«Menschen werden verurteilt, ohne davon zu erfahren»

Fast alle Straffälle in der Schweiz werden per Strafbefehl erledigt. Das Verfahren ist effizient, günstig – und in der Politik sehr beliebt. Aber ist es auch gerecht und fair? Ein Gespräch mit Strafrechts­professor Marc Thommen.

Von Brigitte Hürlimann (Text) und Lisa Rock (Illustration), 19.05.2023

Vorgelesen von Regula Imboden
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Herr Thommen, Sie haben zwei Söhne im Primar­schulalter. Wie erklären Sie Ihren Kindern, was ein Strafbefehl ist?
Ich würde Folgendes sagen: Wenn ihr eine Straftat begangen habt – und beide wissen, was das ist –, bekommt ihr einen Brief. Darin stehen die Konsequenzen eurer Handlung.

Das genügt?
Kaum. Ich würde die Kinder anschliessend fragen, was ihrer Meinung nach passiert, wenn jemand eine Straftat begangen hat. Meine Söhne würden vermutlich antworten, es käme zu einer Gerichts­verhandlung. Das ist in manchen Fällen korrekt, aber eben längst nicht immer. Und hier sind wir schon mitten im Strafbefehls­verfahren, mit dem über 90 Prozent aller Straffälle abgehandelt werden. Die Polizei kümmert sich um den Vorfall, danach landet er auf dem Pult einer Staats­anwältin, die das Urteil fällt. Sie handelt wie eine Lehrerin, der das falsche Verhalten eines Kinds zugetragen wird und die dann die Strafe vom Lehrerpult aus verhängt. Ohne das Kind zu seiner Version der Geschichte zu befragen.

Das Beispiel mit der Lehrerin können Ihre Kinder bestimmt nachvollziehen. Aber dass ein eingeschriebener Brief eintrifft, in dem erstens steht, was ich strafrechtlich falsch gemacht haben soll – und zweitens, wie ich bestraft werde?
Meine Kinder würden verstehen, dass es Konsequenzen gibt, wenn sie gegen das Strafrecht verstossen.

Sind Sie sicher?
Wenn wir als Familie im Auto unterwegs sind, zurück aus den Ferien oder aus einem verlängerten Wochenende in den Bergen, hören wir uns manchmal Strafrechts­vorlesungen an, damit ich mich aufs Unterrichten vorbereiten kann. Nun kann man sich natürlich fragen, was die Kindesschutz­behörde dazu sagt, wenn ein Strafrechts­professor seine noch nicht strafmündigen Kinder mit Vorlesungen über Mord und Totschlag malträtiert. Erstaunlicherweise finden sie es aber sehr spannend und diskutieren mit. Aber über Verfahrens­fragen haben wir tatsächlich noch nie gesprochen. Ich behaupte, sie würden das Strafbefehls­verfahren eher schlecht finden.

Warum?
Ich mache ein Beispiel: Fast jeder von uns kennt passiv-aggressive Nachbarn, die auf Zettelchen Botschaften hinterlassen und mitteilen, was alles nicht in Ordnung ist; Zigaretten­kippen, die am Boden liegen, oder Abfallsäcke, die zum falschen Zeitpunkt oder am falschen Ort auf die Strasse gestellt werden. Das macht uns tendenziell hässig. Wir denken: Wenn einer reklamieren muss, soll er es wenigstens direkt sagen. Dann reden wir über die Sache. Er schildert seine Position, ich schildere meine, und vielleicht sehe ich ein, dass ich mein Verhalten ändern sollte. Das ist eines der Grund­probleme im Strafbefehls­verfahren – oder dieser Verurteilung auf dem Korrespondenz­weg, wie wir es in meinem Team nennen. Es fehlt am Kontakt. Allzu oft werden die Betroffenen mit der Person, die eine Sanktion verhängt, nicht direkt konfrontiert.

Ich habe gegen das Strafgesetz verstossen, werde bestraft – und darf nichts dazu sagen?
Die meisten Betroffenen können sich gegenüber der Polizei äussern, die ermitteln muss, was geschehen ist. Aber auch das findet nicht immer statt. Wenn es dann eine Stufe weiter geht, zur Staats­anwaltschaft, werden die Beschuldigten nur noch selten angehört, bevor die Sanktion festgelegt wird. Das darf man nicht unterschätzen: Beschuldigte haben nicht nur die Pflicht, sich vor einem Gericht zu verantworten – es ist auch ihr Recht. Die Gerichte haben sich die Darstellung der Beschuldigten anzuhören, ihnen gebührt am Prozess das letzte Wort. Die Richterinnen schauen den Menschen in die Augen, wenn sie ihnen erklären, was sie getan haben und was die Konsequenzen sind. Das ist ein Grundgebot. Darauf zu verzichten, ist nur in einem nieder­schwelligen Bereich legitim, bei Parkbussen oder anderem Krimskrams.

Das ist Ihre persönliche Meinung.
Das sagt auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg, in seiner Rechtsprechung zum fairen Prozess und zu den Verfahrens­garantien. Von diesen Voraussetzungen darf höchstens im Bagatell­bereich abgewichen werden. Doch in der Schweiz geht es längst nicht mehr nur um Bagatellen, die per Strafbefehl erledigt werden, sondern um Vergehen und Verbrechen – um Freiheits­strafen bis zu sechs Monaten. Das geht eindeutig zu weit.

Zur Person

zVg

Marc Thommen ist Strafrechts­professor an der Universität Zürich und hat sich schon in seiner Habilitations­schrift mit der Rechts­staatlichkeit des Strafbefehls­verfahrens befasst. In verschiedenen Forschungs­projekten des Schweizerischen National­fonds erarbeitet der 48-Jährige zusammen mit seinem Lehrstuhl­team Zahlen und Fakten zu diesem Verfahren, mit dem der Grossteil aller Strafrechts­fälle erledigt wird. Basis für die Forschung sind Untersuchungen in den Kantonen Zürich, Bern, St. Gallen und Neuenburg. 2020 startete das Nachfolge­projekt mit Erhebungen aus dem Kanton Basel-Stadt.

Von 2005 bis 2009 war Thommen Gerichts­schreiber am Bundesgericht (in der strafrechtlichen Abteilung). 2014 gründete er zusammen mit Daniel Hürlimann den Verein sui generis, der die Open-Access-Zeitschrift sui-generis.ch herausgibt; eine juristische Fach­publikation, die auch wissenschaftliche Bücher veröffentlicht. Marc Thommen ist seit 2020 Mitglied der Aufsichts­behörde über die Bundes­anwaltschaft, seit 2022 als deren Vizepräsident.

Kommt das häufig vor?
Unsere Forschung hat ergeben, dass in der Schweiz drei von vier Gefängnis­insassen nie einen Richter gesehen haben. Das kann niemand mehr nachvollziehen, auch in Fachkreisen nicht. Und schon gar nicht im Ausland. Wenn wir dort unsere Ergebnisse präsentieren, schauen sie uns an, als ob wir aus einer Bananen­republik kämen. Diese Reaktion müsste ein Warnsignal sein.

Das sehen längst nicht alle so. Und überhaupt: Jeder kann gegen einen Strafbefehl Einsprache erheben, dann kommt der Fall unter Umständen vor Gericht. Es steht den Betroffenen frei, auf dieses Recht zu verzichten. Das ist zu respektieren.
Tatsächlich lässt auch Strassburg zu, dass Beschuldigte auf ihre Verfahrens­rechte verzichten. Ein Verzicht ist aber nur gültig, wenn die Betroffenen verstehen, worauf sie verzichten: Wissen sie, dass sie ein Recht auf eine Verteidigung haben? Und das Recht, eine Übersetzung oder eine Begründung zu verlangen? Wenn ich mir die Strafbefehls­praxis anschaue, zweifle ich daran.

Wie oft wird Einsprache erhoben?
Nur in jedem zehnten Fall. Danach liegt es in den Händen der Staats­anwaltschaft, zu entscheiden, was passiert. Sie kann am alten Strafbefehl festhalten, einen neuen ausstellen, die Sache einstellen oder Anklage vor Gericht erheben. In immerhin 10 Prozent der Fälle wird das Verfahren nach einer Einsprache eingestellt. Wenn das einfach so geschieht, ohne weitere Untersuchungs­handlungen, kann das beim Betroffenen den schalen Eindruck hinterlassen, dass ein Versuchs­ballon gestartet wurde – der bei der geringsten Gegenwehr platzt.

Wie weit sollte das Strafbefehls­verfahren gehen?
Die Schmerzgrenze liegt bei der Freiheits­strafe; egal, ob sie bedingt oder unbedingt ausgesprochen wird, denn das hängt von Faktoren ab, die mit der Straftat nichts zu tun haben. Es geht darum, ob der Beschuldigte vorbestraft ist oder um seine finanzielle Situation. Wer eine Geldstrafe oder Busse nicht bezahlen kann, muss sie im Gefängnis absitzen. Ich sage konsequent: keine Freiheits­strafen im Strafbefehls­verfahren. Damit wird eine rote Linie überschritten.

Und wie hoch dürfen Geldstrafen sein?
Das ist zu diskutieren. Man kann den Strafbefehl durch die Sanktion begrenzen, wie das heute der Fall ist: Das Verfahren darf nur angewandt werden, wenn eine Freiheitsstrafe von höchstens sechs Monaten oder eine Geldstrafe von höchstens 180 Tages­sätzen verhängt wird. Früher, als es noch kantonales Strafprozess­recht gab, unterschieden einzelne Kantone auch nach Delikten. Sie befanden etwa, Strafbefehle dürfe es nur bei Übertretungen oder Vergehen geben – nicht bei Verbrechen, wie das heute der Fall ist. Wobei: Jeder Diebstahl über 300 Franken ist ein Verbrechen. Wenn ich Ihr Handy mitgehen lasse, mit dem Sie unser Gespräch aufnehmen, dann begehe ich ein Verbrechen. Das ist nicht okay, aber noch im Bereich der harmloseren Kriminalität. Da wäre ein Strafbefehls­verfahren wohl zulässig. Es gab schon Vorschläge, man solle wenigstens Sexual- oder Gewalt­delikte nicht per Strafbefehl abhandeln. Das war bisher chancenlos, es sind politische Entscheide …

Moment! Es geht auch um Sexual- und Gewalt­delikte?
Natürlich, darunter auch massive Fälle, sogar fahrlässige Tötungen. Es liegt viel drin in diesen höchstens sechs Monaten Freiheits­strafe. Schwere Fälle sind gar nicht selten. Ein berühmtes Beispiel ist die schiefgelaufene Herz­transplantation am Universitäts­spital Zürich, da wurden 2007 die involvierten Chirurgen per Strafbefehl abgeurteilt und wegen fahrlässiger Tötung bestraft. Fakt ist: Auch Tötungsdelikte werden im Strafbefehls­verfahren abgehandelt. Darum ist es falsch, zu behaupten, es gehe nur um Massen­delikte oder Klein­kriminalität, die effizient erledigt werden müssen.

Stichwort Effizienz: Was sind sonst noch Vorteile des Strafbefehls­verfahrens?
Diese Erledigungsart ist schnell, diskret und kostengünstig, was viele Betroffene schätzen, das ist mir klar. Aber es gibt ein paar grundsätzliche Probleme: Es kommt viel zu selten zu Einvernahmen durch die Staatsanwälte, es ist fast nie eine Verteidigung involviert, es findet nicht immer eine Übersetzung statt, der Strafbefehl wird selten begründet und kann per Post zugestellt werden. In der Summe kollidieren diese Verfahrens­mängel mit der Europäischen Menschenrechts­konvention.

Warum ist die Postzustellung ein Problem?
Das Verfahren wird nicht richtig zu Ende geführt. Die Staats­anwaltschaft weiss in vielen Fällen nicht, ob der Brief bei der betroffenen Person angekommen ist, und falls ja: ob er geöffnet und verstanden wird. Das ist vor Gericht anders. Bei der Urteils­eröffnung hat die Richterin den Beschuldigten direkt gegenüber und erklärt ihm den Entscheid, wenn nötig mit einer Dolmetscherin. Die Richterin erläutert dem Beschuldigten zudem, wie er sich gegen das Urteil wehren kann. All das findet im Strafbefehls­verfahren in der Regel nicht statt. Für die Staats­anwaltschaft ist der Fall mit der Zustellung erledigt. Ohne zu wissen, ob die Message angekommen ist.

Ich will es genauer wissen: das Einmaleins des Strafverfahrens

Wer gegen das Strafgesetz verstösst und erwischt wird, gegen den ermitteln Polizei und Staats­anwaltschaft. Sie sichern Beweise, befragen die Betroffenen sowie allfällige Zeuginnen oder Experten. In über 90 Prozent der Fälle bleibt die Angelegenheit bei den Staats­anwältinnen; sie erledigen die Sache per Strafbefehl: Wenn der Vorfall klar ist oder wenn ein Geständnis vorliegt und wenn keine Sanktion droht, die über ein halbes Jahr Freiheitsstrafe oder 180 Tagessätze Geldstrafe hinausgeht.

Sind diese Voraussetzungen nicht gegeben und wird das Strafverfahren auch nicht eingestellt, kommt die Sache vor Gericht. Die Staatsanwältin verfasst eine Anklageschrift, die Beschuldigten werden an den Prozess vorgeladen – und die Richterinnen fällen ein Urteil. Diese Art von Verfahren ist jedoch zum Ausnahme­fall geworden.

Zu den schnellen Formen der Erledigung gehört neben dem Strafbefehls­verfahren das «abgekürzte Verfahren». Es besteht aus einem Deal zwischen der Staats­anwaltschaft und dem geständigen Beschuldigten und kann angewandt werden, wenn keine Sanktion über fünf Jahre Freiheits­strafe droht. Ist ein solcher Deal ausgehandelt worden, legt die Staats­anwaltschaft dem Gericht einen Urteils­vorschlag vor. Die Richterinnen prüfen nur noch, ob die Voraussetzungen fürs «abgekürzte Verfahren» vorliegen, ob die beantragte Sanktion angemessen ist – und die Beschuldigte immer noch geständig.

Je nachdem, wie der Verstoss gegen das Strafrecht qualifiziert wird, liegt eine Übertretung, ein Vergehen oder ein Verbrechen vor. Eine Übertretung bedeutet, dass die Tat nur mit Busse bestraft wird. Wenn eine Geld- oder eine Freiheits­strafe droht, ist von einem Vergehen oder Verbrechen die Rede. Verbrechen sind die schwersten Taten wie beispiels­weise Mord, Vergewaltigung oder Diebstahl.

Die Staats­anwältinnen hätten heute schon die Möglichkeit, Betroffene zu sich zu beordern und den Strafbefehl mündlich zu eröffnen?
Ja. Im Kanton Zürich wird den Staatsanwälten sogar empfohlen, das zu machen – wenn es um Delikte ausserhalb des Bagatell­bereichs geht. Der ehemalige Ober­staatsanwalt Ulrich Arbenz hat die mündliche Eröffnung sehr unterstützt und stets betont: «Lasst sie kommen, sprecht mit ihnen!» Die Begegnung ist ein guter Test für die Staats­anwälte und etwas völlig anderes, als ein Verdikt einfach ins Couvert zu stecken. Kann man dem Gegenüber plausibel erklären, warum er verurteilt wird? Wenn man das kann, und zwar im direkten Gespräch, ist der Entscheid wohl richtig. Wenn es nicht gelingt, ist vermutlich an der Sache irgendetwas nicht gut. Doch ich weiss, dass es im belasteten Arbeits­alltag der Staats­anwaltschaften einfacher ist, einen Fall auf dem Korrespondenz­weg zu erledigen.

Und eben: effizienter.
Wie gesagt, es kommt sogar vor, dass Betroffene weder vor der Polizei noch vor der Staats­anwaltschaft Rede und Antwort stehen müssen, sondern einfach den Strafbefehl zugestellt bekommen. Das wird damit begründet, dass jedermann Einspruch gegen einen Strafbefehl erheben und damit eine Anhörung erzwingen könne. Was allerdings nicht oft geschieht, wie unsere Forschung ergeben hat. Nur in 20 Prozent der Fälle führt ein Einspruch zu einer Einvernahme. Aber das Konzept ist auch unabhängig davon falsch.

Inwiefern?
Das rechtliche Gehör zu gewähren, ist eine Bringschuld der Strafbehörde. Sie muss die andere Seite anhören, bevor sie entscheidet. Genau wie Sie als Journalistin verpflichtet sind, bei einer kontroversen Recherche die jeweils andere Seite anzuhören. Es ist nicht Sache des Beschuldigten, durch eine Einsprache das rechtliche Gehör zu erzwingen.

Sie sprechen in Zusammenhang mit den Strafbefehlen von einer «heimlichen Verurteilung». Warum?
Da geht es eben um die Zustellung, die ich kritisiere. Die Strafverfolger wissen nicht, ob ihr Verdikt angekommen ist. Wenn der eingeschriebene Brief nicht abgeholt wird, gehen sie von einer sogenannten Zustell­fiktion aus. Sie behandeln den Fall so, als ob der Betroffene den Strafbefehl erhalten hätte – auch wenn sie genau wissen, dass es in Wirklichkeit nicht geschah. Das gilt generell bei eingeschriebenen Briefen: Werden sie nach sieben Tagen nicht abgeholt, gelten sie als zugestellt. Zustell­fiktion ist ein Euphemismus. Darum nennen wir es im Team heimliche Verurteilung. Menschen werden verurteilt, ohne davon zu erfahren. Die krasseste Form ist übrigens die Dossier­fiktion.

Was ist das?
Wenn die Staats­anwaltschaft einen Strafbefehl erlässt, aber über keine Adresse des Beschuldigten verfügt, wird der Entscheid einfach ins Dossier gelegt, zu den übrigen Akten dieses Falls – und gilt so als zugestellt. Fall erledigt. Zwar würde die Recht­sprechung des Gerichtshofs für Menschen­rechte verlangen, dass man ernsthafte Anstrengungen unternimmt, um die Adresse herauszufinden, oder versucht, den Strafbefehl rechtshilfeweise zuzustellen. Das wird aber oft nicht gemacht. Es kann jemand zu einer unbedingten Freiheitsstrafe verurteilt werden, ohne davon zu wissen. Die Betroffene erfährt erst davon, wenn sie in die Schweiz einreist und sofort festgenommen wird. Oder wenn die Rechnung einer Inkasso­stelle eintrifft, bei den unbedingten Geldstrafen und den Bussen.

Wann wird aus dem Strafbefehl ein rechtskräftiges Urteil, das vollstreckt werden kann?
Wenn innerhalb von zehn Tagen keine Einsprache erhoben wird. Oder wenn die Einsprache zurückgezogen wird, was in 36 Prozent der Fälle geschieht. Dann mutiert der Strafbefehl zum rechtskräftigen Urteil, ohne Beteiligung eines Gerichts.

Und aus der Staatsanwältin wird eine Richterin.
Exakt. Damit sind wir zurück bei den grundsätzlichen Fragen. Eine der grossen Errungenschaften der Reform­bewegungen des 19. Jahrhunderts war, dass auch im Straf­verfahren die Gewalten­teilung gilt. Es gibt eine untersuchende Behörde – und eine beurteilende Behörde. Das ist eine Reaktion auf die Schreckens­erfahrung aus den Zeiten der Inquisition. Der Untersuchende ist durch seine eigene Untersuchungs­hypothese korrumpiert. Er hat ein Ziel vor Augen, einen einseitigen Blick auf die Ereignisse. Darum will man eine unabhängige Stelle, die mit der Untersuchung nichts zu tun hat und den Fall beurteilt. Diese Idee des reformierten Straf­prozesses entstand nach der Aufklärung. Die strikte Trennung war eine grosse Errungenschaft – die mit dem Strafbefehls­verfahren über den Haufen geworfen wurde. Der ehemalige Bundesrichter Martin Schubarth sprach von der Rückkehr zum Gross­inquisitor.

Uff.
Anfänglich war der Gesetzgeber noch hellhörig für die Frage der Gewalten­teilung. Zürich war der erste Kanton in der Schweiz, der ein Strafbefehls­verfahren in jener Form einführte, wie wir es heute kennen. Das war 1919, also rund hundert Jahre vor der eidgenössischen Strafprozess­ordnung, die 2011 in Kraft trat. Der Kanton Aargau kannte auch ein Strafbefehls­verfahren, doch dort musste ein Richter auf den Strafbefehl der Staats­anwaltschaft schauen. Nur er konnte ihn zum Urteil erheben.

Das war in Zürich nicht der Fall?
Nein, Zürich überliess das ganze Verfahren den Staats­anwälten, die damals noch Bezirksanwälte hiessen. Mit der Begründung, solche Fälle gehörten eigentlich vor den Einzelrichter. Doch der Kanton hatte sich ein paar Jahre zuvor gegen das Einzelrichtertum entschieden; mit dem interessanten Argument, Fälle von einem Einzelrichter beurteilen zu lassen, sei undemokratisch und mit den schweizerischen Werten und Demokratie­vorstellungen nicht vereinbar. Man könne nicht die Strafmacht einer einzelnen Person – einem Richter – übergeben. Es brauche ein Dreier­gremium. Für Bagatelldelikte fand man das ein bisschen übertrieben, also hat man den Strafbefehl eingeführt und diesen dem Bezirks­anwalt anvertraut. Der Kantonalzürcher Gesetzgeber betonte jedoch, es dürfe bei den Strafbefehlen nur um geringfügige Delikte gehen, nie und nimmer um Freiheits­strafen.

Gute alte Zeiten …
Zehn Jahre später wurde im Kanton Zürich der Einzelrichter doch noch eingeführt. Die logische Konsequenz wäre gewesen, den früheren Entscheid rückgängig zu machen. Doch das Gegenteil geschah. Das Strafbefehls­verfahren habe sich so bewährt, hiess es nun plötzlich, dass es bei der Staats­anwaltschaft bleiben soll. Und die Strafbefehls­kompetenz wurde sogar noch erhöht, in mehreren Runden. Schnell durften auch kurze Freiheits­strafen per Strafbefehl verhängt werden. So hat sich das stückweise etabliert, es war eine schleichende Erosion des Prinzips der Gewaltenteilung. Lange hat man sich damit getröstet, es gehe nur um Bagatellen. Aber das gilt längst nicht mehr.

Ist die Staats­anwaltschaft zu mächtig geworden?
Ich kann die Frage mit einer Anekdote beantworten. Als 2011 die eidgenössische Strafprozess­ordnung in Kraft trat, hielt ich zusammen mit der Juristin Andrea Müller Merky und mit Strafrechts­professor Felix Bommer Vorträge im ganzen Land. Müller Merky war vorher Einzelrichterin in Bern. Sie hat sich im Hinblick auf die neue Strafprozess­ordnung entschieden, zur Staats­anwaltschaft zu wechseln. Für viele war das ein überraschender Karriere­schritt. Aber die Kollegin antizipierte, dass es ab 2011 bei den Straf­verfolgern mehr Gestaltungs­möglichkeit und Einfluss gibt. Dort spielt die Musik. Das bringt es gut auf den Punkt. Die Entscheidungs­kompetenz hat sich weg von den Gerichten hin zu den Staats­anwaltschaften verlagert. Das Strafverfahren wird in einer Person zentralisiert, das ist sehr effizient. Alles ist an einem Ort. Es gibt handfeste, vor allem ökonomische Gründe, die für dieses System sprechen. Die Kehrseite ist, dass sehr viel Macht bei einer Person konzentriert wird. Das braucht Kontrolle.

Diese Macht­konzentration bei der Staats­anwaltschaft ist politisch gewollt.
Die Schweiz stellt gerne wirtschaftliche Interessen über andere. Wenn man dem Durchschnitts­parlamentarier ein günstiges, schlankes und effizientes System für etwas präsentiert, für das die meisten Politikerinnen ungern Geld ausgeben – dann sagt er Ja. Und zwar in seiner Rolle als Finanz­politiker, der die Interessen der Steuerzahler seines Kantons im Auge hat. Cash for crooks, also Geld für Kriminelle, das finden die wenigsten cool. Das günstige System wird zudem mit dem Versprechen präsentiert, dass es viele Verurteilungen generiert. Unter der ökonomischen Perspektive ist das Strafbefehls­verfahren toll. Es kostet nicht viel und ist schnell vorbei.

Das klingt vernünftig.
Es bleibt die Frage, ob das Verfahren auch effizient ist, was die strafrechtlichen Ziele betrifft. Verhindert eine Verurteilung per Strafbefehl, dass die betroffene Person erneut straffällig wird? Hat sie verstanden, warum sie bestraft wird? Das ist eine komplett andere Debatte, die unter dem Eindruck von Schnelligkeit und Kosten­ersparnis oft vergessen geht.

Also Schluss mit den Strafbefehlen?
Realistischerweise gehe ich davon aus, dass das Verfahren bleiben wird. Es muss aber rechts­staatlicher werden, den Mindest­standards der Menschenrechts­konvention genügen. Das ist es, was ich mit dem «fairen kurzen Prozess» meine. Wenn wenigstens ein Kontakt zwischen der Staats­anwältin und dem Beschuldigten stattfindet, ist ein wichtiger Schritt in Richtung Fairness getan. Und nochmals, ich kann es nicht genug betonen: keine Freiheits­strafen.

Welche weiteren Änderungen würden Sie vorschlagen?
In unserem Forschungsteam sprechen wir von den fünf c, die notwendig sind: contact, caution, counsel, conformity und cookies. Contact steht für die menschliche Interaktion. Die Ulrich-Arbenz-Praxis muss Standard werden. Verurteilender und Verurteilter müssen sich gegenüberstehen. Mit caution ist die Aufklärung über die Rechte und die Konsequenzen des Strafbefehls gemeint, counsel umfasst den Beistand durch Verteidigung und Übersetzung, conformity die Übereinstimmung mit der Menschenrechts­konvention – und cookies die Weichen­stellungen im Verfahren.

Können Sie zu den cookies ein Beispiel nennen?
Wenn die Staatsanwältin ein Verfahren einstellen will, muss sie dies begründen und von der Chefin genehmigen lassen. Einen Strafbefehl hingegen kann sie unbegründet dem Beschuldigten schicken. Wenn Sie als Staatsanwältin am Montag­morgen vor riesigen Papierbergen sitzen, bleibt Ihnen die Wahl, Ärger mit der Chefin oder mit dem Beschuldigten zu haben. Diese Regelung lenkt den Entscheid von Anfang an in eine gewisse Richtung.

Noch ein Wort zur conformity, also zur Übereinstimmung mit der Menschenrechts­konvention?
Sie müssen sich Folgendes vor Augen halten: Die Europäische Menschenrechts­konvention war der Versuch, auf den Trümmern des Zweiten Weltkriegs und nach den Erfahrungen mit Nazi-Deutschland einen Mindest­konsens für Europa festzuschreiben. Sie legte die Grundwerte fest, auf denen die Nachkriegs­staaten aufbauten; ein Mindest­standard, der nicht unterschritten werden darf. Es geht nicht um Luxus­forderungen.

Die Strafprozess­ordnung wird derzeit revidiert. Das betrifft auch das Strafbefehls­verfahren. Kommt es gut?
Wie hat es Ständerat Daniel Jositsch kürzlich an einer Tagung in St. Gallen gesagt? Wenn alle unzufrieden sind, ist es ein gutschweizerischer Kompromiss.

Darauf läuft es hinaus?
Ja. Die Reform ist das Resultat der unterschiedlichen Kräfte, die sich mit unterschiedlichsten Interessen und Erwartungen beteiligten. Zum Teil haben sich die Straf­verteidigerinnen durchgesetzt und zum Teil die Kantone mit ihren Budgetsorgen. Es gibt kleine Schritte in Richtung Rechts­staatlichkeit, dann wieder wurde die Effizienz zementiert. Im Strafbefehls­verfahren soll neu gelten: Wenn eine Staatsanwältin eine unbedingte Freiheitsstrafe ausfällen will – eine zu verbüssende Strafe, wie es heisst –, muss sie die Beschuldigte mindestens einmal anhören. Ausserdem wird die Stellung der Opfer und der Geschädigten im Strafbefehls­verfahren leicht gestärkt. Das ist zu begrüssen.

That’s it?
That’s it. Darum habe ich Mühe, von einem Upgrade zu reden – das, was neu ins Gesetz geschrieben werden soll, ist der absolute Minimal­standard. Es ist besser als vorher, aber in Jubelstürme kann ich nicht ausbrechen. Wenn Sie in einem Hotel ein Upgrade bekommen, würden Sie auch staunen, dass es darin besteht, ein Bett oder eine abschliessbare Türe vorzufinden.

Sie forschen seit vielen Jahren zum Strafbefehls­verfahren. Wurde Ihre Expertise nicht berücksichtigt?
In der Botschaft des Bundesrats wurden meine theoretischen Erwägungen aufgenommen. Unsere empirischen Erkenntnisse wollte der Gesetzgeber leider nicht abwarten. Die Einvernahme bei drohenden Freiheits­strafen fordere ich seit über zehn Jahren. Das wird nun eingeführt.

Wie sieht es mit Alternativen zum Strafbefehls­verfahren aus?
Die Schweiz hat sich für ein möglichst kostengünstiges und schnelles Verfahren entschieden, das ist an sich nicht zu beanstanden. Die Verfahren enden entweder in Einstellungen oder in Verurteilungen. Letztere meist per Strafbefehl. Es gilt also immer: Alles oder nichts. Ergeht ein Strafbefehl, haben die Betroffenen eine Verurteilung am Hals – mit allen Folgen. Ein Blick ins Ausland zeigt, dass es auch Zwischen­lösungen gibt, die nicht mit einer Verurteilung enden: allenfalls mit einer öffentlichen Missbilligung oder als «Einstellung mit Auflagen», wie es in Deutschland heisst. Letzteres bedeutet, die Behörden gehen zwar davon aus, dass eine Regel missachtet wurde, sie sind aber bereit, die Sache fallen zu lassen – wenn der Beschuldigte eine Art von Wieder­gutmachung leistet. Das kann eine Zahlung sein, gemeinnützige Arbeit oder irgendetwas. Wie die Strafe aussieht, ist in vielen Fällen gar nicht ausschlag­gebend. In den Worten von Malcom Feeley ausgedrückt: «The process is the punishment Es geht darum, dass reagiert wird, und zwar rasch und im direkten Kontakt.

Von solchen Ideen sind wir in der Schweiz wohl noch weit entfernt.
Wir sollten das seriös prüfen und uns auch intensiver mit der Restorative Justice und der Mediation beschäftigen. Also mit der Idee, Geschädigte, Beschuldigte und allenfalls Dritte zusammenzubringen, um gemeinsam nach einer Lösung zu suchen, eine Wieder­gutmachung zu erarbeiten. Ein anderer Ansatz wäre, den Delikts­katalog anzuschauen und hier einen Riegel zu schieben. Das wäre bei den Ehrverletzungs­delikten möglich, aber auch im Betäubungs­mittel- oder Ausländerrecht.

Weniger Delikte heisst weniger Arbeit für die Staatsanwälte?
Das Ausländer­strafrecht könnte man problemlos auf der administrativen Schiene abhandeln. Und nicht jedes Lästern über einen anderen muss strafrechtlich aufgearbeitet werden. Oder wenn es um den Drogenkonsum geht: Hier ist die Bestrafung reine Zeit- und Geld­verschwendung. Das Geld, das man in die Repression steckt, würde man besser für Prävention oder die Behandlung von Betroffenen ausgeben. Mit einem schlanken Strafgesetz hätten die Staatsanwälte mehr Zeit für die grossen und wichtigen Fälle. Aber da hilft ihnen der Gesetzgeber nicht, im Gegenteil.

Warum ist das so?
Bei jedem neuen Gesetz wird noch eine Straf­bestimmung angehängt. Es ist ein easy win für die Politiker, eine Strafnorm zu schaffen. Im ersten Moment tut es niemandem weh – und man kann sagen: «Hey, schaut her, wir haben etwas gemacht.» Beim Umgekehrten verspielt man politisches Kapital. Mit Entkriminalisierung gewinnt kaum jemand eine Stimme. Ich gehe davon aus, die Idee, das Betäubungsmittel­gesetz aufzuheben, ist nicht mehrheitsfähig. Aber es darf keine Denkverbote geben.

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