Wut ist weiblich

Porträt eines komplizierten Gefühls.

Von Anna Dreussi (Text) und Johanna Hullár (Bilder), 24.04.2023

Vorgelesen von Jonas Rüegg Caputo
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Ich will mir die Lippen aufspritzen lassen und allen davon erzählen. Ich will abtreiben und stolz darauf sein. Ich will Angst machen. Ich will stinken. Ich will keine Brüste haben. Ich will nicht bemuttern. Ich will mich nie darüber wundern, warum ich keinen Kinder­wunsch habe. Ich will masturbieren, ohne mich zu schämen. Ich will hässlich sein. Ich will Wut. Ich will so unglaublich wütend sein.

Ich nehme sie mir oft vor. Die Wut. So wie man sich vornimmt, früh aufzustehen oder Vitamin-C-Brause­tabletten morgens in ein Glas Wasser zu mischen.

In der Schweiz hat mindestens jede fünfte Frau einen sexuellen Übergriff erlebt.

In diesem Sommer kam die Wut nicht. Wenn ich mit Freundinnen und Freunden darüber spreche, nenne ich das Geschehene immer «dieser Sommer». Das ist einfacher. Ich steckte ganz fremd in meiner Haut. Und trotz der Zahlen fühlte ich mich alleine. Stattdessen kam die Scham.

Scham ist ein einsames Gefühl. Nachmittage sind zäh, wenn man sich schämt. Der Berliner Sommer ging nur schleppend voran. Also schämte ich mich bei trägen 19 Grad, der Himmel war bewölkt. Irgendwann war der Sommer vorbei und ich begab mich auf die Suche nach der Wut.

Männer sind wütend, Frauen sind glücklich

Meine Wut kommt nicht von alleine. Ich muss mir sie immer von Neuem erlauben. Eine Studie von 2007 findet heraus, dass Wut auf männlichen Gesichtern schneller als Wut erkannt wird. Eine andere Studie von 2009 belegt, dass wütende, androgyne Gesichter eher als Männer erkannt werden. Diese Studie stammt von Ursula Hess, die als Psychologie­professorin an der Humboldt-Universität in Berlin zu Emotionen forscht. In ihrem Text «Anger is a Positive Emotion», der 2014 erschienen ist, geht sie auf die positiven Seiten von Wut ein. Sie sammelt Ergebnisse aus verschiedenen Studien: Wut setzt Energie frei und bündelt Aufmerksamkeit, um Unrecht aufzulösen. Und wütende Menschen sind energie­geladener, aktiver. Für das Gegenüber spielt es aber eine Rolle, wer die Wut ausdrückt. Wütende Frauen werden weniger gemocht und ihnen wird weniger Vertrauen entgegen­gebracht. Frauen wird eher vertraut, wenn sie einen glücklichen Gesichts­ausdruck haben.

Wir haben uns an männliche Wut gewöhnt. Frauen werden für ihre Wut bestraft. Das geschieht jedoch nicht bei jeder Frau in demselben Ausmass. Manche Frauen dürfen wütender sein als andere. Das rassistische Stereotyp der Angry Black Women wird als Waffe gegen schwarze Frauen eingesetzt, die Ungleichheiten anprangern, um sie zum Schweigen zu bringen. Wut auf dem Gesicht einer schwarzen Frau wird instrumentalisiert, um sie zu diskreditieren. Wut schürt Angst aufseiten der Unterdrücker. Denn sie verändert.

Wut als Katalysator für Veränderungen ist ein Gedanke, den auch die US-amerikanische Schriftstellerin und Aktivistin Audre Lorde 1981 in einer Rede aufgreift, die später als Essay mit dem Titel «The Uses of Anger» veröffentlicht wurde, vom Nutzen der Wut. Ihre Reaktion auf Rassismus ist Wut. In der Wut sieht sie eine Möglichkeit für Frauen, gegen Rassismus und andere Formen der Diskriminierung vorzugehen. Sie beschreibt es so: «Every woman has a well-stocked arsenal of anger potentially useful against those oppressions, personal and institutional, which brought that anger into being.» – Jede Frau habe ein reiches Arsenal an Wut, mit dem sie gegen jene Unter­drückung vorgehen könne, die die Wut überhaupt erst hervorgerufen habe.

Die SP-Politikerin Jacqueline Badran kontert in der Arena Bundesräte mit «Gahts no?». Französische Frauen protestieren dagegen, dass Präsident Macron das Renten­alter erhöht. Im Iran verbrennen Frauen ihre Kopf­tücher. Weibliche Wut ist überall.

Wut ist das Gegenteil von Scham

Was bedeutet es, einen weiblichen Körper zu haben? Die Wut findet keinen Platz hier zwischen meiner sanften Stimme und meinen geröteten Wangen und meinen zarten Glied­massen und meinem Wimpern­aufschlag wie aus einer Parfüm­werbung. Ich bin eine Frau. Wir werden vergewaltigt und begrabscht und getötet und geschlagen und klein­gehalten. Und am schlimmsten: Uns wird die Möglichkeit genommen, mit Wut darauf zu reagieren. Was uns bleibt, ist das Schämen.

Scham zieht sich durch ein ganzes Leben. Ich schäme mich für die Haare um meine Nippel und die Stoppeln neben meiner Unterhose, und dafür, dass ich nichts sage, wenn vermeintlich linke Männer nur Frauen respektieren, die sie hot finden, ich schäme mich fürs Zu-laut-Sein und fürs Schweigen. Ich schäme mich dafür, dass es wehtut auszusprechen, was mir passiert ist.

In dem Sommer sass ich oft in einer kleinen Bar im Berliner Ortsteil Neukölln. Und blieb so lange, bis meine Freunde gingen, bis mich niemand mehr kannte. Das mochte ich. Ich hatte manchmal das Gefühl, mich selbst auch nicht mehr zu kennen.

Dort empfahl mir eine Frau «King Kong Theorie» von Virginie Despentes, Autorin, Regisseurin, Feministin, Ex-Sexarbeiterin. Sie schreibt darin in ihrem Essay «Impossible de violer cette femme pleine de vice» über ihre Vergewaltigung: «Ich bin wütend auf eine Gesellschaft, die mich erzogen hat, ohne mir je beizubringen, einen Mann zu verletzen, der mir mit Gewalt die Beine spreizt, während die gleiche Gesellschaft mir eingetrichtert hat, dass das ein Verbrechen sei, von dem ich mich nicht mehr erholen dürfe.»

Nur ein reiner, unbefleckter Körper ist ein wertvoller Körper. Ein vergewaltigter Körper ist ein kaputter Körper. Dieser Wunsch nach Reinheit ist eine Diskriminerungs­strategie gegen die Körper, die sexualisierte Gewalt erfahren. Denn wer sich selbst verteidigt, wehrt sich gegen ein unter­drückendes System, das darauf basiert, unsere Körper zu kontrollieren. Wut ist nicht für uns.

Die Teilnehmerinnen der erwähnten Studie sehen in weiblichen Gesichtern eher Glück, Überraschung, Trauer, Angst.

Den ganzen Tag lang freue ich mich darüber, dass mich Männer hot finden, und ich bin überrascht, dass Männer so schöne Muskeln haben, und ich bin so traurig, wenn mich Männer ghosten, und ich habe Angst vor Falten und Cellulite und Dehnungs­streifen. Und davor, alleine zu sterben, ohne Mann und ohne Kinder. Nur mit Falten und zwei ausgelaufenen Brust­implantaten aus Silikon. Ich war noch nie wütend und werde es niemals sein.

Ich denke immer noch darüber nach, wie es wäre, darüber auszusagen. Ich stelle mir vor, wie ich im Gerichts­saal stehe. Alles ist aus diesem Holz, aus dem Stühle in Warte­zimmern von städtischen Ämtern sind. Holz, aus dem alle Regale im Brocken­haus gemacht sind. Holz, auf dem ich nicht sitzen will. Dort tragen alle Frauen diese langweiligen, schwarzen Schuhe mit kleinem Absatz und mittellange Bleistift­röcke. Und alle Männer tragen ihre Stirn in Runzeln. Ich habe keine Ahnung, wie ein Gerichts­saal aussieht. Ich kenne sie nur aus US-amerikanischen Serien. Ich frage mich, was ich anziehen würde.

Eine Anwältin riet mir, nicht anzuzeigen. Aber mit Freundinnen spreche ich darüber. Wir erzählen uns die Geschichten gegenseitig. Das ist sie, die Wut. Wir hören nicht auf, darüber zu sprechen. Wut ist das Gegenteil von Scham.

Ein immer brennendes Feuer

Ich muss an meine Kindheit denken. Ich konnte früher sein wie ein Vulkan. Ich war ein wütendes Kind. Mein Vater nannte mich manchmal Stromboli. So heisst der Vulkan, der auf einer gleichnamigen Insel nördlich von Sizilien liegt. Er ist durchgehend aktiv. Er spuckt Lava und Asche, löst lokale Explosionen aus, lässt Lava über die Sciara del Fuoco ins Meer fliessen.

Ich will auch glühen. Alle sollen sich an mir verbrennen. Meine Haut soll so heiss sein. Mein Blick soll so beissend sein. Er treibt anderen die Tränen in die vor Ehrfurcht aufgerissenen Augen. Und ich soll wärmen. Ich soll erleuchten. Ich will immer brennen.

Audre Lorde sagt in ihrer Rede: «I have suckled the wolf’s lip of anger» – sie habe den Zorn von Wolfes Lippe gesaugt. «And I have used it for illumination, laughter, protection, fire in places where there was no light, no food, no sisters, no quarter.» Wut spendet Trost und schafft Handlungs­fähigkeit in hoffnungs­losen Situationen.

Ich habe alles aufgeschrieben, was passiert ist. Ich habe diesen Sommer seither dutzendfach durchgelesen. Jedes Mal durchfährt mich der Schock, dass mir das passiert ist. Mittlerweile durchfährt mich dann die Wut.

Wütend sein bedeutet auch, mich nicht mehr ständig infrage zu stellen. Wütend sein bedeutet, sich selbst zu vertrauen. Wut beendet das selbstlose Tragen der Schuld anderer.

Als ich Despentes’ Essay las, unterstrich ich diesen Satz: «Doch in dem Moment fühlte ich mich als Frau, widerwärtig als Frau, wie ich mich nie gefühlt hatte, wie ich mich nie mehr gefühlt habe.» Ich fühlte mich nie mehr als Frau, als in den Momenten, in denen Männer sich über mich hinweg­setzten. Eine echte Frau lässt sich ganz klein zusammen­falten. Eine echte Frau lässt sich dominieren. Eine echte Frau ist selbst schuld. Frausein bedeutet für mich oft, fremd­bestimmt zu sein. Wut zu spüren und Wut zu kommunizieren, ist Selbst­bestimmung. Ich möchte wütend sein, um umzudeuten, was es bedeutet, einen weiblich gelesenen Körper zu haben, um Wut umzudeuten, um Männern die Hoheit über eine Emotion zu nehmen.

Diese Wut, die Veränderung vorantreiben soll, soll nicht darauf abzielen, Rache zu üben. Die Schrift­stellerin Hélène Cixous deutete den Charakter der Medusa mit ihrem 1975 erschienenen Essay «Das Lachen der Medusa» um. Medusa gilt als Verkörperung der weiblichen Wut. In der griechischen Mythologie wird sie als hässlich und gefährlich dargestellt. Gegen diese Lesart wehrt sich Cixous: «Es reicht, Medusa ins Gesicht zu schauen, um sie zu sehen: und sie ist nicht tödlich. Sie ist schön und sie lacht.» Weibliche Handlungs­macht soll von Männern nicht als Bedrohung gesehen werden, sondern als etwas Gutes.

Die Wut kommt jetzt leichter. Manche Nachmittage sind immer noch zäh. Aber manchmal sind sie sanft. Manch ein Nachmittag öffnet sich vor mir. Als wäre er mir einfach so vor die Füsse gerollt, als wäre ich zufälliger­weise auf diesen Nachmittag gestossen. Ich schaue auf den Arm des Typs neben mir und auf die Sommer­sprossen auf seinem Arm. Und ich denke an den Sommer und an das Verliebtsein.

Manche Nachmittage sind sanft. Und die Wut kommt leicht. Zum Glück.

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