«Wer soll diese ‹Woke-Bewegung› überhaupt sein? Diese Bewegung gibt es so gar nicht»: Adrian Daub, Professor für vergleichende Literatur­wissenschaft an der Stanford University.

«Der Liberalismus verliert in Europa gerade seine Nerven»

Morddrohungen in Stäfa, Polizeischutz für Drags. Wie konnte es so weit kommen? Ein Gespräch mit Stanford-Professor Adrian Daub über moralische Panik, «Cancel-Culture» und «Wokeness».

Von Elia Blülle (Text) und Mark Davis (Bild), 26.05.2023

Vorgelesen von Egon Fässler
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Herr Daub, in Stäfa sagt eine Sekundar­schule einen Gender-Tag wegen Gewalt­drohungen ab. Eine Drag-Lesung benötigt Polizei­schutz. Was braut sich hier zusammen?
Die Stimmungsmache rund um Gender­fragen hat Konsequenzen und aktiviert auch Menschen, die gewaltbereit sind. In den USA beobachten wir Gewalt­drohungen gegen solche Veranstaltungen seit Jahren. Diese Entwicklung kommt nun auch in Europa an.

Wie erklärt sich das?
Wir erleben einen Import von amerikanischen Diskursen. In Bayern hat der stellvertretende Minister­präsident Hubert Aiwanger von den Freien Wählern eine Drag-Lesung als «Kindeswohl­gefährdung» bezeichnet. Das geschah, wenige Tage nachdem diverse CSU-Abgeordnete, die Aiwanger politisch nahestehen, den Gouverneur von Florida und republikanischen Präsidentschafts­kandidaten Ron DeSantis getroffen hatten, der Unterricht über sexuelle Orientierung und Geschlechts­identität verboten hat.

Wieso übernehmen diese Parteien und Politiker solche Kampagnen?
Mit der Kampagne gegen trans Menschen und Wokeness bedienen die Republikaner in den USA zwei Wähler­segmente: das rechts­populistische und das radikal­liberale. Politiker wie Ron DeSantis greifen trans Menschen an, weil diese an der angeblich natürlichen Ordnung rütteln, die sie verteidigen möchten. Das gefällt den Konservativen, ist den Radikal­liberalen aber eigentlich egal. Aber aufgrund solcher moralischer Fragen streicht DeSantis Schulen oder Unis in Florida die Gelder, weil sie sich mit Geschlechter­theorie oder Critical Race Theory beschäftigen. Das gefällt den Radikal­liberalen. Ich gehe davon aus, dass Parteien wie die SVP sehr genau beobachten, wie die Republikaner mit dieser Politik ankommen, und den Politik­stil kopieren. Im deutsch­sprachigen Europa fallen diese Kampagnen auf fruchtbaren Boden, weil die Medien seit Jahren fleissige Vorarbeit leisten.

Sie sprechen die Kommentare, Essays und Interviews in Teilen der Presse über «Gendergaga», den «Woke-Wahn» und die Cancel-Culture an.
Nicht alle Texte zu diesen Themen fordern jene Politik, die DeSantis nun umsetzt. Viele Autoren dürften darüber sogar entsetzt sein. Aber die Kritik an den angeblich von Wokeness unterwanderten Institutionen bedient dieselbe Erregung, die Leute wie DeSantis jetzt für ihre Politik ausnutzen.

Zur Person

Adrian Daub, geboren 1980 in Köln, ist Professor für vergleichende Literatur­wissenschaft an der Stanford University. Er ist einer der renommiertesten Experten zu den Themen «Cancel-Culture» und «Wokeness». Daub schreibt unter anderem für die «Frankfurter Allgemeine Sonntags­zeitung», die «Neue Zürcher Zeitung» und ist Autor der beiden Bücher «Cancel Culture Transfer» und «Was das Valley denken nennt». Er hat im Januar für die Serie «Do not feed the Google» bereits einmal mit der Republik gesprochen.

Ein NZZ-Kommentator schrieb, die Schule in Stäfa müsse sich vorwerfen lassen, dass sie zu unbedarft an das Thema heran­gegangen sei, weil sie in der Einladung an die Schülerschaft den Genderstern «unglücklich» benutzt habe.
Das grenzt für mich an eine Täter-Opfer-Umkehr. Wer hat denn den Genderstern überhaupt erst zu so einem Reizobjekt hochstilisiert? Man sollte dazu sagen: Die NZZ hat den Vorfall klar verurteilt. Aber sie scheint nicht zu reflektieren, dass sie der moralischen Panik, die sich in diesen Drohungen widerspiegelt, mit vielen ihrer Texte zum Thema Vorschub geleistet hat.

Moralische Panik?
Ein Begriff aus der Soziologie der 1970er-Jahre. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Drei junge Heavy-Metal-Fans wählen den Suizid – und plötzlich stilisieren diverse Medien das Musik­genre zur neuen grossen Bedrohung. Sie berichten wochenlang, wie Heavy Metal unsere Jugend verdirbt. Politikerinnen und Intellektuelle übernehmen die Erzählungen, bauschen sie auf, und plötzlich klafft die Schere zwischen der tatsächlichen Verbreitung und der gesellschaftlichen Bedeutung eines Phänomens extrem auseinander. Aus etwas sehr Lokalem wird eine gesamt­gesellschaftliche Bedrohung konstruiert. Wenn sich jemand beim Abend­essen über den Glottisschlag beim mündlichen Gendern aufregt, ist das vollkommen in Ordnung. Das darf einen Menschen stören. Wenn man aber wegen des Glottis­schlags plötzlich den Untergang des Abend­lands ausruft, dann beginnt die moralische Panik.

Die Cancel-Culture ist gemäss Ihrem Buch ein Parade­beispiel für diese Panik.
Wenn eine Rednerin ausgeladen oder ein Konzert abgebrochen wird, ist immer etwas schief­gelaufen. Darüber darf man sich zu Recht ärgern. Das Problem beginnt, wenn Politiker und Zeitungen die Ausladung mit einer angeblichen neuen Kultur­revolution erklären. Ausserdem eignet sich Cancel-Culture gut als Beispiel für eine moralische Panik, weil es sehr beliebig ist, was unter dieses Label fällt. Seit 2019 haben Zeitungen wie die NZZ oder «Die Welt» in Deutschland Hunderte Leitartikel zum Thema veröffentlicht, ohne jemals klar zu definieren, was Cancel-Culture eigentlich sein soll.

Als der Gender-Tag in Stäfa wegen Gewalt­drohungen abgesagt werden musste, sprach niemand von Cancel-Culture.
In diesem Diskurs picken sich Feuilletonisten, Politikerinnen und Journalisten bestimmte Strömungen, Tendenzen und Einzel­fälle heraus. Lädt ein studentischer Verein an einer progressiven Uni einen rechts­konservativen Redner aus, sprechen alle von Cancel-Culture. Nicht aber, wenn zum Beispiel eine progressive Oper mit Buhrufen unterbrochen wird. Dann wird das als laute Kritik verbucht.

Dann würden Sie also sagen, dass es auch rechte Cancel-Culture gibt?
Man muss vorsichtig sein, wenn man die angebliche Cancel-Culture von links mit der rechten Bedrohung von Diversität und Meinungs­freiheit gleichsetzt. Das finde ich sehr gefährlich. Ein Konzert­abbruch in einem kleinen Berner Lokal ist nicht mit dem vergleichbar, was etwa Ron DeSantis in Florida vorantreibt. Lässt ein Gouverneur Bücher, die ihm nicht passen, aus dem Unterricht und den Bibliotheken verschwinden, ist das staatliche Zensur. Nichts anderes. Es klingt banal, aber die Macht haben immer noch die Mächtigen – und nicht junge Menschen mit «they/them»-Pronomen in ihren Twitter-Bios. Die moralische Panik beginnt, wenn die realen Macht­verhältnisse verkehrt werden, wenn gesagt wird, die Gefahr gehe angeblich von Menschen aus, die in Wahrheit gar keine Macht haben.

Die Erzählung einer mächtigen «Woke-Bewegung», die angeblich die freie und demokratische Gesellschaft unterwandere, scheint aber sehr erfolgreich zu sein.
Wer soll diese «Woke-Bewegung» überhaupt sein? Diese Bewegung gibt es so gar nicht. Viele der erregten Feuilletonisten, vielleicht gerade die älteren, denken in längst überholten Kategorien. Sie reden von der «Woke-Bewegung», und ihnen scheint dabei so etwas vorzuschweben wie die Kommunistische Partei, mit der sie aufgewachsen sind und die es schon lange nicht mehr gibt. Sie zeichnen das abstruse Bild einer sektenartigen Gruppe junger Menschen, die sich verschworen hätten. In den USA benutzen die Rechten und Leute wie Elon Musk auch den Begriff des «Woke-Mind-Virus», der angeblich unsere Hirne vergifte. Eine verschwörungs­theoretische Deutungs­schablone für die eigentlich ganz simple Tatsache, dass sich die Zeiten ändern und wir uns mit ihnen.

In einem Interview hat die deutsche FDP-Politikerin Katja Adler versucht, woke zu definieren, und scheiterte dabei – nachdem sie zuvor Wokeness zu einer der grössten Gefahren für unsere Gesellschaft erklärt hatte. Wie erklären Sie sich solche Szenen?
Würde sie aussprechen, was sie denkt, fiele die behauptete Gefahr in sich zusammen. Denn ehrlicher­weise müsste sie sagen: Es gibt kulturelle Ticks, die mich nerven, die ich für dumm und wohlfeil halte – zum Beispiel, wenn Leute nicht mehr fliegen, auf gender­gerechte Sprache achten oder sich vegan ernähren. Aber nicht alles, was uns nervt, ist gleich eine Bedrohung für die Gesellschaft. Im Grunde arbeiten sich viele mit ihrer Wokeness-Kritik am eigenen Milieu ab. Da kommt Twitter ins Spiel, wo viele dieser komischen Debatten stattfinden. Im deutsch­sprachigen Raum tummeln sich zwar auch Privat­personen auf Twitter, aber bevorzugt eben Politiker und Journalistinnen. Die Leute, die einen da nerven, sind vom Fach. Die eigene Blase bekriegt sich. Und diese Blase trägt ihre Konflikte dann in die Zeitungen und Talkshows.

Wieso gelingt es so einfach, damit aufgeladene Debatten zu lancieren?
Die moralische Panik bietet eine Gelegenheit, persönlichen Befindlichkeiten gesamt­gesellschaftliche Bedeutung zu verleihen. In Deutschland gab es eine Riesen­empörung, weil angeblich Winnetou «zensiert» werden sollte – was aber nicht stimmte. Viele nutzten diese Gelegenheit, eine lieb gewonnene Kindheits­erinnerung zu beschwören und zu sagen: Das will man mir wegnehmen, und ich verteidige es. Sie stilisierten ihre persönliche Nostalgie zum mutigen Freiheits­kampf. Diese Selbst­überhöhung kann man auch beim Gendern beobachten. Das scheint viele Menschen extrem zu stören. Total okay. Sie müssen das ja nicht machen. Aber dank der moralischen Panik um Wokeness und Cancel-Culture können Menschen ihr persönliches Unbehagen zu einem Kampf uminterpretieren, in dem es um alles geht.

Wieso spielen in diesen Diskursen Geschlechter­fragen so eine zentrale Rolle?
Trans Menschen eignen sich gut als Feindbild, weil sie stark marginalisiert sind, keine Lobby haben und sich kaum wehren können. Und die Gender­theorie und der Feminismus greifen den ideologischen Kern konservativer Politik an: die Vorstellung, dass die derzeitigen Hierarchien und Rollen­verteilungen natürlich und richtig seien. Das dürfte gerade für viele weisse Männer, die den Diskurs um Wokeness und Cancel-Culture befeuert haben, essenziell sein – auch auf einer ganz persönlichen Ebene. Der Diskurs enthält für sie die beruhigende Botschaft, dass sie sich ihre Macht und erhaltene Aufmerksamkeit selbst verdient hätten. Sie haben sie nicht deshalb, weil ihnen ein sexistisches oder rassistisches System dabei geholfen hat.

Dass Konservative an alten Rollen­bildern festhalten wollen, ist keine Überraschung. Aber die Stärke des Liberalismus war es immer, anzuerkennen, dass Gerechtigkeit und Gleichheit ständigen Verhandlungen unterliegen. Es keine abgeschlossenen Rezepte gibt.
Der Liberalismus verliert in Europa gerade seine Nerven. Liberale, die über Wokeness oder Cancel-Culture klagen, fürchten sich letztlich vor ihrer eigenen Ideologie. In der Schweiz etwa verstehen viele den Liberalismus als Gegengift zu Mächten, die alle anderen an den Rand zu drängen drohen. Liberalismus dient der Disruption von Hierarchien. Aber gewisse Hierarchien wollen sie dann doch davon ausnehmen. Die Reden von der Cancel-Culture und der Wokeness dienen als Sprachspiele, um zu sagen: Black Lives Matter macht alles falsch, ohne direkt den strukturellen Rassismus zu leugnen. Oder: Das beste Argument gewinne – ausser es kommt von den «cancelnden» Feministinnen aus «Wokistan».

Viele, die sich als Liberale verstehen, fürchten sich auch vor Selbst­zensur. In Deutschland glauben gemäss einer Umfrage mittler­weile fast die Hälfte der Menschen, man könne seine Meinung nicht mehr frei äussern.
Das zeigt gut, was moralische Panik mit den Menschen macht. Ich bin mir nicht sicher, dass dieses Gefühl heute stärker ist als noch vor 20 Jahren. Aber man bringt uns ständig bei, dass wir dieser angeblichen Schere im Kopf eine enorme Bedeutung beimessen sollten. Um persönlich zu sprechen: Als Dozent achte ich genau darauf, wie ich mich in meinem Unterricht äussere. Ich will nicht verletzend sein, will die Diskussion produktiv gestalten und eine gute pädagogische Atmosphäre schaffen. Ich glaube, es gibt keine aufrichtigen und guten Hochschul­lehrer, die frisch von der Leber weg immer alles teilen, was ihnen durch den Kopf geht. Betreibt man deshalb Selbst­zensur? Nein. Und es ist schon auch sehr auffällig, wie einseitig die mediale Diskussion um Selbst­zensur geführt wird.

Wie meinen Sie das?
Eine Muslimin in der Schweiz oder Deutschland dürfte bei der Vorstellung, frei und unbescholten in aller Öffentlichkeit zu sagen, was sie denkt, in schallendes Gelächter ausbrechen. Denn sie wird oft bereits beschimpft, ohne dass sie ihre Meinung teilt. Es wird auch fast nie gefragt, ob marginalisierte Menschen ihre Identität verleugnen müssen. Man fragt, ob jemand noch das N-Wort sagen darf – nicht aber, ob eine schwarze Person in der Schweiz sich selbst zensiert, um nicht Ziel des N-Worts zu werden. Die Diskussion um Selbst­zensur ist sehr entlarvend. Denn letztlich sagt die Art und Weise, ob und wie wir unser Sprach­verhalten anpassen, viel darüber aus, wie wir die Welt sehen und anderen Menschen begegnen.

Können Sie das erklären?
Meine Oma, die mittlerweile verstorben ist, hat unglaublich lange gebraucht, um sich das N-Wort abzugewöhnen. Und wenn sie das N-Wort sagte, fügte sie immer hinzu: «… oder wie die jetzt genannt werden möchten». Sie hat das 40 Jahre lang gemacht, solange ich sie kannte. In jenen 40 Jahren hat sie Wörter wie Handy, Tastatur, Display und Touch­screen gelernt, aber das N-Wort konnte sie lange nicht ersetzen. Wieso? Ich glaube, es war ihr einfach nicht wichtig. Da bin ich jetzt ganz hart. Ich glaube, sie sah sich nicht in der Pflicht, den betroffenen Menschen mit Respekt zu begegnen.

Wie geht man am besten mit Menschen um, die sich so verhalten?
Man sollte Menschen behutsam behandeln, wenn sie Mühe haben, mit der Zeit zu gehen. Aber gleichzeitig ist es falsch, ihre Naivität immer für bare Münze zu nehmen. Wenn Personen demonstrativ um Wörter kämpfen, die vor 30 Jahren in Verruf geraten sind, geht es ihnen ausschliesslich darum, den betroffenen Menschen Respekt zu verwehren.

Der Kulturkampf um die Wokeness ist da. Wie kann man sich dem entziehen?
Als Zeitungs­konsument ganz einfach. Es gibt eine digitale Informations­schwemme. Wir müssen alle ständig entscheiden, was wir lesen und was nicht. Meine Empfehlung wäre: Wenn Ihnen ein Wortsalat vorgesetzt wird und das erstgenannte Beispiel von den Literatur­tagen Solothurn oder einem College handelt, von dem Sie noch nie etwas gehört haben, in einem US-Bundes­staat, von dem Sie vergessen haben, dass es ihn überhaupt gibt, ignorieren Sie den Text.

Können Sie sich dem Diskurs entziehen?
Die Diskurse über politische Korrektheit, Cancel-Culture, «Gendergaga» und neu Wokeness finden auf traum­wandlerische Art und Weise immer wieder zurück zu den Universitäten. Das beeinflusst natürlich die Arbeit dort. Bei Kolleginnen und Kollegen wird der Rotstift angesetzt, Professoren fliegen raus, Bücher werden aus den Bibliotheken verbannt und ganze Studien­gebiete abgesetzt. Wem die Universität und ihr Fort­bestehen als eine liberale Institution wichtig sind, muss sich leider zwangs­läufig weiter mit diesen Diskursen herum­schlagen.

Wie spricht man am besten mit Menschen, die überzeugt sind, dass es eine militante «Woke-Bewegung» gebe, die Parteien und Politikerinnen vor sich hertreibt?
Stellen Sie Fragen: Welche Parteien werden von den «Woken» vor sich hergetrieben? Wie ist die Macht verteilt? Wie schaffen es Menschen, Normen zu etablieren? Und dann können Sie zum Beispiel erklären, dass die meisten der angeblich so woken US-Universitäten abhängig sind von Geldern, die sie von erzkonservativen Bundes­staaten erhalten oder von Milliardären, die meistens etwa so umstürzlerisch sind, wie man das von Menschen erwarten würde, denen das System zu enormem Reichtum verholfen hat. Oder Sie können darauf hinweisen, dass eine schwedische Schülerin kaum mehr Macht hat als ein Regierungs­chef; eine Zeitung mit Hundert­tausenden Leserinnen und Lesern mehr Einfluss hat als ein Teenager mit 20’000 Followern. Bitten Sie sie darum, den Diskurs in den Kontext zu setzen.

Was macht Ihnen Hoffnung?
Moralische Paniken klingen ab. Aber sie schlagen sich häufig in Gesetzen nieder, die auch dann noch überleben, wenn die Panik längst wieder vergessen ist. Niemand glaubt mehr, dass Satanisten heimlich Kindergärten in den USA übernommen haben. Aber trotzdem sind wegen der bizarren satanic panic aus den 1980er- und frühen 1990er-Jahren immer noch Menschen vorbestraft. Drei Männer sind zum Beispiel 1993 verurteilt worden, weil sie ein Kind als Teil eines satanischen Rituals ermordet haben sollen, und wurden erst 2011 entlassen. Ich hoffe, dass bei der Panik um Wokeness und Cancel-Culture die Menschen zu realisieren beginnen, wie diese Erregungs­wellen gestrickt sind. Und ich hoffe, dass man die Gesetze, die von dieser Panik befördert werden, schneller zurück­drehen kann, weil man deren Entstehung dank dem Internet heute viel besser nachvollziehen kann.

Sie hoffen also auf Schadens­begrenzung?
Nicht nur. In den USA haben die Republikaner die Zwischen­wahlen auch verloren, weil sie im Wahlkampf auf den Kultur­kampf gesetzt haben. Denn auch Trump-Wählerinnen haben Kinder, die trans oder non-binär sind. Und den meisten Eltern ist es letztlich wahrscheinlich doch immer wichtiger, ihre Kinder glücklich und lebendig zu sehen, anstatt seltsame Kultur­kriege anzuzetteln. Ich bin gespannt, wie sich die Debatte um trans Menschen und Drags in der Schweiz und Deutschland entwickeln wird. Diese Panik soll und kann vielen Menschen das Leben schwermachen. Und ich hoffe sehr, es ist nur eine Minderheit, die sich mit dieser Politik gemein machen möchte.

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