Am Gericht

Die schwarze Mütze

Eine Massen­schlägerei unter Männern in der Luzerner Altstadt am helllichten Tag führt zu einem Strafbefehl wegen Landfriedens­bruchs. Mangels Beweisen für andere Straftaten?

Von William Stern, 26.04.2023

Vorgelesen von Magdalena Neuhaus
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Der Straf­tatbestand des Landfriedens­bruchs ist mit einer langen und unrühmlichen Geschichte ausgestattet. Als historischer Weggefährte von Massen­demonstrationen hat er vom Globus­krawall 1968 über die Jugend­unruhen in den 1980er-Jahren, die Central-Krawalle 2011, zahllose 1.-Mai-Nach­demonstrationen bis hin zu den Basel-nazifrei-Protesten alle kleineren und grösseren Kundgebungen begleitet, die an irgend­einem Punkt in Gewalt umschlugen: Stets flatterten den Leuten im Nachgang Landfriedens­bruch-Vorwürfe in die Briefkästen. Oft unabhängig davon, ob sich die Beschuldigten selber an Gewalt­tätigkeiten beteiligt, sich einfach in der Menge befanden oder nur als Beobachter daneben­gestanden hatten.

Auch Journalistinnen, Fotografen oder unbeteiligte Zuschauerinnen kann es treffen. Begründet wird dies nicht zuletzt mit einer angeblichen massen­psychologischen Wirkung: Die blosse Anwesenheit kann in dieser Lesart die Dynamik der Masse negativ beeinflussen.

Im Basler Kommentar, einem Nachschlage­werk zum Strafgesetz­buch, heisst es zum Landfriedens­bruch: «Die Bestimmung wird nicht konsequent, sondern selektiv, primär gegen ‹Aktivisten› angewendet, die mit vermindertem beweis­rechtlichem Aufwand verfolgt werden können, und ist so Teil einer prozessualen Entlastungs­strategie zur Bewältigung von Massendelikten.»

Neben diesen vornehmlich politischen Einsatz­fällen kommt der Landfriedens­bruch bei einem zweiten grossen Themenfeld zur Anwendung: Ausschreitungen unter Fussball­fans, Ultras, Hooligans oder wie man die Menschen auch immer nennen mag, für die der öffentliche Raum die Erweiterung ihres Boxrings darzustellen scheint.

Ort: Bezirksgericht Luzern
Zeit: 13. April 2023, 14 Uhr
Fall-Nr.: 2Q1 22 113
Thema: Landfriedens­bruch

Der Luzerner Rathausquai liegt zwischen der welt­berühmten Kapell­brücke und dem Rathaus, Sitz der Regierung. «Sehen und gesehen werden ist hier das Motto», schreibt Schweiz Tourismus auf seiner Website. Für die 20 bis 30 Personen, die hier am 28. November 2021 Faust­schläge und Fusstritte austeilen, als befänden sie sich in einem Mixed-Martial-Arts-Werbevideo, dürfte dieses Motto nur bedingt gelten. Die Männer, ausgewaschene enge Bluejeans, schwarze Kapuzen­pullover oder Jacken, so ist es auf Handy­aufnahmen zu sehen, sind allesamt vermummt. Ihre Identität, das ist zu vermuten, würden sie lieber nicht preisgeben.

Nach gerade einmal 45 Sekunden ist der Spuk vorbei, noch bevor die Polizei eintrifft, machen sich die Männer aus dem Staub. Die eine Fraktion via Rathaus­treppe, die andere via Badergässli. Wie die Luzerner Polizei später in einer Medien­mitteilung schreibt, handelte es sich bei den Vermummten mutmasslich um Fans des FC Luzern und des FC Basel, deren Teams später an diesem Sonntag auf dem Rasen aufeinandertrafen.

Eineinhalb Jahre später steht der 29-jährige Raphael Koller vor dem Bezirks­gericht Luzern. Koller, der in Wirklichkeit anders heisst, hatte einen Strafbefehl wegen Landfriedens­bruchs angefochten. Die Staats­anwaltschaft fordert darin eine Geldstrafe von 60 Tages­sätzen zu 140 Franken – bedingt. Ein sogenannter Cold Hit hat die Ermittlungs­behörden zu Koller geführt: eine schwarze Mütze, die am Tatort gefunden wurde und deren DNA mit derjenigen Kollers übereinstimmte.

Im Gerichtssaal 2 des Bezirks­gerichts ist es an diesem Donnerstag­nachmittag eng. So eng, dass die beiden Presse­vertreter auf gleicher Höhe sitzen wie der Beschuldigte und Kollers Verteidiger, Markus Husmann. Eine ungewohnte Perspektive für die Medien­vertreterinnen. Wäre auch noch die Staats­anwaltschaft gekommen, irgend­jemand hätte wohl mit einem Platz auf dem Boden vorlieb­nehmen müssen.

Für Verteidiger Husmann stellt das Fehlen der Staats­anwaltschaft ein Problem dar: «Bei dieser Ausgangslage», sagt Husmann, «befremdet die Abwesenheit der Staats­anwaltschaft.» Es sei wissenschaftlich erwiesen, dass in solchen Fällen das Gericht – bewusst oder unbewusst – die Rolle der Anklage­behörde übernähme.

Was meint Verteidiger Husmann mit «dieser Ausgangslage»?

Fakt ist: Die Strafverfolgungs­behörden haben allem Anschein nach nicht allzu viel stichhaltiges Material.

Genau besehen haben sie fast gar nichts: bloss eine schwarze Mütze, auf der DNA-Spuren des Beschuldigten gefunden wurden. Kein Videomaterial, das verwertbar wäre, keine Zeugen­aussagen, abgesehen von der Person, die die Meldung an die Polizei gemacht hatte. Die Mütze aber, da ist sich die Staats­anwaltschaft sicher, gehört Koller. Im Strafbefehl steht: «Am Tatort am Rathausquai konnte u.a. eine schwarze Wollmütze sichergestellt werden, an welcher die DNA des Beschuldigten nachgewiesen wurde. Damit ist erstellt, dass der Beschuldigte an vorgenannter öffentlicher Zusammen­rottung teilnahm, bei der mit vereinten Kräften gegen Menschen Gewalt­tätigkeiten begangen wurden.»

Für Kollers Verteidiger ist jedoch klar: Die Mütze ist als Beweis­mittel gar nicht verwertbar. «Bis zum heutigen Tag wurde die Mütze dem Beschuldigten nie vorgelegt, nicht einmal Fotos davon. Auch wurde sie nicht rechtmässig beschlagnahmt. In den Akten gibt es keine Hinweise auf den Fundort oder den Zeitpunkt. Keine Hinweise auf Marke, Form, gar nichts.» Hätte es sich um eine zur Vermummung geeignete Mütze gehandelt, ist Husmann überzeugt, wäre die Mütze seinem Mandanten vorgelegt worden.

Ein DNA-Hit ermögliche aber für sich alleine keine örtliche und zeitliche Rekonstruktion, so der Verteidiger weiter.

Koller hört sich diese Ausführungen mit unbewegter Miene an. Unterhielt er sich vor der Verhandlung in der Lobby des Bezirks­gerichts noch angeregt mit seinem Verteidiger, sitzt er nun mit zusammen­gefalteten Händen und konzentriertem Blick im Gerichts­saal. Mit den schwarzen On-Schuhen, dem millimeter­kurzen Kopfhaar, dem schwarzen Rollkragen­pullover und der Sport­tasche neben sich könnte er auch ein Jus-Student in einer Strafrechts­vorlesung sein.

Mehrere Verfahren

Koller ist nicht der Einzige, der sich für die Schlägerei vom 28. November 2021 verantworten muss. Ende März standen zwei Männer ebenfalls vor dem Luzerner Bezirks­gericht, wie das Online­portal «Zentralplus» berichtet. Die beiden, heute 22- und 28-jährig, waren rund eine halbe Stunde nach der Schlägerei am Rathaus­quai von der Polizei kontrolliert worden. Gemäss Strafbefehl hatten Beamte beim 28-Jährigen einen Zahnschutz sicher­gestellt, wie er etwa beim Boxen oder beim Eishockey getragen wird. Beim Jüngeren hatten sie eine Sturmhaube gefunden, mit Blut­spuren auf Mundhöhe.

Und zwei Tage vor Kollers Verhandlung musste ein weiterer junger Mann vor Gericht antraben: Der 26-Jährige war ins Visier der Strafverfolgungs­behörden geraten, weil seine DNA auf einer Hygiene­maske festgestellt wurde, die am Tatort gefunden wurde.

Ihnen allen wirft die Staats­anwaltschaft Landfriedens­bruch vor. Dass diese Verfahren getrennt geführt wurden, kritisiert Verteidiger Husmann. Aus seiner Sicht verletze dies den Anklagegrundsatz. Trotzdem scheinen die Beschuldigten und ihre Verteidiger eine ähnliche Strategie verfolgt zu haben. Sowohl der 22-Jährige als auch der 28-Jährige machten vor Gericht – wie jetzt Koller – vom Aussage­verweigerungs­recht Gebrauch.

Knackpunkt «öffentliche Zusammen­rottung»

Der Landfriedens­bruch ist eine Anomalie im Schweizer Strafrecht. Geschaffen, um den öffentlichen Frieden – ein diffuses Rechtsgut – zu schützen, ist er faktischer Auffang­tatbestand, wenn die Beweislage dünn ist.

Bestraft wird, «wer an einer öffentlichen Zusammen­rottung teilnimmt, bei der mit vereinten Kräften gegen Menschen oder Sachen Gewalt­tätigkeiten begangen werden (...)», wie es im Strafgesetz­buch heisst. Zur Anwendung kommt der Landfriedens­bruch etwa, wenn aus einer Menge heraus Sach­beschädigungen (Sprayereien, eingeschlagene Scheiben) oder Gewalt gegen Menschen (etwa Flaschen- oder Petarden­würfe) begangen werden, die Strafverfolgungs­behörden aber Schwierigkeiten haben, die Urheber zu identifizieren. Beim Landfriedens­bruch muss die einzelne Person keine Gewalt­tätigkeit verübt haben; sie muss sie gemäss neuerer Recht­sprechung nicht einmal gutheissen. Es reicht, dass sie sich im Zeitpunkt der Gewalt­verübung in der Menge (einer «Zusammen­rottung») befunden hat. Dafür drohen im Maximalfall drei Jahre Gefängnis.

Die schwammige Formulierung hat dem Landfriedens­bruch einige unschöne Beinamen verliehen, Gummiparagraf ist noch einer der harmloseren. Für Wolfgang Wohlers, Strafrechts­professor an der Universität Basel, zeigt die Praxis, dass der Tatbestand «sehr schlankweg» angewendet wird. Ja, mehr noch: «Der Landfriedens­bruch wird in meinen Augen missbraucht», sagt Wohlers. «Man sagt sich, wenn wir schon nicht nachweisen können, wer nun die konkreten Verletzungen oder Sach­beschädigungen verursacht hat, dann können wir die Leute wenigstens wegen Landfriedens­bruchs verurteilen. Letztlich handelt es sich aber um ein Beweisproblem.»

Landfriedens­bruch oder Raufhandel?

Knackpunkt in vielen Landfriedens­bruch-Fällen ist der Begriff der «öffentlichen Zusammen­rottung». Verteidiger Husmann weist vor dem Bezirks­gericht Luzern darauf hin, dass es im Fall der Rathausquai-Schlägerei an einer solchen öffentlichen Zusammen­rottung gefehlt habe: «Öffentlich ist es nur dann, wenn sich eine unbestimmte Anzahl an Personen anschliessen könnte. Dazu äussert sich die Anklage aber nicht.»

Auch sei denkbar, dass sich beide Fanlager vor der Schlägerei friedlich verhalten hätten, es also an der «friedens­störenden Grund­stimmung» gefehlt habe. Und schliesslich, so Husmann, sei auch der subjektive Tatbestand im Strafbefehl «in keiner Weise» umschrieben. Möglicherweise habe sich sein Mandant vor dem Ausbruch der Gewalt­tätigkeiten entfernt und dabei die Mütze auf dem Rathaus­quai zurückgelassen.

Wer rechtzeitig die Menge verlässt, bleibt straffrei.

Auch sonst lässt Husmann kein gutes Haar an der Arbeit der Staats­anwaltschaft: Bereits formell genüge der Strafbefehl dem Bundes­recht nicht. «Tatbestand sei zwar Landfriedens­bruch, in der Anklage wird aber nicht ein solcher beschrieben, sondern der Raufhandel.»

Keine Beweise

Schaut man sich die Videos der Rathausquai-Schlägerei an, sieht man, wie einer der Männer nach einigen Treffern benommen auf dem Strassen­pflaster liegen bleibt. Erst gegen Ende der Aufnahme scheint es ihm zu gelingen, sich wieder aufzurappeln. Und ganz offensichtlich konnte er sich rechtzeitig vor der bald darauf eintreffenden Polizei vom Tatort entfernen.

In den Strafbefehlen, die alle ähnlich lauten, heisst es dazu an einer Stelle: «Verletzungen, welche der Schlägerei zugeordnet werden könnten, sind weder der Polizei noch dem Rettungs­dienst gemeldet worden.» Aus diesem Grund ist auch kein anderer Straftat­bestand denkbar: Für Raufhandel, die nahe­liegendste Alternative, fehlt es eben gerade an der objektiven Strafbarkeits­bedingung: einer Verletzung.

Zwei der insgesamt vier Fälle am Bezirks­gericht wurden bereits entschieden. Richter Roland Huber, der auch im Fall von Koller die Verhandlung führt, hat den 22-Jährigen und den 28-Jährigen freigesprochen. Es wäre keine grosse Überraschung, wenn Richter Huber in den zwei weiteren Fällen gleich entscheiden würde.

Es ist einigermassen erstaunlich: Da wird ein Straf­tatbestand herangezogen, der es den Strafverfolgungs­behörden erleichtern soll, Beteiligte zu identifizieren, und dann wischt der Einzel­richter all diese Fälle vom Tisch mit der Begründung: «Den Beschuldigten kann nicht in rechts­genüglicher Weise nachgewiesen werden, an der Schlägerei am Rathausquai 6 in Luzern teilgenommen zu haben.» Oder anders gesagt: Es fehlt an Beweisen.

Das mussten Staats- und Jugend­anwaltschaft bereits im Vorfeld
feststellen. Von insgesamt 17 eröffneten Verfahren wurden 13 wieder
eingestellt. «Die Identifikation», schreibt der Medien­sprecher der
Staats­anwaltschaft, «war kaum möglich.»

Nun kann man sich fragen, warum die Strafverfolgungs­behörden überhaupt aktiv werden, wenn sich eine Gruppe von jungen Männern in engen Beinkleidern und mit Strümpfen vor der Nase zur – mutmasslich verabredeten – Schlägerei trifft. Sachbeschädigungen gab es keine, Verletzungen sind, wie erwähnt, auch keine bekannt. Werfen wir nochmals einen Blick in den Basler Kommentar: Der Landfriedens­bruch-Artikel scheine eine Art «Prototyp der Delikte gegen den öffentlichen Frieden» zu sein. «Das Sicherheits­gefühl des Bürgers wird durch Gewalt­tätigkeiten begehende öffentliche Zusammen­rottungen in besonderem Masse tangiert.»

In der Hooligan-Reportage des Republik-Autors Daniel Ryser «Feld-Wald-Wiese» wird eine Szene von männlichen Gewalt­fanatikern beschrieben, die sich fernab der Öffentlichkeit – in Industrie­gebieten, an Autobahn­raststätten, auf Wald­stücken – trifft, um sich möglichst ungestört gegenseitig die Nase platthauen zu können.

Der Autor stellt die Frage: «Kann man Leute, die sich gegenseitig prügeln wollen, davon abhalten?»

Im vorliegenden Fall ist die Sache etwas anders gelagert. Tatort ist nicht ein abgelegenes Waldstück, sondern eine Flanier­meile mitten in der Tourismus­hochburg der Schweiz. Es geht wohl nicht zuletzt darum, nicht den Eindruck zu erwecken, dass in den Innen­städten dieses Landes ungestraft und nach Lust und Laune gekeilt werden könnte. Und wer weiss: Vielleicht ging es ja auch den Prüglern trotz Vermummung ums Sehen und Gesehenwerden …

Das Urteil im Fall Raphael Koller war bis Redaktions­schluss noch nicht
bekannt.

Illustration: Till Lauer

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