Serie «Meine Testamente» – Teil 1

Mein Freund, der Tod

… ich kann wieder Zeitung lesen. Ich kann fast alle Minister­namen auswendig aufsagen. Ich kann wieder eine ganze Banane essen (ist aber nicht so leicht). «Meine Testamente», Teil 1.

Von Mely Kiyak (Text) und Nora Hollstein (Bild), 27.05.2023

Vorgelesen von Egon Fässler
0:00 / 10:34

An einem ganz normalen Tag eines ganz normalen Jahres sagte mir mein Arzt, Sie haben eine ernsthafte Erkrankung. Eine Woche später sagte mir der gleiche Arzt, wir müssen jetzt echt aufpassen, Sie fahren hier gerade voll gegen die Wand. Sechs Wochen später sagte mir die Ärztin, Sie sind sehr krank, wir müssen die Therapie ändern. Wenige Tage später sagte die gleiche Ärztin, der Kollege ist meiner Ansicht nach zu vorsichtig an die Sache gegangen. Wir erhöhen die Dosis. In der Woche darauf korrigierte sich die Ärztin, ich möchte ungern warten, wir fangen in den kommenden sieben Tagen mit den Infusionen an. Wenig später korrigierte sie sich erneut, wir beginnen sofort.

Solche Sätze bieten, wenn sie einen selbst betreffen, unendlich viele Schlupf­löcher. Aufpassen. Sonst. Man findet in solchen Sätzen erstaunlich viele Nuancen, Auswege, Möglichkeiten. Nach gründlicher und wiederholter Exegese solcher Sätze erkennt man, egal wie sehr man die Worte dreht, wendet, schleudert und auswringt, die Aussicht auf Weiter­leben. Schliesslich atmet man ja noch.

Der Tod ist ein sehr alter Freund von mir. Ich habe mich in meinem Leben früh mit ihm auseinander­gesetzt. Er betraf aber nie mich. Ich begleitete Kranke, tröstete Sterbende. Erst seit ich mein eigenes Überleben begleite, verstehe ich, das waren allenfalls Trocken­übungen. Erst wenn man mit der Hilfe von Ärztinnen und Anwälten in stunden­langen Prozeduren das eigene Ende regelt und überlegt, wie was zu formulieren ist, damit weder Angehörige im Krankenhaus kämpfen müssen noch Ärzte sich das Recht nehmen, ihr Können und ihre Möglichkeiten bis zum Äussersten auszuschöpfen, wenn man eine juristische Droh­kulisse aufgebaut hat, wenn man bei der Anwältin für Erbrecht die Dokumente abgegeben, wenn man sich hundert-, ja tausendfach abgesichert hat und alle Eingeweihten hat schwören lassen, dass sie einen im Moment des Gehens nicht behindern werden, dann erst begreift man, das sind keine Trocken­übungen mehr. Das hat schon Generalproben­charakter.

Serie «Meine Testamente»

Krankheit und Tod. Davon erzählt Mely Kiyak. Sie wird sich Zeit lassen. (Sie schafft keine Chronologie.) Zur Übersicht.

Sie lesen: Teil 1

Mein Freund, der Tod

Teil 3

Wir lachen und nicken

Teil 4

Noch da

Teil 5

Der Himmel fällt runter

Teil 6

Ich bin jetzt so weit

Teil 7

Müller, Meier, Kiyak

Teil 8

Ich, Mely Kiyak …

Teil 9

Wir sind Ge­schich­ten

Teil 10

Guten Morgen, ich bin aufgewacht

Teil 11

Dieses Kind muss bleiben

Ich bin schwer erkrankt. Die Mortalitäts­rate bei meinem Verlauf ist hoch. Ich erhielt meine Diagnose vor zwei Jahren. Es geschah während der Corona-Jahre.

Während sich in Deutschland eine erschreckend hohe Zahl von Bürgern gegen eine kostenlose, mass­geschneiderte, individuelle Gesundheits­versorgung im Rahmen der Pandemie­bekämpfung wehrte und die demokratische Stabilität gefährlich ins Wanken brachte, wünschte ich mir nichts sehnlicher als eine kostenlose, mass­geschneiderte, individuelle Therapie, Ärzte und Impfungen. Während für den gesunden Teil der Bevölkerung das Leerräumen der Intensiv­stationen und das Bereit­stellen von Diagnostik und Ärzten für Corona-Patienten eine politisch gewollte Selbst­verständlichkeit war, habe ich, die ich nicht an Covid erkrankt war, manchmal warten und gelegentlich zurück­stecken müssen.

Auch mein Leben wurde unterbrochen. Doch angesichts einer welt­umspannenden Unter­brechung der Leben aller nimmt das eigene Leiden zunächst keinen prominenten Platz ein. Ich glaube, ich fand das gar nicht so schlecht. Es gab etwas, das schlimm war und andere betraf. Diese Beobachtung eignet sich vorzüglich, das eigene Gemüt zu beruhigen.

In den Jahren meiner Krankheit war ich besessen davon, ein gutes Verhältnis zu meiner Sterblichkeit zu pflegen. Ich möchte versöhnlich gehen. Es ist in Ordnung. Ich könnte sterben. Ich werde sterben. Ich bin bereit dafür. Was mich verzweifeln lässt, ist Todes­stille. Das Beschweigen der Toten. Wenn so viel gestorben wird wie nie zuvor, dann müsste es genau genommen doch jede Sekunde um den Tod gehen.

Ich möchte erzählen. In Erinnerungen und Anekdoten. Doch ich warne. Mein Erinnerungs­vermögen ist lückenhaft. Meine Zeuginnen­schaft ist unzuverlässig. Es gibt dunkle Wochen und schwarze Tage. Manchmal verliess ich meinen Körper, um den Schmerz aushalten zu können. Ich weiss nicht, welchen Wert so ein Wort wie Erinnerung hat, wenn man gar nicht mehr ein Mensch mit allen Sinnen ist. Wenn man nichts sieht, nichts hört, wenn man sich nicht bewegen kann, wenn man durch die Sphären spaziert, sind das dann nicht eher Traum­bilder? Wenn man Schrift­stellerin ist wie ich, dann drängelt sich anstelle der Dokumentation ohnehin immer die Dichtung in alles hinein. Das Leiden wird garniert. Mit Melodie und Satzbau. Syntax first, Symptome second.

Ich werde mir Zeit lassen. Ich schaffe keine Chronologie.

Es spielt keine Rolle, welche Krankheit ich habe. Bitte keine Ratschläge. Keine Lebens­tipps. Keine vermeintlich neuen Erkenntnisse, Therapie­ansätze, keine eilig abgerissenen Zettel mit rasch notierten Telefon­nummern, Homepages, Medikamenten. Unter einigen Patienten ist diese Art Austausch üblich. Man kennt die Dosierungen der Medikamente auswendig, jeden einzelnen Wert der grossen Blutbilder der vergangenen Monate, egal was man fragt, manche wissen alles, halten ihre Kranken­akte auf dem Bauch fest, wenn sie liegen. Wissen, wenn sie etwas daraus zeigen wollen, blind, wohin sie blättern müssen. Wenn ich liege, liege ich. Auf meinem Bauch liegt nichts.

Ich weiss nur: Ich kann wieder laufen. Ich kann wieder essen. Ich kann wieder besser sehen. Ich kann wieder kleinere Einkäufe erledigen. Ich kann wieder alleine Zug fahren (es muss mich aber jemand abholen). Ich kann wieder in einem normalen Bett schlafen. Ich kann wieder mit bis zu zwei weiteren Personen an einem Tisch sitzen (ich sollte aber weiter meine Maske tragen oder Abstand halten). Ich kann wieder an das Leben glauben. Ich kann wieder kleinere Pläne machen (ich denke schon in Monaten). Ich kann wieder lauter sprechen. Ich kann wieder Musik hören. Ich kann wieder aus der Wohnung vier Etagen runter zur Strasse laufen. Ich kann wieder turnen. Ich kann wieder wach bleiben. Ich kann wieder einschlafen. Ich kann wieder ein Vollbad nehmen (ich sollte es aber vermeiden, mein Blutdruck reagiert empfindlich). Ich korrigiere: Ich könnte ein Vollbad nehmen. Ich kann wieder auf der rechten Seite liegen. Ich kann wieder schmusen. Ich kann wieder ein Glas Wasser umfassen. Ich kann wieder meinen Hand­gelenken vertrauen. Ich kann wieder alleine zum Arzt. Ich kann wieder ein paar Halte­stellen laufen. Ich kann mich am Tag nach meinen Infusionen (und an den darauf­folgenden 7 bis 13 Tagen) wieder etwas besser zurecht­finden. Ich kann wieder normal traurig sein. Ich kann sogar wieder entweder etwas betrübt oder sehr betrübt sein. Ich kann wieder Zeitung lesen. Ich kann fast alle Minister­namen auswendig aufsagen. Ich kann wieder eine ganze Banane essen (ist aber nicht so leicht). Ich kann natürlich auch wieder heiter sein. Ich kann mich sogar wieder ziemlich kaputt­lachen. Ich kann wieder an der Fussgänger­ampel warten, ohne aus Versehen im Arm meiner Begleitung einzuschlafen. Ich kann mich wieder etwas länger konzentrieren. Ich kann wieder sagen, nein, das schaffe ich nicht. Ich kann wieder sagen, doch, das schaffe ich. Ich kann wieder sagen, ich mache weiter. Ich kann mir wieder Mühe geben. Ich kann wieder etwas Duft auflegen, ohne zu spucken. Ich kann wieder etwas Süsses probieren (ich mag aber noch nicht). Ich kann wieder Lust haben. Ich kann mich wieder wie ein Mensch fühlen. Ich kann wieder in meinem Körper bleiben (vor zwei Jahren ist mein Bewusstsein manchmal aus mir heraus­gerutscht). Ich kann mich wieder beugen oder bücken und dann ohne Hilfe aufrichten. Ich kann wieder auf dem Bauch liegen. Ich kann wieder Hosen aus etwas festerem Stoff mit Knöpfen oder Reiss­verschlüssen tragen. Ich kann wieder das Wort ergreifen für andere (aber nicht mehr so energisch wie früher). Ich kann wieder telefonieren. Ich kann wieder Bus fahren, ohne davon tagelang Hals­schmerzen zu bekommen. Ich kann wieder etwas mutig sein. Ich kann wieder versuchen, etwas zu versuchen.

Ich kann wieder schreiben.

Zur Autorin

Mely Kiyak schreibt Bücher und Theater­stücke. Zuletzt erschienen «Frausein» (2020) und «Werden sie uns mit FlixBus deportieren?» (2022), beide beim Hanser-Verlag in München. Als Schrift­stellerin ist sie vielfach ausgezeichnet worden. In den Jahren 2019 und 2020 schrieb Kiyak auch Kolumnen für die Republik.

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Mein Freund, der Tod

Teil 3

Wir lachen und nicken

Teil 4

Noch da

Teil 5

Der Himmel fällt runter

Teil 6

Ich bin jetzt so weit

Teil 7

Müller, Meier, Kiyak

Teil 8

Ich, Mely Kiyak …

Teil 9

Wir sind Ge­schich­ten

Teil 10

Guten Morgen, ich bin aufgewacht

Teil 11

Dieses Kind muss bleiben