Binswanger

Das bürgerliche Feindbild-Defizit

Der Rechtspopulismus ist weiterhin im Aufwind. Das hat auch mit der Schwäche der rechten Traditions­parteien zu tun. Wie erklärt sich die?

Von Daniel Binswanger, 13.05.2023

Vorgelesen von Miriam Japp
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Wie gestaltet sich die Zukunft der bürgerlichen Parteien in der Schweiz? Wie werden die Trenn­linien, die Macht­teilung, die ideologische Auffächerung aussehen? Im Hinblick auf die nächsten Wahlen, aber auch viel längerfristiger?

Der Rechtspopulismus und die Krise der liberalen Demokratien stehen seit Jahren im Fokus der Debatte. Die Diskussion sollte auf diese Themen aber nicht beschränkt bleiben. Welche Dynamik die bedrohlichen politischen Entwicklungen in Zukunft entfalten werden – ob sie ihren Höhepunkt bereits erreicht haben oder ob wir im Gegenteil erst am Anfang stehen –, hängt wesentlich an der Kraft der Gegenmächte.

Diese Gegen­mächte bestehen nicht nur aus der Linken, in einem bürgerlich geprägten Land wie der Schweiz noch nicht einmal primär, sondern auch aus den bürgerlichen Traditions­parteien, die man unter Mitte-rechts verbuchen kann. Das Problem ist allerdings: Dieser Mitte-rechts-Block ist im Umbruch, und vielerorts in einer tiefen Krise.

Das zeigt nun ein beeindruckendes, sehr lesenswertes Buch des Politologen Thomas Biebricher mit dem sprechenden Titel: «Mitte/Rechts. Die internationale Krise des Konservatismus». Der Autor analysiert die politische Entwicklung der letzten Jahrzehnte anhand von drei europäischen Demokratien: Italien, Frankreich und Gross­britannien. Alle drei haben eine dramatische Umwälzung ihrer Parteien­landschaft erlebt und sind mit dem massiven Macht­zuwachs von radikalen rechten Kräften konfrontiert.

In Italien stellen die Postfaschisten mit Giorgia Meloni inzwischen die Regierungs­chefin. In Frankreich hat der Rassemblement National von Marine Le Pen die gaullistischen Républicains als führende rechte Partei verdrängt. In Grossbritannien stellen die Tories zwar noch die Regierung, aber die dramatische Krise der Partei ist offensichtlich. Sie ist zwar nicht von einer radikaleren Alternativ­macht abgelöst worden, hat sich unter Boris Johnson aber selber einer rechts­populistischen Agenda verschrieben und ist instabil und unberechenbar geworden.

Diese Krise der bürgerlichen Traditions­parteien ist ein internationales Phänomen. Der Aufstieg des Rechts­populismus muss im Zusammen­hang mit ihrem Macht­verlust gesehen werden. Wie erklärt er sich? Weshalb lässt er sich in so vielen Ländern beobachten?

Die Stärke von Biebrichers Buch besteht darin, dass er nicht mit abstrakten (quantitativen) Modellen vorgeht, um seinen Länder­vergleich zu vollziehen, sondern sehr differenziert auf den spezifischen Kontext seiner Fall­studien eingeht. Es lassen sich immer individuelle Einfluss­faktoren geltend machen:

In Italien sind es die Korruptions­skandale, die Anfang der Neunziger­jahre zum Übergang von der Ersten zur Zweiten Republik führten, die Traditions­parteien schwer beschädigten und sehr früh den Siegeszug des Rechts­populismus à la Berlusconi ermöglichten.

In Frankreich sind es die Ausnahme­figuren Marine Le Pen und Emmanuel Macron, deren quasi komplementäre politische Stärken zum beschleunigten Auseinander­driften des in der Mitte situierten und des rechten Bürgertums führten.

In England hat die alles dominierende Europa­frage in Kombination mit einem auf zwei Parteien ausgelegten Wahlsystem Boris Johnson schliesslich den Durchmarsch ermöglicht. Bei allen Unterschieden gibt es jedoch wieder­kehrende Grund­strukturen.

Biebricher erblickt den Grundzug der gemässigten bürgerlichen Parteien in ihrem Konservatismus. Sie machen Veränderungen mit – aber lieber zögerlich. Sie sind für sozialen Fortschritt zu haben – aber nur soweit es sein muss. Ihre programmatische Ausrichtung orientiert sich immer an einem (unscharfen, weitgehend imaginären) Konzept der Mitte. Gemässigter Konservatismus ist da, wo die Mitte ist. Was auch immer das heissen mag: Dieser Grundsatz ist zentral für das konservative Selbst­verständnis. Die Valorisierung der Mitte ist es auch, was den gemässigten Konservatismus der Traditions­parteien vom radikalen Konservatismus unterscheidet, der auf Disruption und Polarisierung setzt.

Der gemässigte Konservatismus gerät deshalb, so Biebricher, in den Sog einer «liberal-autoritären Komplementär­bedrohung». Er wird auf der einen Seite unter Druck gesetzt durch einen radikalen Konservatismus, der sich populistisch gibt, aber immer einen autoritären Kern hat. Und er steht auf der anderen Seite liberalen Kräften gegenüber, die aggressiv libertär oder auch progressiv wirtschafts­liberal sein können.

Das zeigte sich zum Beispiel in England, wo die Tories sich einerseits gegen die phasenweise erstarkenden Liberal Democrats zu ihrer Linken und andererseits gegen die ebenfalls erstarkende UK Independence Party (Ukip) zu ihrer Rechten absetzen mussten.

Es zeigte sich noch viel eindeutiger in Frankreich, wo die Gaullisten massiv an Bedeutung verloren haben und nach rechts gedriftet sind. Einen guten Teil ihrer Partei­kader haben sie an Macron verloren, der nun so etwas wie eine progressive Mitte besetzt. Zu ihrer Rechten werden sie konkurrenziert vom Rassemblement National, dem sie nicht mehr viel entgegen­zusetzen haben. Auch in Italien präsentiert sich ein ähnliches Bild: Die bürgerlichen Traditions­parteien werden zermürbt in einem Zweifronten­kampf.

Biebricher identifiziert zahlreiche strukturelle Transformationen, die mit dieser Entwicklung einhergehen, die sich in all seinen Fallstudien beobachten lassen. Er handelt sie unter anderem ab unter den Stichworten: Parteien, Personen, Feindbilder.

Parteien werden überall immer mehr dominiert von den Führungs­figuren. Die Zeiten der Apparatschiks sind vorbei, immer wichtiger werden charismatische Leader, die direkt mit der Basis kommunizieren. Der Mittelbau hingegen verliert zunehmend an Relevanz. Das betrifft natürlich die rechts­populistischen Parteien, aber nicht nur: Es ist eine Transformation auf breiter Front. Auch die Gaullisten unter Sarkozy funktionierten so, von Macrons La République en Marche und den Tories ganz zu schweigen.

Diese Personalisierung der Macht­strukturen hat einen Einfluss darauf, wer sich durchsetzt. Signifikant ist, wie hemdsärmelig das Führungs­personal von einstigen bürgerlichen Elite­parteien inzwischen daherkommt. Nicht nur die Parteien, auch die Personen haben einen Transformations­prozess durchlaufen. Etwas Halbseidenes, Aggressives, Vulgäres kann heutigen bürgerlichen Politikern zugute­kommen, nach Biebricher viel stärker als vor zwanzig, dreissig Jahren. Es ist ein faszinierendes Paradox: Eigentlich verbindet man mit Bürgerlichkeit doch zumindest eine Fassade, die wohlerzogen, solide und verbindlich wirken sollte.

Am entscheidendsten ist schliesslich die Veränderung der Feind­bilder. Der gemässigte Konservatismus definiert sich sehr weitgehend über seine Feindbilder, weil er primär die Mitte anstrebt, seine politische Ausrichtung weniger gesinnungs­ethisch als reaktiv ist und er deshalb Feinde braucht, von denen er sich absetzen kann. Deshalb ist das Wegbrechen der kommunistischen Bedrohung bis heute ein im Grunde ungelöstes «Problem» für den gemässigten Konservatismus – und die bizarren Migrations- und neuerdings auch Wokeness-Debatten, die wir pausenlos führen müssen, haben im heutigen Feindbild-Defizit ihren eigentlichen Kern.

«Der konservative Diskurs hat eine Vielzahl von mehr oder weniger neuen Feind­bildern erzeugt», schreibt Biebricher, «um den Wegfall der kommunistischen Bedrohung zu kompensieren. Einer der Vorzüge des Kommunismus als Widerpart lag jedoch in der Tatsache, dass man diesen aus einer gemässigten konservativen Position heraus angreifen konnte, die sich erkennbar von einer rechts­autoritären Kritik unterschied. Diese klare Unterscheidbarkeit ist bei den neuen Feind­bildern nicht mehr in gleicher Weise gegeben, zumindest ist es wesentlich schwieriger (wenn auch nicht unmöglich), sich bei der Kritik des Genderns und der Woke-Ideologie insgesamt von einer autoritären Perspektive abzusetzen.» Es ist ein interessanter Ansatz zur Erklärung, weshalb viele Debatten heute so aggressiv geführt werden und das politische Klima so massiv beschädigen, obwohl sie häufig aufgesetzt wirken.

Lassen sich Biebrichers Thesen auf die Schweiz übertragen? Wir haben eine konservative Partei, die sich inzwischen sogar Die Mitte nennt. Dass sie einer «Komplementär­bedrohung» ausgesetzt ist – einerseits von der SVP, die ihr in den Stamm­landen das Wasser abgräbt, und andererseits von der GLP, die sich als neue, progressive Mitte-Kraft zu positionieren versucht –, kann schon beinahe als Binsen­wahrheit gelten.

Noch passgenauer ist die Konservatismus­these von Biebricher jedoch für den Freisinn. Natürlich ist die liberale Agenda des Freisinns nicht unmittelbar mit Konservatismus gleichzusetzen, historisch waren diese Ideologien ja Antagonisten. Aber der Freisinn ist natürlich viel mehr als einfach nur liberal, nämlich eine bürgerliche, staats­tragende Elite­partei. Die FDP erfüllt weitgehend dieselbe Funktion für die protestantische wie die vormalige CVP für die katholische Schweiz.

Auch die FDP kann ein Lied singen von der «Komplementär­bedrohung». Sie hat sowohl an die SVP als auch an die GLP einen signifikanten Wählerinnen­anteil verloren, und sie reagiert nicht anders als die französischen Gaullisten oder die englischen Tories: Sie driftet immer weiter nach rechts. Obwohl das Verhältnis zur SVP von extremer Gehässigkeit geprägt ist, denkt die FDP nun über Listen­verbindungen mit der SVP nach für die nationalen Wahlen. Zwar attackierte FDP-Partei­präsident Thierry Burkart die SVP an der Delegierten­versammlung vom letzten Samstag aufs Allerheftigste. Aber das ändert nichts: Die Rechtsdrift ist offensichtlich unwiderstehlich.

Biebrichers Bestandes­aufnahme ist eine erhellende, aber nicht unbedingt erfreuliche Lektüre, auch nicht mit Blick auf die Zukunft der deutschen CDU/CSU, für die er im Schlussteil seines Buches Szenarien entwirft. Allerdings wird auch ein Punkt angesprochen, der den Überlegungen eine hoffnungsvolle Wendung gibt. So paradox es scheinen mag: der Krieg in der Ukraine.

Die russische Invasion hat ein neues Feindbild erzeugt, und zwar das Bild eines echten Feindes, dessen Abwehr eine wirkliche Notwendigkeit darstellt. Die politischen Effekte dieser neuen Front­stellung haben sich sofort beobachten lassen. Sie führen in der Schweiz dazu, dass die Mitte eine ganz neue Entschlossenheit an den Tag legt, auch die FDP sich aussenpolitisch wieder etwas couragierter zeigt. Vielleicht wird man sich ja sogar zu einer europa­politischen Strategie aufrappeln können. Jedenfalls führt der Russland-Ukraine-Krieg zu einer klareren Positionierung der bürgerlichen Parteien. Das wird zugunsten des gemässigten Konservatismus sein.

Illustration: Alex Solman

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