauen die längste Zeit nur spontan gebären konnten oder sterben?

Beides spiele eine Rolle, sagt Häne. Und es komme hinzu zu den monatelang gehegten Vorstellungen, die eine gewisse Kontrolle suggerieren – und die dann unvermittelt auf eine Erfahrung krachen, in der von Kontrolle keine Rede sein kann.

Ein Kind gebären, Eltern werden, das gehört zu den einschneidensten Erfahrungen, die Menschen machen können. Aber auch ganz alltägliche Erlebnisse und die dazugehörigen Gefühle rütteln immer wieder an unserem vermeintlichen Wissen.

Es ist schwierig, Entscheidungen zu treffen für Situationen, die wir noch nie erlebt haben.

Und es ist besonders heikel, zu urteilen über andere, in deren Haut wir nicht stecken. (Das hindert uns natürlich nicht daran, es ständig zu tun.)

Wir können uns noch so detailliert auseinander­setzen mit einer Sache: Fehlt uns die Erfahrung, fühlen wir anders.

Als die meisten Menschen noch sammelnd und jagend umherzogen, begegneten sie Fremden nicht in News und Propaganda, sondern in der realen Welt. Und bald waren diese Fremden eben nicht mehr fremd, weil man sie gesehen und vielleicht mit ihnen gesprochen hatte. Doch über die Jahrtausende hinweg wurde der Prozentsatz der Menschheit, den man treffen konnte, immer kleiner. Und jener, über den man Texte las oder Gerüchte hörte, immer grösser. So verformten sich unsere Vorstellungen voneinander. Und so nahm auch die Fremden­feindlichkeit zu auf der Welt, wie der niederländische Historiker Rutger Bregman argumentiert.

Immer wieder zeigen Statistiken, dass die Leute offener sind gegenüber Menschen mit Migrations­erfahrung, wenn sie bereits welche kennen­gelernt haben, zum Beispiel in der Nachbarschaft oder in der Schulklasse. Rechts­populistische Parteien finden typischerweise dort mehr Wähler, wo weniger Menschen mit Migrations­erfahrung leben. Und über Migration wird besonders dann viel geredet, wenn der Ausländer­anteil besonders niedrig ist.

Entscheiden für das, was kommt

Die Erfahrung und das Empfinden haben, gerade beim Gebären, in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Es interessiere Medizin und Gesellschaft vermehrt, wie Frauen ihre Geburt erleben, sagte vor einigen Monaten eine Politologin zur «Süddeutschen Zeitung». Aber dadurch, dass die Frau stärker in den Fokus rückt, wächst auch die Erwartung an sie: Es sei ein «enormer Druck auf die Einzelne entstanden, sich gut genug zu informieren und die richtigen Entscheidungen zu treffen».

Nur: Wie soll das gehen, richtig entscheiden für künftige Ereignisse, die man noch nie erlebt hat?

Die veganen Crevetten bestellen. Ins Ausland ziehen. Die Beziehung beenden. Beginnt damit ein besseres Leben oder vielmehr das grosse Bereuen?

Der Kognitionspsychologe Renato Frey untersucht an der Universität Zürich, wie wir Menschen entscheiden, wenn wir vor dem Ungewissen stehen. Er sagt: «Wenn nur Text und Zahlen vor uns liegen, handeln wir Menschen ganz anders, als wenn wir mit Erfahrung entscheiden können.»

Text und Zahlen, wie man sie Probandinnen seit den 1970er-Jahren in Experimenten vorlegt, muss man sich so vorstellen: Mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 Prozent bekommen Sie 1000 Franken, mit 99-prozentiger Wahrscheinlichkeit aber nichts. Oder aber: Sie bekommen sicher 10 Franken. Wie entscheiden Sie?

Diese Probanden überschätzen kleine Wahrscheinlichkeiten massiv. Sie verhalten sich typischer­weise so, als wäre das eine Prozent eher 10 Prozent. Die winzige Chance, etwas Enormes zu gewinnen, wirkt wie ein Magnet. «Das könnte dazu beitragen, dass Versicherungen und Glücks­spiele so attraktiv sind», schrieben 1979 die Psychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky, deren Arbeit später den Nobelpreis für Ökonomie gewinnen sollte.

Die neuere Forschung legt Probandinnen in ähnlichen Experimenten nicht nur Text und Zahlen vor, sondern lässt sie die entsprechenden Wahr­scheinlichkeiten auch erfahren. Sie klicken in Computer-Simulationen ein digitales Los ums andere herbei, und dabei erscheint das 1000-Franken-Los entsprechend selten. «So erleben sie, wie sich eine einprozentige Wahrscheinlichkeit anfühlt», sagt der Kognitions­psychologe Renato Frey, «und dass das grosse Los ganz, ganz, ganz selten eintritt.»

Mit der Erfahrung entscheiden sich die Probanden radikal anders: so, als wäre die kleine Wahrscheinlichkeit noch viel kleiner. Sie unterschätzen das eine Prozent – egal, ob es den Jackpot im Casino verspricht oder die seltene Neben­wirkung eines Medikaments.

So sieht es im Labor aus. Und im Leben? Bei alltäglichen Entscheiden vermischt sich das, was wir wissen, mit dem, was wir erfahren und fühlen.

Wenn wir uns dann mit dem Ergebnis einer Entscheidung nicht so fühlten wie erwartet, könne das unser Weltbild kurzfristig über den Haufen werfen, sagt der Kognitions­psychologe Frey. «Aber Menschen sind adaptive Entscheider»: Wir passten uns an und lernten daraus, fürs nächste Mal. Stapeln wir so Erfahrung auf Erfahrung, entsteht etwas Grösseres: Intuition.

Intuition hilft uns auch bei Entscheidungen für Dinge, die wir noch nie erlebt haben – weil man sie im Leben nur einmal erlebt oder nur ein paarmal. Und denen wir mit Nach­denken allein nicht beikommen.

Heiraten zum Beispiel. Als Charles Darwin im 19. Jahrhundert vor diesem Entscheid stand, schrieb er eine Liste mit Pros («ständige Begleitung») und Kontras («furchtbarer Zeitverlust»). So eine Pro-Kontra-Liste mag naiv daher­kommen. Aber die Entscheidungs­hilfe geht weit zurück auf den amerikanischen Gründer­vater Benjamin Franklin, und sie hält sich bis heute – gerade unter Kognitions­psychologen.

Als ich Renato Frey frage, wie man besonders gute Entscheidungen fälle für Lagen, die man nicht kenne, schlägt er zunächst die «Franklin-Regel» vor, gern auch im Austausch mit Menschen, welche die entsprechende Erfahrung schon gemacht haben. Weil es nicht immer möglich sei, Pros und Kontras rein kognitiv zu gewichten und aufzurechnen, solle man die Liste ein paar Tage ruhen lassen. Darüber schlafen. Sie wieder hervorkramen. Ergänzen. Sich vorstellen, man habe eine Entscheidung gefällt, und die Intuition fragen, wie sich das anfühlt.

Kurz: mit der Liste das Bauchgefühl füttern und mit dem Bauchgefühl die Liste.

Es gebe zwar keine Daten, die zeigten, dass Menschen damit glücklicher würden, sagt Frey. Aber wenn man die verschiedenen Forschungs­ergebnisse aus dem Feld zusammen­ziehe, ergebe sich diese Strategie als der Weg, der den grössten Erfolg verspricht. «Mit ihr kann man Erfahrung immerhin simulieren.»

Nachdenken über andere Menschen

Wenn unser Leben um eine Erfahrung reicher wird, fallen uns manchmal ein paar Schuppen von den Augen. Und wir realisieren, wie anders Menschen durchs Leben gehen, die, eben, anders sind als wir. Wie verrückt das ist, was sie erleben.

Wer mit einem Kinder­wagen durch die Stadt läuft, merkt plötzlich, wie viele Treppen und Stufen überall sind, wie wenig Platz im Tram, wie eng das Trottoir. Merkt jetzt erst, wie sich das anfühlen könnte für eine Person, die an Krücken läuft oder im Rollstuhl sitzt. Entwickelt vielleicht einen freundlicheren Blick aufs Gegenüber. Und ein bisschen mehr Demut gegenüber dem eigenen Urteil, das sich lediglich aus dem Nach­denken, nicht aber aus dem Erfahren speisen kann.

Häufig fehlt uns dieser Blick. «Was man sich beim anderen nicht vorstellen kann, das erklärt man gern für ungültig», sagt die Psycho­therapeutin Angela Häne. Sie erzählt von Paaren, deren Baby wegen Regulations­störungen schreit, stundenlang. Mitmenschen hielten es nur schwer aus, das zu tun, was wirklich helfen würde: da sein, zuhören. Vielmehr bombardierten sie die betroffenen Eltern mit Ratschlägen. Mit der Zeit nehme das Mitgefühl ab: Die Eltern müssten wohl etwas falsch machen. «Denn sonst müsste man zugeben, dass das auch einem selbst passieren könnte. Und das löst enorme Ängste aus», sagt Häne. Was nicht sein darf, kann nicht sein.

Ist es überhaupt möglich, sich hinein­zuversetzen in jemanden, dessen Erfahrungen man nicht teilt? Nie teilen wird?

Genau das ist es, was manche zeitgenössische Debatte so anheizt. Darf ein Mann eine Meinung haben zu Schwangerschafts­abbrüchen? Kann ich mich als weisse Person über Rassismus äussern? Natürlich sind die Fragen und damit ein beträchtlicher Teil der Identitäts­debatten im rechten Feuilleton (und darüber hinaus) absurd:

Ja, er darf, und klar kann ich. Wir leben in einer freien Gesellschaft. Aber er und ich, wir müssen damit leben, dass andere sich an unseren Äusserungen stossen könnten. Vermutlich werden sie sich weniger stossen, wenn wir anerkennen, dass uns zentrale Erfahrungen fehlen. Und uns entsprechend äussern.

Die schwarze Schriftstellerin Reni Eddo-Lodge schrieb vor bald 10 Jahren auf, weshalb sie damit aufgehört hatte, mit weissen Menschen über race zu sprechen. Oder zumindest mit der Mehrheit, schreibt Eddo-Lodge, mit jenen, die leugneten, dass struktureller Rassismus und seine Symptome existierten. Aber schlimmer noch sei die weisse Person, «die zwar willens sein könnte, die Existenz dieses Rassismus zu erwägen, aber die denkt, wir würden dieses Gespräch as equals beginnen, unter Gleichen. Das tun wir nicht

Wer um den eigenen Erfahrungs­mangel weiss und die Erfahrung anderer anerkennt, entscheidet vernünftiger. Das gilt auch für die Politik.

Menschen, die im Parlament oder gar in der Regierung sitzen, fällen per Berufs­auftrag Entscheide, die sie nicht betreffen, andere aber umso mehr. Politikerinnen, die sich deren Stimmen anhören, können damit diejenigen Erfahrungen, die ihnen fehlen, simulieren: Kognitions­psychologen nennen das surrogate learning. «Man könnte vielleicht so weit gehen, dass man Kontakt mit Minderheiten explizit in den politischen Prozess einbaut», sagt der Kognitions­psychologe Frey. Denn wer mit anderen Austausch habe – und zwar konstruktiven Austausch, nicht Konflikte –, nähere sich ihnen tendenziell an.

Nachdenken, Text und Zahlen, das Wissen allein: Es reicht nicht.

Aber wenn man ganz bewusst berücksichtige, dass es auch ganz anders sein könnte, als man bisher selber dachte, würden einem andere Perspektiven eher bewusst, sagt Frey. «So wird man im eigenen Urteil etwas vorsichtiger.»

Wir leben in einer Gesellschaft, wo vordergründig alle alles im Griff haben. Vieles davon ist Fassade. Sie bröckelt, wenn wir am Existenziellen kratzen. «Kinder zu bekommen, hat immer auch unplanbare, unverfügbare Seiten», schreiben die Moral­philosophin Barbara Bleisch und die Juristin Andrea Büchler. Nun lassen sich Kontroll­verlust und Vulnerabilität nicht mehr so leicht übertünchen.

Zu den Menschen mit dem freundlichsten und urteils­freisten Blick auf andere gehören in meinem Umfeld ebenjene Freundinnen, die selber Kinder haben. Das liegt nicht an der besonders lieben, an der besonders mütterlichen Natur der Frau. (Die Idee, es gebe einen mütterlichen Instinkt, wurde längst debunked.) Vielleicht liegt es daran, dass sie beim Kinder­kriegen gelernt haben: Erleben ist etwas ganz anderes als meinen.

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