Strassberg

Apokatastasis

Wer kann jetzt die UBS/CS retten? Natürlich nur eine Erlöser­figur. Diese Erwartung vermittelt uns die Religions­geschichte. Doch auch der Kapitalismus lebt von unserem unerschütterlichen Glauben an die heile Welt.

Von Daniel Strassberg, 25.04.2023

Vorgelesen von Regula Imboden
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Apokatastasis. Sogleich verliebte ich mich in den Klang des Wortes, lange bevor ich wusste, was es bedeutet. Ich wiederholte es unzählige Male, liess es wieder und wieder über die Zunge rollen, manchmal laut, manchmal leise, und erfreute mich an seinem Klang, der an einen Flamenco erinnert.

Ich ahnte, dass es mit Theologie zu tun hat: Apostel, Apokalypse, Apotheose.

Wikipedia half, tatsächlich ist «Apokatastasis (…) eine theologische Lehre von der Wieder­herstellung aller Dinge am Ende der Zeiten.» Nun fesselte mich nicht nur der Klang, sondern auch die Bedeutung des Wortes.

Ist die Apokatastasis, das Wieder­herstellen früherer Zustände, nicht das geheime Programm aller Politik geworden? In der Politik wird nichts Neues gewagt, scheint mir, werden keine Ideen für die Zukunft entwickelt, geschweige denn umgesetzt. Immer geht es ihr darum, einen früheren Zustand wieder­herzustellen. Einen allerdings, den es nie gegeben hat.

Nichts symbolisiert diese Tendenz – und ihre Absurdität – besser als die Wahl Sergio Ermottis zum CEO der neuen UBS. Die Botschaft ist klar: Wir wollen zurück zu der Zeit, als alles noch gut war. Dass Ermotti selbst ein Apostel der Deregulierung war und durch sein Lobbying für die Selbst­regulation das Desaster mitzuverant­worten hat, ist vergessen.

Unter dem Titel «Kapitalismus als Religion» verfasste Walter Benjamin im Jahr 1921 eine rätselhafte Notiz, die so beginnt:

Im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken, d.h. der Kapitalismus dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben.

Aus: Walter Benjamin, «Gesammelte Schriften», Bd. VI., S. 100–102.

Der Kapitalismus habe zwar keine Theologie, fährt Benjamin fort, aber einen Kultus, ein Set von Ritualen, die im Unter­schied zu anderen Kulten nicht auf bestimmte Festtage beschränkt sind, sondern an jedem Tag des Jahres vollzogen werden. Wie die Religion eine Institution zur Verwaltung von Schuld, ist der Kapitalismus die Ideologie zur Verwaltung von Schulden: Nur Verschuldung garantiert Wachstum.

Schon Friedrich Nietzsche erkannte den Zusammen­hang zwischen moralischer Schuld und finanziellen Schulden:

Haben sich diese bisherigen Genealogen der Moral auch nur von Ferne Etwas davon träumen lassen, dass zum Beispiel jener moralische Hauptbegriff «Schuld» seine Herkunft aus dem sehr materiellen Begriff «Schulden» genommen hat?

Aus: Friedrich Nietzsche, «Zur Genealogie der Moral», KSA 5, II.4

Schulden müssen zurück­bezahlt werden, so wie die Schuld am Tag des Jüngsten Gerichts gesühnt werden muss, das ist der gemeinsame moralische Grundsatz von Kapitalismus und Christentum. Der unbedingte Glaube daran, dass die Allmächtigen – Gott und Markt – am Ende der Tage die Konten saldieren, hält sowohl die Religion als auch den Kapitalismus am Leben. Allerdings, und das ist das Paradox von Religion und Kapitalismus, dürfen in dieser Welt die Schulden niemals vollständig abgegolten werden, sonst droht der Kollaps.

Die Analogie von Kirche und Kapital entspringt nicht der überbordenden Einbildungs­kraft des geistig umnachteten Friedrich Nietzsche, sie ist historisch verbürgt: Im Mittelalter bestimmten die Gelehrten der Kirche im Namen des Allmächtigen den wahren Wert einer Sache und damit ihren gerechten Preis. Als Gott sich im 18. Jahrhundert aus dem Geschäft zurückzog, übernahm seine Nachfolgerin, die unsichtbare Hand des Marktes, seine Aufgaben.

Credo quia absurdum, lautet die klassische, dem Kirchen­vater Tertullian zugeschriebene Formel: Ich glaube, weil es absurd ist – nicht obwohl. Genau dazu braucht es einen Kult, denn ohne Rituale lässt sich weder der Glaube an die Jungfern­geburt noch der Glaube an die Selbst­regulation des Marktes aufrecht­erhalten.

Die Fronleichnams­prozession, eine der prunk­vollsten und spektakulärsten Veranstaltungen der katholischen Kirche, wurde im Jahre 1247 zum ersten Mal durchgeführt, nachdem das Vierte Lateran­konzil im Jahre 1215 beschlossen hatte, dass der Wein der Eucharistie­feier das reale Blut Christi und die Hostie sein wirklicher Leib sei. Das spektakuläre Ritual brauchte es, damit das Volk den Hokus­pokus (eine etymologische Ableitung: Hoc est corpus meum, «Dies ist mein Körper») glaubte. Dasselbe gilt für den Kapitalismus: Er braucht Rituale, damit das Volk weiterhin an die Allmacht des Marktes glaubt.

Tatsächlich funktioniert der Markt gar nicht schlecht, solange die Menschen an ihn glauben. Doch so sicher wie das Amen in Kirche verlieren sie regelmässig das Vertrauen in den Markt – exakt 320 Male seit dem Jahr 1800 (Carmen M. Reinhart und Kenneth S. Rogoff, «Dieses Mal ist alles anders. Acht Jahrhunderte Finanzkrisen»). Sie verlangen ihr Geld zurück, sie wollen, dass die angehäuften Schulden getilgt werden – und schon haben wir es mit einer ausgewachsenen Finanzkrise zu tun. Aber anders als die christlichen und jüdischen Feiertage, die das Tilgen der Schuld an feste Daten binden, kennt niemand das genaue Datum der Zerstörung von Kapital. Man weiss nur, dass der Tag kommen wird. Auch bei der UBS.

Finanzkrisen sind keine Entgleisungen des Kapitalismus, sondern seine Frisch­zellenkur. Wäre zur Zeit Jesu Christi ein Dinar zu 2 Prozent angelegt worden, hätte dieser Dinar heute mehr Wert als alles auf der Welt existierende Geld zusammen – ohne Finanz­krisen wohlgemerkt. Jedenfalls wäre es viel mehr Geld, als es Güter gibt, die man dafür kaufen könnte. Der Markt muss also von Zeit zu Zeit Kapital vernichten, damit das Geld seinen Wert behält.

Gleichzeitig muss nach einer Krise das Vertrauen in den Markt wieder hergestellt werden, die Menschen müssen wieder an den Mythos von der Selbst­regulation des Marktes glauben, und dazu braucht es Rituale.

Der holländische Indologe und Philosoph Frits Staal (1930–2012) war Spezialist für das 3000 Jahre alte vedische Agnicayana-Ritual, weltweit das älteste bis heute noch vollzogene Ritual. In einem Aufsatz darüber stellt er sich auf den Stand­punkt, dass Rituale keine Bedeutung haben. Sie verweisen auf keine verborgene Symbolik, sie vermitteln keine Botschaft, sie ahmen keine natürlichen Vorgänge wie den Wechsel der Jahres­zeiten nach, und sie bannen keine bösen Kräfte. Die einzige Bedeutung des Rituals sei seine Durch­führung, schreibt Staal, so wie die einzige Bedeutung einer Partitur ihre Aufführung im Konzert ist.

An diesem Punkt bleibt Staal freilich stehen, er fragt nicht weiter, weshalb sich trotzdem in allen Kulturen Rituale finden. Rituale sind für die Gesellschaft, so meine Hypothese, was die Gips­schiene für den Armbruch ist: Sie sollen nach einem Bruch den früheren Zustand wiederherstellen – und damit garantieren, dass die bestehenden Verhältnisse unangetastet bleiben.

Die Apokatastasis ist also der eigentliche Sinn des Rituals. Dabei kommt ihr die menschliche Neigung entgegen, die Geschichte linear zu verstehen. Es ist für die Einbildungs­kraft eine grosse, allzu grosse Heraus­forderung, sich die Zukunft nicht als lineare Fortsetzung der Gegenwart vorzustellen. Oder andersrum: Phasen­übergänge – der Übergang in einen vollkommen anderen und unvorherseh­baren Zustand – überfordern unsere Fantasie, obwohl sie uns sowohl politisch wie persönlich beinahe täglich vor Augen geführt werden.

Rituale stellen nach dem Einbruch eines Ereignisses die lineare beziehungs­weise zirkuläre Geschichte wieder her. Oder anders gesagt: Riten sind meist rites de passage, sie finden sich an gesellschaftlichen und persönlichen Übergängen und haben den Zweck, Kontinuität (wieder-)herzustellen. Initiations­riten beispiels­weise fangen den Bruch, den Pubertät im Leben des Jugendlichen und im Leben der Gemeinschaft bedeutet, auf und verbinden das Leben des Kindes mit dem Leben des Erwachsenen. Der Beschneidungs­ritus der Juden bearbeitet die Erschütterung, die die Geburt eines Neugeborenen darstellt.

Der Zusammen­bruch der Credit Suisse erlaubt uns nun, die Rolle politischer Rituale in unserer Gesellschaft genau zu beobachten. Folgender vierteiliger Ritus wird nach jeder Krise zelebriert, jetzt nach dem Zusammen­bruch der CS, aber auch nach der Banken­krise von 2008.

Schritt 1: Die Weisen von der Falkenstrasse erfinden einen Ursprungs­mythos, der immer und immer wieder erzählt wird: Früher war die CS eine grundsolide Bank, die im Dienste des Volkes stand. Voraus­schauende Männer wie Alfred Escher haben sie im Namen der Wohlfahrt und des Fortschritts gegründet. Doch dann lieferten gierige Banker die Bank fremden Vögten aus dem fernen Arabien aus.

Schritt 2: Obwohl die Fakten längst allen bekannt sind, wird nun eine Unter­suchung eingeleitet. Diese entspricht der Gewissens­erforschung bei religiösen Sühne­ritualen: Ohne vollständige Offenlegung der Sünden kann die Schuld nicht getilgt werden.

Schritt 3: Danach werden Massnahmen gefordert und manchmal sogar eingeleitet: Mehr Kontrolle, mehr Eigenkapital, weniger Boni, Trennung von Investment­banking und Vermögens­verwaltung, lautet das Mantra. Niemand scheint sich daran zu stören, dass sie entweder nicht umgesetzt werden oder nichts nützen. Die wenigen Massnahmen, die überhaupt umgesetzt werden, werden einige Monate später, nachdem sich die Aufregung gelegt hat, unter der Führung der FDP wieder kassiert.

Schritt 4: Ein Sühneopfer wird dargebracht. In regel­mässigen Abständen, auch unabhängig von konkreten Krisen, opfert das Kapital einen seiner Besten, um das Vertrauen wieder­herzustellen: Das System ist in Ordnung, so die Botschaft, wenn die gierigen schwarzen Schafe ausgemerzt werden. Lukas Mühlemann, Marcel Ospel, Daniel Vasella, Pierin Vincenz waren die letzten, die auf dem Altar des Volks­zorns geopfert wurden. Ich tippe, dass jetzt Urs Rohner an der Reihe ist.

Die beschriebenen Rituale eignen sich wie gesagt keineswegs nur für Banken­krisen. Jede gesellschaftliche Unwucht kann nach diesem Muster bewältigt werden, ohne dass sich wirklich etwas verändern muss. Ob nun giftige Abfälle in einen Fluss geleitet werden oder Femizide die Öffentlichkeit kurz erschüttern, immer lassen sich dieselben Abläufe beobachten:

  1. Erzählung, wie es früher gewesen war.

  2. Untersuchung des Offensichtlichen.

  3. Sinnfreie Massnahmen, zum Beispiel die Forderung nach einem neuen Schulfach oder nach freiwilligen Ethikkursen.

  4. Darbringung eines Opfers: Ein Schuldiger wird hart bestraft und ein Verantwortlicher entlassen.

Real ändert sich dadurch nichts – es ist ja der Sinn der Rituale, dass sich nichts ändert –, es wird lediglich das Vertrauen in den mythologischen Urzustand wieder­hergestellt. Das Ritual der Apokatastasis verspricht, dass es wieder so werden wird wie damals, als die Jungs noch anständig, die Flüsse noch sauber und die Banker noch seriös waren. Dann glauben alle wieder daran, dass das Banken­system im Grunde gesund ist und der Markt sich selbst regulieren kann.

Der Zyklus kann von neuem beginnen.

Illustration: Alex Solman

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